George Washington überquert den Fluss Delaware
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Beispiel Washington

Der Abschied vom Fortschrittsglauben

Die Wende von 1989 und der Sturz totalitärer Herrschaftsformen haben in der westlichen Welt nach den totalitären Erfahrungen rund um den Zweiten Weltkrieg einen alten Fortschrittsglauben befeuert: dass sich Gesellschaften mit Vernunft zur Demokratie wandeln können. Doch das alte Paradigma der Aufklärung, das zwar in der Französischen Revolution Risse bekam, scheint in der Gegenwart und gerade im Schatten der Ereignisse von Washington noch mehr infrage zu stehen: Was, wenn in der Demokratie der Konsens über die Rechtmäßigkeit demokratischer Prozesse verloren geht?

Wenn sich die Welt nach den Vorgängen vom 6. Jänner in Washington DC in diesen Tagen immer noch die Augen reibt, weil das zentrale Symbol der US-Demokratie von innen her (und nicht wie bei 9/11 von außen) angegriffen wurde, dann steht eine Grundüberzeugung der westlichen Welt im Zeitalter Sozialer Netzwerke und sich beschleunigender Kontra-Öffentlichkeiten infrage: Überzeugt die Demokratie noch alle in einer Gesellschaft? Und was, wenn revolutionäre Bewegungen in einer Demokratie nun nicht mehr dem Fortschritts- und Vernunftglauben unterstellt sind?

Die Deutung „positiver“ Revolutionen

Die Begriffsgeschichte des Wortes „Revolution“ seit der Neuzeit zeigt zwar, dass der Terminus „Revolution“ eigentlich immer nur in ganz kurzen Phasen in der europäisch-nordamerikanischen Geschichte positiv besetzt war (die Griechen etwa kannten diesen Terminus nicht und verwendeten seit Thukydides den Begriff des „Bürgerkriegs“ und meinten damit immer eine tiefe Polarisierung als Gefahr für das Gemeinwesen). Bis in die jüngere Gegenwart hielt sich dennoch ein Glaube, dass Aufstände und Umstürze dann eine Berechtigung hätten, wenn sie Despotien stürzten – und nicht etwa, wie man ja in der Weimarer Republik mit einer sehr fragil entwickelten Demokratie sehen konnte, sich gegen das demokratische System richteten.

Das Geschichtsbild, das etwa Deutschland von sich seit 1990 entworfen hat, ist von einem gewissen Überwindungsgedanken zu vorherigen Entwicklungen grundiert. So schreibt etwa Heinrich August Winkler im Vorspann seiner großen Geschichte zu Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, die den bezeichnenden Titel „Der lange Weg nach Westen“ trägt: „Warum es zur Herrschaft Hitlers kam, ist immer noch die wichtigste Frage der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, wenn nicht der deutschen Geschichte überhaupt. Doch daneben steht seit 1990 eine andere Frage: Warum fand die deutsche Frage ihre Antwort in der Wiedervereinigung? Die Frage lässt sich auch anders formulieren: Warum gibt es seit 1990 und erst seit jenem Jahr keine deutsche Frage mehr?“

Ausschreitungen am Capitol in Washington
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Angriff von „innen“: Die Symbolwirkung des 6. Jänner 2021 von Washington DC

Das utopistische Selbstbild der Aufklärung

Seit der Aufklärung ist der Terminus der „Revolution“ an ein, wie Reinhart Koselleck schreiben würde, „utopisches Selbstbild“ gekoppelt, eines, so Koselleck in seinem Klassiker „Kritik und Krise“ aus dem Jahr 1954, das Folgendes ausklammert: dass das Moment der Kritik am absolutistischen Staat sich am Ende gegen die Errungenschaften des bürgerlichen Staates richten wird.

Man müsse, so Koselleck, der sein Leben lang auch zur Begriffsgeschichte von Revolutionen und der Semantik historischer Begriffe gearbeitet hat, genauer nach der „Problematik der Aufklärung und der aus ihr folgenden Emanzipation“ fragen: Die Aufklärung könne zu einer Utopie werden, die Gegenbewegungen provoziere, „welche sich der Verfügung der Aufklärung entziehen“. Die Aufklärung verfehle dann ihr Ziel, wenn sie immer nur die eigene Utopie vor sich hertrage, aber nicht das dialektische Umschlagen des von ihr ausgelösten Prozesses in den Blick nehmen könne.

Zwar waren sich viele Theoretiker im 18. Jahrhundert sicher, dass die Veränderung zum Besseren auch eine Gegenbewegung provoziere, so etwa der Schriftsteller und Philosoph Denis Diderot, der den Ausbruch der Französischen Revolution nicht erlebte. „Revolutionen sind unvermeidbar, es hat sie immer gegeben und es wird sie immer geben“, schrieb er im entsprechenden Artikel der „Encylopedie“ und fügte an anderer Stelle hinzu: „Was einer Revolution folgt? Das werden wir ignorieren.“

Trump revidiert seine Sicht auf den 6. Jänner

Am Donnerstag erkannte der noch amtierende US-Präsident Donald Trump das Wahlergebnis an und versprach eine reibungslose Übergabe an seinen Amtsnachfolger versprochen. Auch zur Erstürmung des Kapitols äußerte sich Trump und rief zur Versöhnung auf.

Revolution „ohne Menschenblut“?

Das positive Bild der Revolution im 18. Jahrhundert und die Legitimierung für einen Systemwechsel werden wesentlich von zwei Ereignissen getrieben. Dem Verfassungswechsel der Glorious Revolution in England 1688, die mit der „Bill of Rights“ den König nur in Verbindung mit dem Parlament zum Träger der Staatssouveränität machte. Und andererseits wird der US-Unabhängigkeitskrieg gerade von den Lumieres als Abkehr von der Despotie und hin zur Selbstbestimmung auf den Grundlagen von Freiheit und Vernunft interpretiert. Thomas Jefferson, einer der Gründungsväter der Vereinigten Staaten von Amerika, stand während seiner Zeit als Botschafter in Paris am Vorabend der Revolution in engem Austausch mit der französischen Aufklärung in der Entwicklung eines republikanischen Staatsprinzips.

Patrick Henry im Convent von Virginia 1775, mit dem er den Staat Virginia überzeugt, sich den revolutionären Truppen anzuschließen
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Das Vorbild der US-Revolution schwappt nach Europa über. Hier Patrick Henry 1775 im Konvent von Virginia, wo er für die Beteiligung des Staates Virginia am Unabhängigkeitskrieg wirbt.

Auch in Deutschland stand man am Vorabend der Französischen Revolution dem Gedanken einer, wie Christoph Martin Wieland es 1788 formulierte („Geheimnis des kosmopolitischen Ordens“), gesellschaftlichen Veränderungen, die von der Vernunft getragen werden, positiv, wenngleich deutlich vorsichtiger gegenüber: Man nähere sich „einer wohltätigen Revolution“, so Wieland, die „durch die sanfte, überzeugende und unwiderstehliche Übermacht der Vernunft“ getragen werde: „kurz einer Revolution (…) ohne Europa mit Menschenblut zu überschwemmen und in Feuer und Flammen zu setzen“. Wielands Hoffnungen sollten im Schatten der Ereignisse nach dem Sturm auf die Bastille bald enttäuscht werden.

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Der designierte US-Präsident Joe Biden richtete in einer Rede seine Worte an die Protestierenden und die Bevölkerung.

„Nicht das Recht, der Erfolg entscheidet“

Angesichts der Erfahrungen der Französischen Revolution und der nachfolgenden napoleonischen Feldzüge wandelte sich bei vielen das erwartungsvolle Bild. „Nicht das Recht, sondern der Erfolg entscheidet über den Ausgang der Revolution“, schrieb Christian Garve nüchtern in seiner Replik auf Immanuel Kants „weltbürgerliche Hoffnungen“: „Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis.“

Eine positive Konnotation des Begriffs „Revolution“ ist mit den Vorgängen nach Ende des Ersten Weltkriegs in den Jahren 1918/19 nicht mehr zu haben. Viele Intellektuelle, auch wenn man nach Österreich blickt, waren zu sehr in einem alten System sozial verankert, um sich in neue Abenteuer zu stürzen. In Umlauf kam aber der Begriff der „konservativen Revolution“, den etwa auch der österreichische Dichter Hugo von Hofmannsthal mit formulierte. Er ortete einen „ganz Europa fassenden Prozess, der durch ein antiliberales Streben nach Bindung und Ganzheit gekennzeichnet“ sei, liest man in der Schrift „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“.

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Dort, wo Revolutionen in dieser Zeit Erfolg hatten, brachten sie wie 1917 die Ablöse des einen totalitären Systems durch ein neues. Die Begriffssemantiken aus dem 19. Jahrhundert, etwa jene von Karl Marx und Friedrich Engels, hielten sich: Die Begriffe „Revolution“ und „Evolution“ ziehen sogar bis in die Diktion der Nazis ein, die mit ihrem Aufstieg zeigten, wie sehr sich eine fragile Demokratie in die Knie zwingen ließ. Arthur Moeller van den Bruck war ja einer der Vordenker jener Revolution von rechts, die die „falsche und halbe Revolution (von 1918, Anm.)“ gewinnen wollten: „Mit der Revolution und mit der Enttäuschung durch die Revolution beginnt unsere Geschichte erst (…) – oder die Nation wird nicht mehr sein.“

Bild von Brand des Berliner Reichstages am 27. Februar 1933
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Am 27. Februar 1933 brennt in Berlin die „Schwatzbude“ Reichstag

Angriff auf die „Schwatzbude“ Parlament

„Die Revolution ist kein Dauerzustand“, proklamierte Adolf Hitler in einer Rede vom 6. Juli 1933, als er schon vor und vor allem nach dem Reichstagsbrand im 1933 den Griff nach der Macht vollendet hatte: „Sie (die Revolution, Anm.) darf sich nicht zu einem Dauerzustand ausbilden.“ Man müsse „den freigewordenen Strom in das sichere Bett der Evolution hinüberleiten“, so Hitler in einer Begriffsmischung der Marken Marx, Engels und Oswald Spengler.

Egal ob man den Brand des Reichstags im März 1933 dem kommunistischen Arbeiter Marinus van der Lubbe zuschreibt oder es doch eine von Hermann Göring orchestrierte SS-Aktion war: Diskreditiert war damals die „Schwatzbude“ Reichstag (Hitler), und man muss nur auf die Saat dieser Haltung schauen, etwa beim Volksschriftsteller und Berufsantisemiten Ludwig Thoma, der die Weimarer Republik als „Deppokratie“ und in seinen Arbeiten für den „Miesbacher Anzeiger“ in den Jahren 1920/21 gleich auch 1848 als „Hanswurstiade“ abtat.

Bücher zum Thema

  • Reinhart Koselleck, Kritik und Krise
  • Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe
  • Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte I und II.

Parlamente: Nicht nur von rechts unter Druck

Das Geschichtsbild verklärt und überhöht den Sturm auf verhasste Insignien totalitärer Institutionen. Die Parlamente, sie kamen nicht zwangsläufig immer von rechts unter den Druck der Straße. 1834 veröffentliche Georg Büchner mit dem „Hessischen Landboten“ eine radikale Kritik am Parlamentarismus seiner Zeit: „Geht mal nach Darmstadt und seht, wie die Herren sich für euer Geld dort lustig machen, und erzählt dann euren hungernden Weibern und Kindern, dass ihr Brot an fremden Bäuchen herrlich angeschlagen sei, erzählt ihnen von den schönen Kleidern, die in ihrem Schweiß gefärbt, von den zierlichen Bändern, die aus dem Schwielen ihrer Hände geschnitten sind, erzählt von den stattlichen Häusern, die aus den Knochen des Volkes gebaut sind.“

Mitglieder der Black Panthers am 2. Mai 1967 im Congress von Sacramento
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Mitglieder der Black Panthers im Kongress von Sacramento am 2. Mai 1967

Der Vorwurf, dass Abgeordnete nicht mehr den Willen des Volkes repräsentierten, daran erinnert auch Willi Winkler aktuell in der „Süddeutschen Zeitung“, sei so alt wie der Parlamentarismus. Dass der Sturm der Institution keine Frage von links oder rechts sei, illustriert Winkler mit zwei Beispielen. Im Mai 1967 erschienen 19 Mitglieder der Black Panther Party im Kapitol von Sacramento, um die Saaldiener und Abgeordneten zu erschrecken. Damals bezeichnete ein gewisser J. Edgar Hoover an der Spitze des FBI die schwarzen Panther „als größte Bedrohung der nationalen Sicherheit“.

Winkler erinnert aber auch an eine andere Sternstunde des Parlamentarismus vor fast exakt 40 Jahren in Madrid, als am 23. Februar 1981 der Oberstleutnant der Guardia Civil, Antonio Tejero, mit Leuten seiner Einheit das Parlament stürmte, um die Einsetzung von Leopoldo Calvo-Sotelo als Ministerpräsidenten zu verhindern. Tejero wollte das Militärregime eines Francisco Franco, der damals schon sechs Jahre tot war, zurückhaben. Tejero wurde damals rasch überwältigt. Der Verteidiger der Demokratie gegen den Putschversuch des Militärs? König Juan Carlos.