Kurz hatte entgegen ersten Plänen die Vorstellung des neuen Ressortchefs im Bundeskanzleramt um einen Tag auf Sonntag vorgezogen. Bereits zuvor hatten einige Medien berichtet, Kocher werde Aschbacher nachfolgen, teils ohne Angaben von Quellen. Am frühen Nachmittag bestätigte der Kanzler, Kocher werde neuer Arbeitsminister.
Kurz dankte zuerst Aschbacher erneut, die während der Pandemie gute Arbeit geleistet habe. Sie wolle mit ihrem Rücktritt ihre Familie schützen, das sei zu respektieren. Auch Aschbacher habe Anspruch auf eine faire Behandlung. Während und nach der Pandemie sei es notwendig, Österreich „zu alter Stärke“ zu führen, so Kurz. Das wolle er mit einem starken Team angehen. „Ich freue mich, dass ich mit Martin Kocher zusätzlich einen Topexperten gewinnen konnte“, so Kurz. Die Familien- und Jugendagenden soll künftig Frauenministerin Susanne Raab (ÖVP) übernehmen.
Unabhängiger Experte
Kocher sagte, die Anfrage, Minister zu werden, sei überraschend gekommen. In diesen Zeiten wolle er aber Verantwortung übernehmen. Es handle sich um die tiefste Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg, so Kocher. Jeder geschaffene Arbeitsplatz werde helfen, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Laut aktueller IHS-Prognose werde die Arbeitslosigkeit noch 2024 über dem Niveau von 2019 sein. „Das Ziel muss sein, das besser hinzubekommen“, sagte Kocher. Er wolle rascher zurückkehren auf den Wachstumspfad sowie den Standort stärken. Kocher sagte zudem, er komme als unabhängiger Experte in die Regierung.
IHS-Chef Kocher ersetzt Aschbacher
Nur einen Tag nach dem Rücktritt von Arbeitsministerin Christine Aschbacher (ÖVP) präsentierte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) ihren Nachfolger: Die Wahl fiel auf den parteilosen Salzburger Ökonomen und Chef des Instituts für Höhere Studien (IHS), Martin Kocher.
Angelobung am Montag
Dass die Arbeiterkammer (AK) bereits angekündigt hat, dem neuen Arbeitsminister angesichts der hohen Arbeitslosigkeit keine Schonfrist zu gönnen, nahm Kocher am Sonntag gelassen: „Es gibt keine Einarbeitungszeit. Wir werden voll mit heute Nachmittag losstarten und die Herausforderungen angehen.“ Bundespräsident Alexander Van der Bellen will noch am Sonntag ein erstes Gespräch mit dem Nachfolger führen, hieß es aus der Hofburg. Die Angelobung ist dann für Montag geplant. Kocher übernimmt vorerst noch alle Funktionen Aschbachers. Nach einer entsprechenden Änderung des Bundesministeriengesetzes wandert die Zuständigkeit für Familie und Jugend dann zu Raab ins Kanzleramt, was formal eine weitere Angelobung erfordert.
Der 47-jährige gebürtige Salzburger leitete seit September 2016 das IHS und ist seit Juni 2020 auch Präsident des Fiskalrats. Kocher ist kein ÖVP-Mitglied, die ÖVP bediente sich aber mehrfach seiner Expertise. Auch bei einer Regierungsklausur trat er schon auf. Während Aschbacher aus der steirischen ÖVP stammt, hat Kocher seine Wurzeln in Altenmarkt im salzburgischen Pongau.

Neben der Leitung des IHS und des Fiskalrats, womit er quasi Wächter über Österreichs Staatsschulden ist, lehrt Kocher auch an der Universität Wien. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit zahlreichen Themen aus dem Gebiet der experimentellen Verhaltensökonomie, die sich mit den psychologischen Grundlagen des ökonomischen Verhaltens befasst.
Martin Kocher im Porträt
Seit 2016 ist Martin Kocher Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Höhere Studien (IHS) in Wien. 2020 wurde Kocher als Nachfolger von Gottfried Haber zum Präsidenten des Fiskalrats bestellt. Er ist außerdem einer der aktivsten Forscher auf dem Gebiet der experimentellen Wirtschaftsforschung in Deutschland.
Dazu hat er auch zahlreiche Bücher und Artikel verfasst. So veröffentlichte er beispielsweise Arbeiten zum Einfluss von Zeitdruck auf individuelle Entscheidungen und über die Entwicklung von Präferenzen bei Kindern und Heranwachsenden. Auf dem Gebiet der Sportökonomik zeigte Kocher beispielsweise mit seinem Koautor Matthias Sutter, dass Schiedsrichter häufig zugunsten der Heimmannschaft urteilen, wenn diese zurückliegt.
Freundlicher Empfang
Dem neuen Minister wurde nach seiner Vorstellung ein überwiegend freundlicher Empfang zuteil. Lob gab es vom Koalitionspartner, den Grünen, sowie von der SPÖ und NEOS und auch vom Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB). „Herzlich willkommen“, sagte Vizekanzler und Grünen-Chef Werner Kogler. Kocher sei „ein kluger Ökonom und vorausschauender Experte“.
Der stellvertretende SPÖ-Klubchef Jörg Leichtfried meinte, dass Kocher in der Öffentlichkeit als Experte gelte. „Es wird jetzt seine Aufgabe sein, dieses Wissen einzubringen, um den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit mit aller Kraft aktiv zu führen.“
NEOS-Sozialsprecher Gerald Loacker lobte Kocher als Experten, dem er alles Gute wünsche. Er bedauerte, dass die Regierungsumbildung nicht für einen großen Wurf genutzt wurde, um auch die Gesundheits- und Sozialressorts neu zu organisieren. ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian begrüßte die rasche Entscheidung und gratulierte Kocher ebenso wie die Wirtschaftskammer und die Industriellenvereinigung.
Analyse von Dieter Bornemann (ORF)
Dieter Bornemann (ORF) analysiert die Entscheidung, Martin Kocher als Nachfolger für Christine Aschbacher einzusetzen.
Kritik kam aus der FPÖ. Während für FPÖ-Obmann Norbert Hofer die Qualifikation Kochers „ohne Zweifel“ feststehe und er dem neuen Minister alles Gute wünsche, kritisierte Klubobmann Herbert Kickl den neuen Minister als „beinharten wirtschaftsliberalen Theoretiker“.
Steirische ÖVP nimmt Personalie „zur Kenntnis“
Dass die Familien- und Jugendagenden nun zu Raab ins Frauenressort wandern, stieß bei der SPÖ auf Kritik: SPÖ-Frauenvorsitzende Gabriele Heinisch-Hosek kritisierte die Vermischung von Frauen- und Familienpolitik und warf Raab vor, schon als Frauenministerin untätig zu sein. Auch NEOS-Frauensprecherin Henrike Brandstötter hielt die Vermischung der beiden Themen für problematisch: „Frauenpolitik ist kein Beiwagerl der Familienpolitik.“
Die steirische ÖVP ist mit Aschbachers Abgang im Regierungsteam nicht mehr vertreten. Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer (ÖVP) hatte darauf gedrängt, dass die Nachfolge auch aus der Steiermark kommen soll. Am Sonntag sagte er der APA: „Das Regierungsteam der ÖVP ist Sache von Bundeskanzler Sebastian Kurz. Wir tragen seine sicher gute Entscheidung mit und nehmen sie zur Kenntnis.“
Aschbacher sieht Vorverurteilung
Kochers Vorgängerin Aschbacher war am Samstag zurückgetreten, nachdem Plagiatsvorwürfe laut geworden sind. Sie veröffentlichte eine persönliche Erklärung, in der sie ihren Schritt ankündigte. Die Vorwürfe, sie habe die Dissertation während der Amtszeit als Ministerin verfasst und vorsätzlich plagiiert, „sind Unterstellungen und weise ich zurück“, hieß es in einer persönlichen Erklärung. „Diese Arbeiten werden von den jeweiligen Instituten, wie bei jedem anderen auch, auf üblichem Weg geprüft. Ein solches faires Verfahren steht jedem in diesem Land zu. So wie es bereits anderen, etwa Thomas Drozda, Johannes Hahn oder Bogdan Roscic und anderen zugestanden wurde“, so Aschbacher.
Aschbacher betonte, ihre wissenschaftlichen Arbeiten „stets nach bestem Wissen und Gewissen verfasst“ zu haben, und kritisierte eine Vorverurteilung. Medien und politische Mitstreiter gestünden ihr aber eine solche Fairness nicht zu, sie werde „medial in unvorstellbarer Weise“ vorverurteilt. Davon sei auch ihre Familie betroffen, zum Schutz ebendieser lege sie ihr Amt zurück, so Aschbacher. Bundeskanzler Kurz habe sie in einem Gespräch informiert. Aschbacher ist die erste Ministerin dieser Regierung, die – fast auf den Tag genau ein Jahr nach ihrer Angelobung am 7. Jänner 2020 – die Politik verlassen muss. Zuvor war schon die grüne Staatssekretärin Ulrike Lunacek zurückgetreten.
„Wissenschaftliche Katastrophe“
Erst am Donnerstag waren die Vorwürfe publik geworden, Aschbacher habe in ihrer Diplomarbeit an der Fachhochschule (FH) Wr. Neustadt aus dem Jahr 2006 und ihrer Dissertation, abgegeben 2020, unsauber gearbeitet. Der Plagiatsjäger Stefan Weber prüfte beide Arbeiten. Zur Diplomarbeit schrieb Weber in seinem Blog, sie sei „eine einzige wissenschaftliche Katastrophe“ und ortete „Plagiate, falsche Zitate, mangelnde Deutschkenntnisse“.
Weber sah sich auch die Dissertation an, wie er gegenüber ORF.at sagte. Das Ergebnis: Mindestens 21 Prozent der Arbeit seien plagiiert. Demzufolge bestehe der Text zu 21 Prozent aus Textpassagen, die aus anderen Quellen übernommen wurden, ohne sie als Zitate auszuweisen. „Das ist ein sehr hoher Wert“, befand Weber, der zudem wegen der „systematischen Verschleierung“ indirekter Zitate von einer deutlich höheren Dunkelziffer ausgeht. Es gebe auch etliche „Stilblüten“, die er so „noch nie“ gesehen haben will. Dass ein Übersetzungsprogramm dafür verantwortlich ist, glaubt er nicht. „Die Programme sind schon so gut, dass sie solche Kunstsätze nicht produzieren.“
Die teilweise kaum noch verständlichen Sätze erwecken den Eindruck, als entstammten sie direkt einem automatischen Übersetzungsprogramm. Tatsächlich scheint das bisweilen der Fall zu sein. Puls24 berichtete etwa von einer Stelle, bei der augenscheinlich Teile eines „Forbes“-Artikels von Google Translate übersetzt und dann weitgehend unverändert in die Arbeit kopiert wurden. Darunter findet sich etwa die Feststellung: „Annahmen sind wie Seepocken an der Seite eines Bootes; sie verlangsamen uns.“
Aberkennung möglich
Sollte nun die niederösterreichische Hochschule zu dem Schluss kommen, dass schon der Magistergrad durch das Vortäuschen wissenschaftlicher Leistungen erschlichen wurde, wäre er wieder abzuerkennen. Eine Erschleichung ist erst dann anzunehmen, wenn einerseits Täuschungsabsicht vorliegt und andererseits „wesentliche Teile“ ohne entsprechenden Ausweis abgeschrieben wurden. Die Aberkennung des Magistergrads hätte dann auch für den PhD-Titel Aschbachers Folgen. Unklar ist aber, ob ein allfälliges Plagiat überhaupt zu einer Aberkennung eines im Vorjahr in der Slowakei erlangten Doktortitels führen kann. In dem Nachbarland ist die nämlich erst seit heuer möglich. Die Gesetzesänderung erfolgte nach einer Reihe von Plagiatsaffären in der slowakischen Politik.

Die Slowakische Technische Universität (Slovenska technicka univerzita, STU) will die Dissertation jedenfalls gründlich überprüfen. Das berichtete die liberale slowakische Tageszeitung „Dennik N“ am Samstag (Onlineausgabe).
Seltener Schritt in Österreich
In Österreich ist ein Rücktritt nach Plagiatsvorwürfen selten. Hierzulande nahm zuletzt nur der ehemalige steirische Wirtschaftslandesrat Christian Buchmann (ÖVP) wegen Plagiatsvorwürfen den Hut und wechselte in den Landtag und später in den Bundesrat. Buchmann war auch der einzige höherrangige Politiker, dem aufgrund eines Plagiats auch tatsächlich der akademische Titel entzogen wurde.
Beim bisher prominentesten Fall, dem damaligen Wissenschaftsminister und heutigen EU-Kommissar Johannes Hahn (ÖVP), wurde nach einer Prüfung dagegen kein wissenschaftliches Fehlverhalten festgestellt. Seine Arbeit habe zwar nach aktuellen Standards „nicht den Prinzipien guter wissenschaftlicher Praxis“ entsprochen, hieß es 2011. Da seine Dissertation aber bereits 25 Jahre davor eingereicht wurde, sei nicht mehr zu verifizieren, ob sie damals den an der Universität Wien geltenden Standards genügt habe. Auch bei Ex-Kanzleramtsminister Thomas Drozda (SPÖ) und Ex-Finanzminister Karl-Heinz Grasser (FPÖ/parteilos) wurde nach Prüfungen festgestellt, dass die Voraussetzungen für eine Aberkennung des Titels nicht vorlagen.