Britische und europäische Flagge
APA/AP/Olivier Hoslet
„Süße Trauer“

Brexit-Kapitel geht nach Einigung zu Ende

Die Europäische Union und Großbritannien haben sich zu Weihnachten selbst ein Geschenk gemacht und eine Einigung erreicht. Donnerstagnachmittag kam eine Einigung über die künftigen Beziehungen nach dem Brexit zustande. Nun müssen einmal mehr die Parlamente zustimmen.

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen sagte am Donnerstag nach Bekanntgabe der Einigung: „Es war ein langer und steiniger Weg.“ Aber das Ergebnis sei gut, fair und ausgewogen. Sie zeigte sich erleichtert und sagte in Anlehnung an William Shakespeare: „Unseren Freunden in Großbritannien möchte ich sagen: ‚Abschied ist so süße Trauer.‘“

Das Abkommen garantiere faire Wettbewerbsbedingungen für Unternehmen auf beiden Seiten und sehe auch Zusammenarbeit in Bereichen wie Klimapolitik, Energie und Verkehr vor, so von der Leyen. Der britische Premier Boris Johnson sagte, man habe mit dem Abkommen „die Kontrolle über unser Schicksal“ zurückerlangt. „Wir werden unsere eigenen Standards setzen.“

Die nächsten Schritte

Der Handelspakt kam nach monatelangem Ringen eine Woche vor dem Ende der Übergangsfrist zustande. Ein harter wirtschaftlicher Bruch bleibt somit der EU und Großbritannien erspart. Allerdings sind die letzten Meter noch zu gehen. In Großbritannien muss das Parlament zustimmen, das dazu aus den Winterferien zurückgerufen werden soll. Auf der EU-Seite müssen zumindest die Regierungen aller 27 Mitgliedsstaaten das Verhandlungsergebnis billigen. Dazu wurde für Freitag eine außerordentliche Sitzung der EU-Botschafter einberufen. EU-Chefunterhändler Michel Barnier wird dabei die Vertreterinnen und Vertreter der Mitgliedsstaaten über das Verhandlungsergebnis unterrichten.

Einschätzungen zur Einigung

Die ORF-Korrespondentinnen Veronika Fillitz (Brüssel) und Eva Pöcksteiner (London) kommentieren das Ergebnis der Verhandlungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich.

Die Weihnachtspause dürfte für viele Handels- und Rechtsexperten in den Hauptstädten der EU-Mitgliedsländer ausfallen. Sie müssen nun in Windeseile den Text des Hunderte Seiten starken Abkommens prüfen. Jede Regierung muss dann entscheiden, ob sie dem Verhandlungsergebnis zustimmt. In vielen Fällen reicht dafür ein Kabinettsbeschluss.

Dann sollen erneut die EU-Botschafter zusammenkommen, aller Voraussicht nach Anfang kommender Woche. Sie könnten dann ein schriftliches Verfahren einleiten, über das die EU-Länder gemeinsam ihre Zustimmung zu dem Handelsabkommen formal erklären. Das Abkommen wird dann von der EU unterzeichnet und im Amtsblatt der EU veröffentlicht. Angestrebt wird ein vorläufiges Inkrafttreten des Abkommens zum 1. Jänner, wenn Großbritannien auch den EU-Binnenmarkt und die Zollunion verlassen hat. Die Ratifizierung durch das Europaparlament soll dann Anfang 2021 im Nachhinein erfolgen. Damit schließt die EU das Kapitel Brexit. Großbritannien hatte die EU Ende Jänner verlassen und ist nur noch in einer Übergangszeit bis 31. Dezember Mitglied im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion. Dann kommt der wirtschaftliche Bruch. Ohne Abkommen wären Zölle und aufwendigere Kontrollen notwendig.

EU-Brexit-Chefverhandler Michel Barnier und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
Reuters/Francisco Seco
Barnier und von der Leyen einigten sich mit Großbritannien: „Es war ein langer und steiniger Weg.“

Britische Fischer enttäuscht

Der Handelspakt soll nun Zölle verhindern und Reibungsverluste in den Hunderte Milliarden Euro schweren Wirtschaftsbeziehungen so gering wie möglich halten. Zudem soll er den EU-Fischern Zugang zu britischen Gewässern sichern und viele Alltagsfragen klären, etwa die Zusammenarbeit bei Polizei, Justiz und Energieversorgung, aber auch den Studentenaustausch. Gerade die Fischereirechte waren der letzte große Knackpunkt in den Verhandlungen – entsprechend war es wohl auch kein Zufall, dass Johnson bei der Verkündung der Einigung eine Krawatte mit kleinen Fischen trug. Am Fischereithema wurde auch bis zuletzt gearbeitet.

Das Abkommen ermögliche beiderseitigen Zugang zu den Fischgründen, wobei künftig neue Fangquoten und eine neue Aufteilung der Fischereizonen gelte, sagte Barnier. Zudem wurde eine Übergangszeit von fünfeinhalb Jahren für die Kürzung der Fangquoten für EU-Fischer vereinbart. Wie EU-Vertreter am Donnerstag sagten, wurde mit Großbritannien in dieser Zeit auch eine Verringerung der Fangmengen um 25 Prozent vereinbart. Ab Juni 2026 solle dann jährlich erneut über die Fangquoten mit Großbritannien verhandelt werden. Details zu den betroffenen Fischarten seien noch nicht beschlossen worden, hieß es aus EU-Kreisen. EU-Fischer hätten in der Übergangszeit bis Mitte 2026 aber weiter Zugang zu der Fangzone zwischen sechs und zwölf Meilen vor der britischen Küste.

EU-Fischer fangen Meerestiere im Wert von jährlich rund 650 Millionen Euro in britischen Gewässern. Trotz des geringen wirtschaftlichen Gewichts ist der Sektor für Mitgliedsstaaten wie Frankreich, die Niederlande, Dänemark und Irland von großer politischer und sozialer Bedeutung. Auf der anderen Seite ist die Kontrolle über die eigenen Gewässer für viele Briten zum Symbol der durch den Brexit wiedergewonnenen Souveränität geworden.

Krawatte mit Fischen von Boris Johnson
AP/Pool Photo/Paul Grover
Johnsons Fischkrawatte als Statement

„Es hat ein bisschen was von Schummelei“

Unterdessen zeigte sich die britische Fischereiindustrie unmittelbar nach der Einigung enttäuscht. Es gebe keinen definitiven Bruch, so Verbandschef Barrie Deas zu Reuters. „Es hat ein bisschen was von Schummelei.“ Zuletzt hatte die Zuspitzung der Coronavirus-Pandemie in Großbritannien weiteren Druck aufgebaut. Nachdem eine mutierte Variante des Coronavirus entdeckt wurde, hatte Frankreich zeitweise seine Grenzen für Verkehr aus Großbritannien geschlossen. Deshalb stauten sich auf britischer Seite Tausende Lastwagen – aus Sicht von Kritikern ein Vorgeschmack auf die Lage bei einem „No Deal“-Brexit.

„Solide Grundlage“

Deutschland, das derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat, zeigte sich erfreut. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel lobte, dass es nun „klare Regeln“ für die zukünftige Zusammenarbeit gebe. Das sei von historischer Bedeutung. Merkel kündigte eine intensive Prüfung des Textes durch das eigene Kabinett sowie den Rat an.

Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron teilte mit, die „europäische Einheit und Standfestigkeit haben sich ausgezahlt“. Frankreich verfolgte im Brexit-Gezerre oft eine strenge Linie. Unter anderem hatte Frankreich während der Verhandlungen lange auf den Schutz seiner Fischer gedrängt. Sie sollen zur Abfederung der Folgen des Abkommens staatliche Hilfen erhalten. Vorgesehen sind unter anderem individuelle Hilfen für Fischer und Fischgroßhändler von jeweils bis zu 30.000 Euro, wie das Meeresministerium in Paris ankündigte.

Auch der irische Ministerpräsident Micheal Martin begrüßt die Einigung. Das Abkommen sei ein guter Kompromiss und stelle ein ausgewogenes Ergebnis dar. Die Vereinbarung sei die am wenigsten schlechte Version des Brexit, die möglich sei. Spaniens Ministerpräsident Pedro Sanchez kündigt eine Fortsetzung des Dialogs mit Großbritannien über Gibraltar an. Auch EU-Parlamentspräsident David Sassoli und EU-Ratspräsident Charles Michel begrüßten die Einigung.

Erleichterung auch in Österreich

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) kündigte auf dem Kurznachrichtendienst Twitter an: „Wir werden die Vereinbarung nun sorgfältig prüfen.“ Er dankte von der Leyen und Barnier für ihre „unermüdlichen Bemühungen“. Auch Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) begrüßte „den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich. Das Abkommen ist eine solide Grundlage für eine starke Partnerschaft der Zukunft.“ Auch ÖVP-Außenminister Alexander Schallenberg dankte Barnier und twitterte: „Das Abkommen wird die Grundlage für eine starke und nachhaltige zukünftige Partnerschaft bilden.“

SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner sagte, man sei erleichtert, da ein harter Brexit die schlechteste Option gewesen wäre. Demokratiepolitisch sei der Vorgang allerdings kritisch zu sehen: „Hier wird in letzter Minute ein 2.000 Seiten dickes Vertragswerk über einen Handelspakt durch die Institutionen gepeitscht“, die Sozialdemokratie werde daher genau auf die Folgen achten. Auch SPÖ-EU-Delegationsleiter Andreas Schieder merkte an, dass letztlich doch die Vernunft gesiegt habe, nachdem die britische Regierung „irrational und populistisch“ gehandelt habe.

Briten verlassen auch Erasmus-Programm

Im Zuge des Post-Brexit-Abkommens steigt Großbritannien auch aus dem europäischen Erasmus-Programm für Studierende aus. Es habe sich dabei um eine „schwierige Entscheidung“ gehandelt, sagte Johnson am Donnerstag. Das Programm sei für sein Land jedoch „extrem teuer“. Der Premier kündigte zugleich ein Ersatzprogramm an. Damit wolle er es britischen Studierenden ermöglichen, an den „besten Universitäten“ der Welt und nicht nur in Europa zu lernen. Für die derzeit knapp 150.000 an britischen Hochschulen eingeschriebenen Studierenden aus EU-Staaten dürfte der Auslandsaufenthalt an Universitäten im Vereinigten Königreich dagegen teurer und schwieriger werden.