Friedrich Dürrenmatt schwarz weiß
Getty Images/Ullstein Bild
Dürrenmatt 100

Zwischen Weltdrama und Emmental

„Uns kommt nur die Komödie bei.“ Könnte von Thomas Bernhard stammen. Ist aber von Friedrich Dürrenmatt. Vor 100 Jahren kam Dürrenmatt im Schweizer Emmental auf die Welt, wollte eigentlich nie viel weiter als nach Basel, um am Ende doch Weltdramatiker zu werden. Seine „Physiker“ waren in der Schule Teil der „Quallektüre“ („Spiegel“). „Der Besuch der Alten Dame“ ist bis heute das Drama über die Abgründe des Menschen schlechthin. Dürrenmatt gilt als out. Doch wäre der Mann mit dem gemütlichen Bauch und der dicken Brille immer noch in. Eigentlich ist er in der Art, wie er Stoffe aufgriff, ein Autor für das Netflix-Zeitalter.

Zum Kanon der Bildungslektüre oder Bestand jener Bücher, die man gelesen haben muss, um im Fach Deutsch die Reifeprüfung zu bestehen, gehört er längst nicht mehr. Was schade ist, denn auch wenn seine „Physiker“ von den Ängsten der Menschen zur Zeit des „Kalten Kriegs“ erzählen, oder wie Dürrenmatt sagen würde: vom Umstand, dass wir uns den eigenen Ast selbst angesägt haben, ist der Mann, der am 5. Jänner 1921 als behüteter Pastorensohn im Emmental zu Welt kam, aktueller denn je. Dürrenmatt war ein Querkopf – und er war Schweizer. Das zusammen gibt schon eine besondere Mischung oder Hürde, über die man in der Eroberung der Welt erst einmal drüber kommen muss.

Als Marcel Reich-Ranicki gemeinsam mit seinem Kollegen Hans Mayer den dann schon berühmten Dürrenmatt interviewte und Dürrenmatt wegen dessen angeblicher Kritik am Literaturkritiker den Prozess machen wollte, antwortete dieser ganz auf seine Art: gemütlich, aber in der Gewissheit, dass er Reich-Ranicki zwar nicht im Redetempo, sehr wohl aber argumentativ einholen werde. Die Literatur, so sein späteres Credo, müsse „wieder so leicht werden, dass sie auf der Waage der Literaturkritik nichts mehr wiegt: Nur so wird sie wieder gewichtig“, schreibt der, der bei seinen eigenen Literaturkritiken, besonders, wenn er ein erfolgreiches Buch seines Freundes Max Frisch zu besprechen hatte, immer säumig und hinten nach war.

F. Dürrenmatt – Im Labyrinth

Der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt (1921-1990) war einer der brillantesten Denker des 20. Jahrhunderts. Einer, der sich immer mit der Welt auseinandersetzte – insbesondere mit der Schweiz, seinem Heimatland, das er als Gefängnis beschrieb.

Ein Weltbürger – im Kopf

Seine erste Ehefrau soll der Mann aus Konolfingen mit einer Geschichte von einem Richter erobert haben, der während eines Gerichtsverfahrens unabsichtlich eine Wurst aus Menschenfleisch verzehrte. Als ebendiese Ehefrau später ihren Mann im Ehebett vermisste, musste sie nicht etwa in Richtung Betten fremder Frauen spionieren: Ihr Mann lag wie jede Nacht auf dem Dach, um die Sterne zu betrachten.

Dürrenmatt wollte nie groß reisen, um es am Ende doch zu tun, er wollte nie in die Welt hinaus, um am Ende doch hinaus zu gehen – aber er wollte von Anfang an Welten erfinden. In der Literatur der Moderne nimmt er schon deshalb eine Ausnahmestellung ein, weil all seine Dramen und Erzählungen nicht von der Form, sondern zunächst einmal tatsächlich vom Inhalt, nämlich abenteuerlichen Geschichten, getrieben sind. Das wäre so, als würde man in der Musik nach Schönberg auf die Idee verfallen, wieder mit Motiven aufzutrumpfen, die jene eines Mozarts überholten.

Schuld und Sühne: Die Rückkehr der Claire Zachanassian

Dürrenmatt aber suchte nach den besonderen, absurden Geschichten und schaffte es am Ende, diese zu allgemein menschlichen Parabeln zu überhöhen. Sein Königsstück dabei, das ihm und seiner früh gegründeten Familie aus andauernder wirtschaftlicher Not half: „Der Besuch der alten Dame“ (1956). Die Rückkehr der Claire Zachanassian, die als Kläri Wäscher in Schimpf und Schande aus ihrem Heimatdorf Güllen gejagt worden war, um als reiche Frau zurückzukehren und an ihren einstigen Widersachern Rache zu nehmen, ist zur großen Parabel auf die Abgründe des Menschen geworden. Und zu einem Welterfolg, das ein junger Regisseur namens Peter Brook an den Broadway brachte. Und durch Bernhard Wickie zum Welterfolg „The Visit“ (1964) mit Ingrid Bergmann und Antony Quinn anverwandelt wurde.

Ingrid Bergmann und Antony Quinn während der Dreharbeiten zu The Visit
Friedrich / Interfoto / picturedesk.com
Ingrid Bergmann und Antony Quinn während der Dreharbeiten zu „The Visit“ (1963)

Das Ende des klassischen Dramas

Wie so oft war sich Dürrenmatt auch hier nicht sicher, in welcher Form er seinen Stoff gestalten wollte. „Den Besuch“ hatte er ursprünglich als Novelle angelegt, um ihn letztlich zum Drama umzuformen. Und die Form des Dramas, die Dürrenmatt in längerer Auseinandersetzung mit den Arbeiten Bert Brechts (den er während dessen Schweizer Zeit auch persönlich kennenlernte) hier erreicht, sollte sein Markenzeichen, seine Form des Epischen Theaters, fern jeder Metasysteme, werden.

Schuld und Gerechtigkeit sind gerade nach 1945 die großen Themen für die Literatur. Man könnte einwenden: Das waren sie bei Heinrich von Kleist auch schon. Was sich aber bei Dürrenmatt geändert hat, ist die Gestalt, in der diese Themen auftauchen. Das große Drama funktioniert bei ihm nicht mehr.

Eigentlich ist es nur noch die Farce, die der Gegenwart beikommt. Dürrenmatt spricht selbst noch von der Tragikomödie; doch abseits von Terminologiedebatten ist der Kern seiner Dramentheorie beachtenswert: Die griechische Tragödie, aber auch die Dramen aus der Zeit Friedrich Schillers, schreibt er, setzten „eine sichtbare Welt“ voraus: „Der heutige Staat ist jedoch anonym, unüberschaubar und bürokratisch geworden. Die echten Repräsentanten fehlen, und die tragischen Helden sind ohne Namen.“

Ein Schüler Kierkegaards

Die Kunst, so Dürrenmatt, dringe nur noch zu den Opfern vor, wenn sie überhaupt zum Menschen dringe: „Die Mächtigen erreicht sie nicht mehr.“ Die Hoffnung, den Einzelnen zu erreichen, ist schließlich Kern seiner Dramen, und nicht umsonst ist Dürrenmatt damit auf den Lehrplänen gelandet. Wenn es Freiheit für den Einzelnen gibt, dann immerhin noch die, aus dem Gang der Systeme auszusteigen. Hier hält sich ein Rest von Sören Kierkegaard, Dürrenmatts ewigem Lehrmeister; dieser hatte ja schon das Verhältnis zur Religion nur als eine Individualleistung erklären können – und sich für das Gesamtsystem der Religion als unzuständig erklärt.

„Dürrenmatts Theater trägt parodistische Züge“, schreibt Ulrich Weber in der gerade bei Diogenes erschienenen, lesenswerten Biografie über den verschrobenen Weltbürger Dürrenmatt: „Es zitiert eine Dramenform, um ihre Unzeitgemäßheit zu demonstrieren und ihre Helden zu demontieren.“

Ein Arbeiter in allen Kunstformen

Dürrenmatt zog es zu allen Kunstformen, vor allem aber zu denen, die das Erlebnis des Einzelnen mit dem Massenspektakel verbanden: Der frühere Hörspielautor, der seine Dramen gerne fürs Radio „übersetzte“, begeisterte sich vor allem für den Film und wollte ab dem Moment seiner Berühmtheit möglichst viele seiner Stücke selbst als Filmbücher umschreiben.

Dürrenmatt in seinem Haus in Neuchatel
STR / Keystone / picturedesk.com
Dürrenmatt, nach dürren Anfangsjahren ab 1956 auch wirtschaftlich gut situiert, in seinem Haus in Neuchatel

Kein „Trost bei Dürrenmatt“

Dürrenmatt selbst lehnte immer ab, als Moralist gesehen zu werden. Er habe immer gehofft, eines Tages nicht im Schaufenster unter der Rubrik „Trost bei Dürrenmatt“ zu landen. Getröstet hat Dürrenmatt alle Großen der Literatur in seinem überbordenden Weinkeller in einem seiner Häuser bei Neuchatel. Der Mann, der jahrelang mit seiner Familie um ein finanzielles Auskommen kämpfte, sollte schließlich als reicher Mann sterben, der sich trotz früher Diabetes-Erkrankung und einem Herzinfarkt mit 49 zu gern der dionysischen Weltbetrachtung hingab.

Der Autor als Figur im Text: Dürrenmatts Landkrimi

„Gemessen am Schicksal von Millionen und Abermillionen kommt mir mein Leben derart privilegiert vor, dass ich mich schäme, es auch noch schriftstellerisch zu verklären.“ So leitet einer seine Autobiografie ein, der eigentlich befand, dass er so etwas wie eine Biografie nicht habe. Mit seinem Leben hat sich Dürrenmatt daher lieber beiläufig in seine Texte geschummelt.

Der Besuch der alten Dame

Claire Zachanassian, eine erfolgreiche Geschäftsfrau, Weltbürgerin und Milliardärin reist in die Stadt Güllen. Hier hat sie einst als Klara Wäscher gelebt, eine junge, schöne und lebenslustige Frau, die sich damals in Alfred Ill verliebt hatte. Er war für sie die einzigartige, die ganz große Liebe, ohne Zweifel. Nach einem Verkehrsunfall, bei dem Klara bleibende Schäden davon trägt, lässt Ill sie für eine bessere Partie fallen, verrät sie, tritt ihre Gefühle mit Füßen und verleugnet sogar das gemeinsame, ungeborene Kind. Danach hat Klara alles Verloren: Ihre Gesundheit, ihr Baby, ihre Liebe und den Glauben an das Gute im Menschen. Aber sie kämpft. Brutal gegen sich selbst und andere.

„Der Richter und sein Henker“ aus dem Jahr 1952, neben den Wachtmeister-Studer-Texten seines Landsmannes Friedrich Glauser einer der Urtexte des Regionalkrimis, beginnt mit der Orientierungssuche des Polizisten Tschanz auf dem Weg nach Lamboing, bei der der Autor freundlich aus seinem Arbeitszimmer Orientierungshilfe leistet. „Auf alle Fälle sich nicht beobachten lassen, sonst kommen wir noch in ein Buch“, lautet da eine der ersten Losungen in einem sonst reichlich sonderbaren Text, in dem vorzugsweise gegen sich selbst ermittelt wird.

Dürrenmatt im November 1990: Er hält die Rede auf Vaclav Havel beim Gottlieb Duttweiler Preis
Walter Bieri / Keystone / picturedesk.com
Letzter Skandal: Dürrenmatts Rede auf Vaclav Havel bei der Verleihung des Gottlieb-Duttweiler-Preises

Die Lust am Konflikt

So sehr Dürrenmatt als Zeitgenosse zur gesetzt-ironischen Weltbetrachtung geneigt haben mag und bei dieser den Bordeaux verbrauchte wie ein Ferrari das Benzin, so sehr scheute er den Konflikt mit seinem Umfeld und seiner Heimat nicht. Dürrenmatts erste Theaterarbeit „Es steht geschrieben“ (1946) war durch überdeutliche Querbezüge zur Gegenwart ein Theaterskandal. Und einer seiner letzten Auftritte, anlässlich einer Preisrede für den neuen tschechischen Präsidenten Vaclav Havel, machte er bei der Verleihung des Gottlieb-Duttweiler-Preises bei aller Freundlichkeit in der Stimme keinen Bogen um kritische Statements. Seine Rede wurde zu einer großen absurd-humoristischen Abrechnung mit seiner eigenen Heimat.

Der Schweizer, so Dürrenmatt in Anspielung auf Havels Gefängniszeit in einem totalitären System, hätte den „dialektischen Vorteil“, „dass er gleichzeitig Gefangener und Wärter“ sei, heißt es in der Rede „Die Schweiz – ein Gefängnis“: „Das Gefängnis braucht keine Mauern, weil seine Gefangenen Wärter sind und sich selbst bewachen, und weil die Wärter freie Menschen sind, machen sie auch unter sich und mit der ganzen Welt Geschäfte, und wie! Und weil sie wiederum Gefangene sind, können sie nicht der UNO beitreten, und die Europäische Gemeinschaft bereitet ihnen Sorgen.“

Die Rede hielt Dürrenmatt im November 1990, drei Wochen vor seinem Tod. „Verzapf keinen Tiefsinn, füge dem Rätsel kein neues hinzu“, riet er sich selbst mal. Manchmal reichte ihm einfach das klare Benennen.