Am 14. Jänner 1908 präsentierte Wiesenthal erstmals gemeinsam mit ihren Schwestern ihren revolutionären Tanz. Auf der nur viereinhalb Meter großen Bühne des Theaterkabaretts Fledermaus sah man die zarte Tänzerin mit wallendem Haar und weiten Reformkleidern nicht auf starre Posen setzen, sondern als Schöpferin einer hoch dynamischen Walzerinterpretation.
„Wiesenthal befreite den Walzer damals aus dem strengen Korsett“, so fasste es die Tanzwissenschaftlerin Andrea Amort im ORF.at-Interview zusammen. Das prominente Publikum, darunter Hugo von Hofmannsthal und Gustav Klimt, zeigte sich begeistert, und auch die Presse fand Worte der Bewunderung: „Einen leisen Schimmer jener Stimmung“, die in einer „Kirche des Tanzes herrschen müsste“, urteilte der Autor Gustav Eugen Diehl damals in der Kulturzeitschrift „Erdgeist“.
Vorbotin des modernen Tanzes
Der berühmte Tanz, der im Wien des frühen 19. Jahrhundert das Menuett verdrängt hatte und durch Komponisten wie Johann Strauß und Joseph Lanner weltweit Verbreitung fand, war um die Jahrhundertwende „sehr taktbetont“ interpretiert worden, was von Wiesenthal keine Zustimmung fand. Die Tänzerin habe „die damalige Umsetzung als ein Hopsen nach dem Takt empfunden, aber kein Erfühlen der Musik“, erklärte Amort deren Erneuerungswunsch.
Die Tanztechnik spann das Drehmoment des Walzers weiter, der Oberkörper fiel aus der Achse, Rumpf und Arme wirbelten durch die Luft. Die radikal neue, expressive Bewegungssprache habe sie, so Amort, in Europa zur „Vorbotin des modernen Tanzes“ gemacht.
Inspiration aus Übersee
Geboren wurde Wiesenthal am 9. Dezember 1885 in Wien. Schon im Alter von sieben Jahren wurde sie Elevin des k. u. k. Hofopernballetts, mit 17 Solotänzerin. Inspiriert durch das progressive Umfeld ihres späteren Ehemanns, des Malers Erwin Lang, kündigte sie 1907 ihr Opernengagement, um zunächst mit ihren Schwestern, bald aber als Solotänzerin ihre eigenen Kreationen zu schaffen. „Es brach aus uns hervor, – jeder Tanz wurde wie ein Kind geboren, in Ekstase und dabei doch auch zweifelnd und staunend“, hielt sie 1909 in der Bühnenzeitschrift „Der Merker“ fest.
„Mit ihrem bewussten Hintersichlassen von eingelernten Vorstellungen war Wiesenthal sehr zeitfühlig“, so Amort. Die Inspiration kam damals von Übersee. Um die Jahrhundertwende hatte die US-Amerikanerin Loie Fuller mit wirbelnden Stoffbahnen in Wien für Furore gesorgt, Ruth St. Denis war mit orientalisch inspirierten Tänzen ebenso in die Stadt gekommen wie die zentrale Erneuerin des Tanzes Isadora Duncan.
Duncan, die das klassische Ballett als „tot“ bezeichnet hatte, hatte die ästhetische Revolution des modernen Tanzes bzw. Ausdruckstanzes überhaupt erst begründet. Die Bewegung suchte die Befreiung von bisherigen Konventionen und besann sich auf die „Ganzheit des menschlichen Seins“. Platz für Gefühle, Stimmungen und Persönlichkeit – all das, was im strengen Ballettregelwerk der Solotänzerin vorbehalten war, sollte der neue Tanz nun ermöglichen.
„Hohepriesterin der Freude und Ekstase“
Die amerikanischen Gastspiele bereiteten auch den Boden für Wiesenthals Erfolg. Vor allem nach dem Ersten Weltkrieg kam es in Wien zum fulminanten Aufstieg des Ausdruckstanzes; Bühnen mit bis zu 600 Plätzen waren regelmäßig ausverkauft.
Schon zuvor konnte Wiesenthal, die 1919 eine Tanzschule gründete, mit dem Schriftsteller Hofmannsthal, mit dem Theatermacher Max Reinhardt und für die Salzburger Festspiele arbeitete, international reüssieren. Bei ihrer New Yorker Performance 1912 feierte sie die Theaterzeitschrift „The New York Review“ gar als „Hohepriesterin der Freude und Ekstase“.
Die moderne Tanzbewegung hatte, im Gleichklang mit den Wiener Secessionisten, auch die Rückbesinnung auf Natürlichkeit und Natur zum Ziel und mit Wiesenthal eine Proponentin: Sie brachte den Tanz nach draußen, verband ihn mit der Natur. Zeugnis davon geben etwa die Bilder des Wiener Fotografen Jobst von 1908, die Wiesenthal etwa bei ihrer „Donauwalzer“-Interpretation von Strauß zeigen, mit weit ausholendem Schritt und tief nach hinten gebeugtem Oberkörper. Eine Novität auch für die österreichische Tanzfotografie.
Wiederentdeckung der Tanzpionierin
Während der moderne Tanz im Dollfuß-Regime noch gefördert wurde, kam 1938 mit dem Nationalsozialismus das jähe Ende. Wiesenthal engagierte sich als Unterstützerin ihrer jüdischen Freundinnen und Freunde, darunter die Tänzerin Lily Calderon-Spitz, der sie 1938 durch ihr breites Netzwerk bei der Emigration half.
Seit Jahren engagiert sich Amort um eine Wiederentdeckung der Tänzerin, die 1970 in Wien starb. 2019 kuratierte sie die Ausstellung „Alles tanzt. Kosmos Wiener Tanzmoderne“ im Wiener Theatermuseum, aktuell arbeitet sie mit ihren Studierenden an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien an einem Wiesenthal-Semesterschwerpunkt: Im Sommer sollen, wenn coronavirusbedingt alles gut geht, die überlieferten Choreografien der Tanzpionierin präsentiert werden.