Leonardo Sciascia
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Leonardo Sciascia

Allein gegen die Mafia

Wer in der Gegenwart an Autoren denkt, die über das organisierte Verbrechen in Italien schreiben, der hätte rasch einen Namen zur Hand: Roberto Saviano. Doch Saviano, der mit seinen Romanen die Camorra beim Namen nennt, hat einen Vorläufer. Es ist der Sizilianer Leonardo Sciascia, der seiner Heimat nicht nur große literarische Monumente setzte. Er nannte als Erster auch literarisch das organisierte Verbrechen beim Namen. In Sizilien: die Cosa Nostra. Und sparte dabei nicht aus, die Korruption bis in höchste politische Kreise anzuprangern.

Am 8. Jänner 1921 wurde der Schriftsteller und geistige Urvater der Anti-Mafia-Bewegungen im sizilianischen Ort Racalmuto geboren. Seine Kriminalromane schürten erstmals das öffentliche Bewusstsein für die Cosa Nostra, mit seinen Essays und Zeitungskommentaren wurde er neben Pier Paolo Pasolini zur moralischen Instanz im Italien der Nachkriegszeit, die auch die Politik nicht schonte.

Sciascia war ein Kind der sizilianischen Zeitenwende: Irgendwann zwischen dem Risorgimento – der durch die Truppen Giuseppe Garibaldis erzwungenen Einigung Italiens – und der Moderne, die in Benito Mussolinis Faschismus mündete, irgendwo zwischen einem Jahrhunderte alten System, das nur in reichen Adel und ausgebeutete Bauern unterteilte, und dem zunehmenden Wohlstand der Nachkriegszeit, der im Mezzogiorno, dem Süden Italiens, nur zu oft in den Taschen des organisierten Verbrechens verschwand, kam der unbestechliche Autor zur Welt.

Soziale Mobilität auf Sizilianisch

Sciascias Herkunft wies in die Vergangenheit: Sein Großvater war Vorarbeiter in einer Schwefelmine, sein Vater Angestellter in derselben Branche. Der Abbau des Elements wurde auf der Insel seit der Antike betrieben, um 1900 stammten neunzig Prozent des weltweit verbrauchten Schwefels aus den Minen in der Umgebung von Agrigent. Ein Wert, der in den folgenden zwanzig Jahren aber wieder rapide fiel.

„Einmal in Sizilien“
Wagenbach Salto
Leonardo Sciascia: Einmal in Sizilien. Aus dem Italienischen von Sigrid Vagt, Wagenbach, 144 Seiten, 18,50 Euro.

Während der Schwefelhandel wenige Familien reich machte und das Leben vieler Bergleute für einen kargen Lohn aufs Spiel setzte, ermöglichte er doch eine neue Form von sozialem Aufstieg. In seinen ersten essayistischen Geschichten, „Die Pfarrgemeinden von Regalpetra“ (1956), reflektierte Sciascia anhand des fiktiven prototypischen sizilianischen Ortes Regalpetra die sozialen Verhältnisse seiner Heimat.

„Jahrhundertelang haben Männer und Frauen meiner Herkunft gelitten und sich abgeplagt und haben gesehen, wie sich ihr Schicksal in dem ihrer Kinder widerspiegelte. Männer meiner Herkunft waren ‚carusi‘ und Hauer in den Schwefelgruben, Tagelöhner auf den Feldern. (…) Plötzlich dann der richtige Moment, es gab den Steiger, den Angestellten; und schon arbeite ich nicht mehr mit den Händen, sondern erfasse die Welt durch die Bücher“, heißt es in dem gerade unter dem Titel „Einmal in Sizilien“ neu aufgelegten Band.

Sciascia wurde Volksschullehrer und schon bald zum erfolgreichen Schriftsteller. Sein Schreiben zielte auf das dunkle Herz der italienischen Demokratie: die unheilige Allianz von ökonomischer, klerikaler und politischer Elite mit dem organisierten Verbrechen. Den Grund für diese Missstände sah Sciascia in dem, was er „Sizilianität“ nannte: der durch lange Unterdrückung entstandenen Mentalität, die jeden Einzelnen kompromisslos nach dem eigenen Vorteil suchen lässt. So umstritten diese ethnologische Fabel aus geschichtswissenschaftlicher und soziologischer Perspektive ist, so viel setzte sie ab Beginn der 1960er Jahre in Bewegung.

Urvater der Anti-Mafia-Kämpfe und von „Addiopizzo“

Ein Faktor bei Sciascias Erfolg war zweifellos, dass er als einer der ersten Autoren die Mafia beim Namen nannte und sich nicht scheute, ihre Funktionsweisen zu beschreiben, als Kirche und die Regierenden deren Existenz noch öffentlich bezweifelten. Schon in seinen Erzählungen zu Regalpetra beschrieb er, wie die Mafia von ihrer Verfolgung durch Mussolinis Faschismus letztendlich sogar profitieren konnte und sich rasch zum bestimmenden Faktor der sizilianischen Politik machte. Sein Krimi „Der Tag der Eule“ (1961) gilt als Prototyp des Mafia-Krimis.

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Leonardo Sciascia
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Anti-Mafia-Pionier, Archivgänger, Politiker und selbst ernannter „Häretiker“: Leonardo Sciascia (1921–1989)
Taormina auf Sizilien
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Eine Piazza im Sizilien der 1950er Jahre. So kann man sich den Schauplatz vorstellen, auf dem die Mafia erstmals mit „Der Tag der Eule“ in die Literatur einging.
Giuseppe Silvestri
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Giuseppe Silvestri, Rektor der Universität Palermo, präsentiert im August 2005 entdeckte Inschriften von Opfern der Inquisition. Sciascia lies sich von der Thematik zu „Der Tod des Inquisitors“ inspirieren.
Entführung von Minister Aldo Moro
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Schauplatz der Entführung Aldo Moros durch die Brigate Rosse am 16. März 1978 in Rom
Aldo Moro
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Aldo Moro während seiner 55-tägigen Geiselhaft. Am 9. Mai 1978 fand man seine Leiche in der römischen Via Michelangelo Caetani im Kofferraum eines Renault C4.
Giovanni Falcone und Paolo Borsellino
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Die Arbeit der beiden Mafia-Jäger Giovanni Falcone und Paolo Borsellino wurde durch die Bewusstseinsbildung in Sciascias Texten erst möglich gemacht. Trotzdem wandte sich dieser später polemisch gegen die „Karrieristen“. Falcone und Borsellino wurden durch Bombenattentate am 23. Mai 1992 und 19. Juli 1992 ermordet.
Salvatore „Toto“ Riina
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Durch Sciascias Literatur bekam die Mafia erstmals ein Gesicht. Salvatore „Toto“ Riina wurde als Pate des Corleoneser Clans durch brutale Morde zum Chef der Cosa Nostra. 1993 wurde Riina letztinstanzlich zu 13-mal lebenslänglicher Haft verurteilt.
Giulio Andreotti
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Ein weiterer Angeklagter der Mafia-Maxi-Prozesse war der siebenfache italienische Premierminister Giulio Andreotti (1919–2013), neben Moro der wohl bestimmendste Politiker der Democrazia Cristiana (DC) nach 1945 und Mitglied in über 30 Regierungen. Er wurde verdächtigt, die Cosa Nostra über Jahrzehnte beschützt zu haben, 2004 wurde er letztinstanzlich freigesprochen.

Darin wird am helllichten Tag ein bekannter Bauunternehmer in einem kleinen sizilianischen Ort erschossen. Von den etlichen Zeugen auf der Piazza und im Autobus, in den das Opfer gerade einsteigen wollte, will niemand etwas gesehen haben. Das Mafia-Gesetz der „Omerta“, der Verschwiegenheit, hat den Ort fest im Griff. Der Ermittler, der aus dem Norden stammende Carabinieri-Kommissar Bellodi, weiß zwar, dass der Mafia-Boss Don Mariano verantwortlich ist, doch ihm werden von dessen Unterstützern – Priester, Abgeordnete und sogar ein Minister – Steine in den Weg gelegt. Am Schluss erarbeitet Bellodi eine Anklage, nur um wieder in den Norden zurückgekehrt zu erfahren, dass seine „mühsam zusammengestückelte“ Indizienkette „sich in nichts aufgelöst hatte.“ In den Krimis Sciascias muss sich das Gesetz nur zu oft den mafiösen Netzwerken beugen.

Sciascia trat für einen persönlichen Widerstand gegen die Mafia ein und sah sich als Nachkomme der europäischen Aufklärung. Sein Einfluss reichte von den großen Anti-Mafia-Ermittlungen Giovanni Falcones und Paolo Borsellinos über die gegenwärtige Anti-Schutzgeld-Kampagne „Addiopizzo“ (auf Deutsch etwa: „Auf Wiedersehen, Schutzgeld“) bis zum Journalisten und Schriftsteller Saviano, der mit seinem Buch „Gomorrha“ (2006) die Verbrechen der kampanischen Mafia-Clans der Camorra ähnlich mutig anprangerte wie Sciascia jene der sizilianischen Cosa Nostra.

„Ein Sizilianer von festen Prinzipien“
Edition Converso
Leonardo Sciascia: Ein Sizilianer von festen Prinzipien. Aus dem Italienischen von Monika Lustig, Edition Converso, 192 Seiten, 23,70 Euro.

Das Wesen der Macht

Just als Sciascias Ruf als Anti-Mafia-Autor ihn zum internationalen Erfolgsautor machte, begann er, sich neuen Themen zuzuwenden. Seine Archivrecherchen führten zu historischen Erzählungen, mit denen er die kontinuierliche Brutalität der Verhältnisse auf Sizilien darstellen wollte.

Diese Bücher sind durchaus im Einklang mit dem wohl berühmtesten Zitat der sizilianischen Literatur aus Giuseppe Tomasi di Lampedusas „Der Leopard“ vereinbart: „Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, muss alles sich ändern“, sagt darin der junge Adelige Tancredi und plädiert für einen Pakt mit den neuen politischen Kräften im 19. Jahrhundert. Denn nur wenn sich die Machthabenden anpassen, die neuen Rollen ausfüllen, können sie weiterhin am Ruder bleiben.

Sciascias historische Arbeiten lesen sich wie eine Illustration dieser These: Das Wesen der Macht bleibt bei ihm immer brutale Beherrschung, egal ob der Machthaber als Adeliger, Priester, Mafioso oder geschmeidiger Politiker erscheint. Gerade erst wurde sein „Tod des Inquisitors“ (1967) zum Anlass des Jubiläums von der Italien-Spezialistin Monika Lustig neu übersetzt und erschien im Band „Ein Sizilianer von festen Prinzipien“.

Die Gefangenen von „Lo Steri“

Die Erzählung kreist um den Augustinermönch Fra Diego La Matina, der während der spanischen Herrschaft über Sizilien von der Inquisition angeklagt wurde und seinen Folterer Juan Lopez de Cisneros erschlug, bevor er 1658 auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Inspiriert wurde Sciascia zu dieser Erzählung, die er selbst als das ihm „Teuerste, was ich jemals geschrieben habe“, bezeichnete, von Inschriften und Graffiti im ehemaligen palermitanischen Sitz der Inquisition, dem Palazzo Chiaramonte, auch genannt „Lo Steri“.

Die Opfer der Inquisition wurden hier über Jahre gefangen gehalten und gefoltert und hinterließen eingeritzte Inschriften und Graffiti an den Wänden ihrer Zellen. Eine, die Sciascia besonders berührte, lautet „Pacienza (sic!) Pane e Tempo“ („Geduld, Brot und Zeit“). Sciascia schrieb über seine Erzählung, er werde sie nie ganz abschließen können, „solange ich darauf warte noch etwas zu entdecken: ein neues Dokument, eine neue Erkenntnis (…), irgendein Indiz“. Und tatsächlich wurden bei Renovierungsarbeiten im August 2005 noch weitere Inschriften und Zeichnungen gefunden, die wie eine Bestätigung für Sciascias Auffassung wirken, wonach die Spuren der brutalen Machtausübung auf Sizilien sich bis in seine Lebenszeit fortschrieben.

Öffentlicher Intellektueller der „Anni di piombo“

Sciascia wurde durch öffentlich wirksame Debatten in Publikationen wie dem Wochenmagazin „L’Espresso“ und der Tageszeitung „Corriere della Sera“ zur moralischen Instanz Italiens, in seinem Einfluss vergleichbar mit dem Regisseur und Schriftsteller Pasolini, mit dem ihn eine enge Freundschaft verband. Beide bezeichneten sich selbst als „Häretiker“ und kritisierten die Machthabende christdemokratische Democrazia Cristiana (DC) wiederholt aufs Schärfste. Während Pasolini schon früh aufgrund seiner Homosexualität aus der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) ausgeschlossen wurde, wurde Sciascia 1975 auf deren Liste in das Stadtparlament von Palermo gewählt.

Jedoch trat er 1977 wieder von dieser Funktion zurück. Er war strikt gegen die Strategie des „historischen Kompromisses“. Diese war wesentlich von Enrico Berlinguer aufseiten der PCI, der seine Partei zur stimmenstärksten kommunistischen Partei der westlichen Industrieländer gemacht hatte, und Aldo Moro, der der DC als Parteisekretär vorstand, betrieben wurde. Diese Annäherung sollte einen starken politischen Konsens gegen den zunehmenden Terrorismus vonseiten der extremen Rechten und extremen Linken während der turbulenten Jahre von 1968 bis 1980 – bekannt als „Anni di piombo“ (Dt.: „Bleierne Jahre“) – bilden.

Die Ermordung Aldo Moros

Über die in der DC dominante Figur Moros verfasste Sciascia bereits 1974 die Novelle „Todo modo“. Zum Skandal wurde dieser Stoff nach seiner Verfilmung durch Elio Petri 1976. In „Todo modo“ trifft sich eine Elite von Politikern, Industriemagnaten und Klerikern vorgeblich zu einer spirituellen Klausur. Moro, unschwer als skrupulöser Präsident in diesem Szenario zu erkennen, amtierte damals gerade zum zweiten Mal als Ministerpräsident.

Im Film kommt es zu dubiosen Absprachen, und plötzlich werden einzelne Teilnehmer der Klausur ermordet aufgefunden. Der Film kann als Allegorie einer korrupten politischen Kaste verstanden werden, die sich selbst mittels Gewalt zerstört. Spätestens als Moro am 16. März 1978 von der linksterroristischen Gruppierung Rote Brigaden (Brigate Rosse) entführt und nach 55 Tagen Geiselhaft ermordet wurde, überholte die blutige politische Wirklichkeit Sciascias Fiktion.

Sciascia veröffentlichte wenige Monate nach der Ermordung Moros mit „Die Affäre Moro“ eine Studie über die Briefe Moros aus der Geiselhaft, in der er folgerte, dass dessen Parteigenossen ihn absichtlich nicht gerettet hätten. Sciascia selbst nahm als Abgeordneter des Partito Radicale (PR) an der parlamentarischen Untersuchungskommission zu Moros Ermordung teil. Der Fall wird bis heute mit verschiedenen Thesen, die bis zur Involvierung von geheimdienstlichen Organisationen reichen, um den historischen Kompromiss zu verhindern, gedeutet.

Aldo Moro
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Ikonisches Bild in der Zeitgeschichte: Der gefangene Moro

Kontroversieller Moralist

Sciascia, der für die PR auch als Abgeordneter ins europäische Parlament einzog, blieb bis zuletzt ein kontroversieller Moralist, der sich gern gegen vorherrschende Meinungen stellte, da er „schon immer eine starke Abneigung gegen die Herde verspürt habe“, wie er in einem Interview sagte.

Als Borsellinos und Falcones Ermittlungen gegen die Cosa Nostra 1986 zum Maxi-Prozess mit 475 Angeklagten führten, in dessen Verlauf durch die Aussagen des ehemaligen Mafiosos Tommaso Buscetta 344 Angeklagte zu insgesamt 2.665 Jahren Haft verurteilt wurden, diskreditierte Sciascia die beiden Ermittler in einem Artikel als „Anti-Mafia-Profis“, die hauptsächlich an der eigenen Karriere interessiert wären.

Die Kulturjournalistin Maike Albath nennt die Folgen dieses Artikels in ihrer Geschichte der sizilianischen Literatur, „Trauer und Licht“, „katastrophal, denn sie leitete den Beginn der Isolation Falcones und Borsellinos ein“. Sciascia, den man durchaus als geistigen Urvater der „Anti-Mafia“ bezeichnen kann, starb am 20. November 1989. Falcone und Borsellino, die ständig von Leibwächtern umgeben waren, wurden am 23. Mai 1992 bzw. am 19. Juli 1992 durch Bombenattentate der Mafia getötet.

Vermächtnis der Anti-Mafia

Ihre Ermittlungen führten zu Prozessen bis in die höchsten politischen Sphären. Giulio Andreotti, siebenfacher Ministerpräsident Italiens und für die DC zwischen 1945 und 2000 in 33 Regierungen vertreten, wurde am 17. November 2002 zu 24 Jahren Haft verurteilt, weil er die Mafia mit einem Mord beauftragt habe. Das Urteil wurde allerdings in einem Berufungsverfahren im Mai 2003 wegen Mangels an Beweisen aufgehoben.

Sciascia schrieb, dass die Mafia jene hasse, die Erinnerung besäßen. Seine Bücher sind bis heute eine Form von Erinnerung, die mit klarer Haltung Missstände und deren Ursachen deutlich und schonungslos benennt.