Frau schaut aus dem Fenster
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Coronavirus-Krise

Neue Gesichter der Armut

Die Arbeitslosigkeit ist um weit über 20 Prozent gestiegen, viele Selbstständige haben kaum Aufträge, der Kulturbetrieb liegt lahm: Nun sind auch Menschen von Armut bedroht, die das vor Beginn der Coronavirus-Krise nicht für denkbar hielten. Drei Frauen erzählen ihre ganz persönlichen Geschichten – und Caritas-Wien-Chef Klaus Schwertner erklärt, warum sie verallgemeinerbar sind.

Viele Erzählungen über die schwierige Situation auf dem Arbeitsmarkt beginnen dieser Tage mit einem „Eigentlich“. Eine Kindergärtnerin verlor ihren „eigentlich“ krisensicheren Job und findet keinen neuen. Eine „eigentlich“ gut situierte, aufstrebende junge Geigerin hätte heuer „eigentlich“ durchstarten sollen – die Engagements waren da. Eine Frau, die sich nach Jahren der psychischen Probleme hochgekämpft hatte, gründete ein Unternehmen, das kurz vor dem ersten Lockdown „eigentlich“ gut anlief.

Sprach man vor der Krise mit Menschen, die davon bedroht waren, ihre Fixkosten nicht mehr bezahlen zu können, hörte man oft von einem langsamen Schlittern in die finanzielle Katastrophe. Judith Fritzl jedoch sieht man die Überraschung über den plötzlichen Jobverlust im vergangenen Jahr noch immer an, wenn sie darüber erzählt. Sie arbeitete in einem Privatkindergarten, der ihr zuerst monatelang den Lohn schuldig blieb und sie dann kündigte. Zweimal konnte sie die Miete nicht bezahlen. Nun ist sie von der Delogierung bedroht.

Coronavirus: Neue Gesichter der Armut

Die durch das Coronavirus verursachte Wirtschaftskrise trifft auch Menschen, die unter anderen Umständen niemals armutsgefährdet gewesen wären.

TV-Hinweis

Eine längere Fassung der Reportage ist am Montag um 21.10 Uhr in ORF2 in „Thema“ zu sehen

„Du bist machtlos“

Fritzl spricht über die Scham, die man empfindet, wenn man plötzlich arm ist: „Du bist machtlos, arm, klein, das letzte Glied in der Kette.“ Jobzusagen bekommt sie momentan nur für die Zeit „nach den Lockdowns“, die Delogierung droht aber jetzt. 37 Jahre ist sie alt, elf Jahre hatte sie im Privatkindergarten gearbeitet. Sich wegen eines Jobverlusts nach so langer Zeit nicht geschwächt zu fühlen, so Fritzl, sei ein Balanceakt. Die Zahl der Arbeitslosen steigt weiter, zeigen die offiziellen Daten von Dienstag: Derzeit sind 532.751 Personen auf Jobsuche, das sind um rund 112.000 oder 26 Prozent mehr als vor einem Jahr.

Kindergartenpädagogin Judith Fritzl
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Judith Fritzl muss derzeit erfahren, was es heißt, wenn sichere Jobs plötzlich nicht mehr sicher sind

Plötzlich auf die Eltern angewiesen

Ganz anders ist die Situation von Theresa Aigner. Vor der Delogierung muss sie sich nicht fürchten – aber sie hat ihre Selbstständigkeit verloren und ist auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen. Noch belastender ist der Blick in die Zukunft. Aigner absolvierte erfolgreich ein Studium der Geige. Eine Karriere in der Klassik ist kein leichter Weg, aber die Chancen standen gut. Für 2020 war eine Tournee mit ihrem Ensemble durch Japan geplant. Japan fiel flach, und auch sonst gab es coronavirusbedingt keine Engagements.

Laut Statistik Austria hatten Personen, die im Bereich „Kunst, Unterhaltung und Erholung“ arbeiten, Mitte 2020 im Schnitt um 41 Prozent weniger Arbeit als vor der Krise. Gerade jene, die nur von Auftritten leben, dürften noch viel stärker betroffen sein. Aigner hält sich, abgesehen vom Geld der Eltern, nun mit Onlinegeigenstunden mehr schlecht als recht über Wasser. Vom Härtefallfonds hat sie 5.000 Euro bekommen. Aigner sagt, die Coronavirus-Krise lasse sie ganz generell an ihrem Lebensplan zweifeln: „Soll ich vielleicht noch etwas anderes studieren?“

Theresa Aigner
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Theresa Aigner: Statt Japan-Tournee heißt es um Hilfsgelder ansuchen und Geld von den Eltern annehmen

„Wie schaffe ich das jetzt alleine?“

Die 52-jährige Bettina Riba wiederum ist alleinerziehende Mutter eines Sohnes und hatte endlich eine jahrelange psychische Krise inklusive 13 Spitalsaufenthalten nach der Trennung von ihrem Mann überwunden. Sie wollte 2020 mit ihrem Ein-Personen-Unternehmen durchstarten, als Beraterin und Helferin für – oft ältere – Menschen, die nicht gut mit dem Computer umgehen können. Es lief gut an, bis zum ersten Lockdown.

Gerade ältere Menschen hatten auch danach wegen des Coronavirus Angst, Fremde in ihr Haus zu lassen. Auftragslage: brachliegend. „Ich wusste nicht mehr: Wie schaffe ich das jetzt alleine?“, so Riba. Sie war plötzlich auf Caritas-Lebensmittelpakete angewiesen. 17 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher sind mittlerweile armutsgefährdet, darunter 303.000 Kinder – ein ungewöhnlich hoher Wert. Riba sagt, man müsse Hilfe annehmen, wenn man sie brauche.

Bettina Riba
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Bettina Ribas Unternehmen lief gerade an, als es durch die Krise auch schon wieder abgewürgt wurde

Seismograf der Gesellschaft

Gemeinsam ist den drei Frauen die Fassungslosigkeit über ihre Situation, die so plötzlich eintrat in einem Setting, in dem man sich sicher fühlte. Der Wiener Caritas-Chef Schwertner hat eine Zahl parat, die zeigt, dass gerade jene, die sonst nie in die Nähe von Armut geraten sind, jetzt von ihr betroffen sind. Im Vorjahr gab es bei Erstkontakten mit der Caritas ein Plus von 37 Prozent in der Steiermark, ein Plus von 41 Prozent in Niederösterreich und in Wien ein Plus von 15 Prozent, wobei es auch hier viel mehr gewesen wären, nur waren die Kapazitäten aufgebraucht.

Die Erstberatungsstellen sind ein Seismograf für die Gesellschaft. Sind sie überlaufen, stimmt etwas nicht. Schwertner sagt: „Je länger die Corona-Krise dauert, desto mehr Menschen geraten unter Druck.“ Besonders Fixkosten wie die Miete und Energiekosten werden plötzlich zum Problem, so Schwertner. Und da sei es besser, sich so früh wie möglich um Hilfe umzuschauen.

Säulengrafik über die Entwicklung der Arbeitsosenzahlen
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: AMS

Die Scham der Mittelschicht

Doch genau das falle jenen, die sonst nie gedacht hätten, einmal selbst betroffen zu sein von Armut, besonders schwer. Selbstständige und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der unteren Mittelschicht, die bis jetzt ein gutes Leben geführt haben: Für sie sei es besonders schambesetzt, wenn eine überraschende Notsituation auftauche. Umso größer sei gerade bei ihnen die Verzweiflung. Sie warten länger zu, sich Hilfe zu holen, und wissen oft gar nicht, wo man sich in so einem Fall hinwendet.

Viele Menschen, weiß Schwertner aus den Beratungen der Caritas, würden gerade ihr letztes Erspartes aufbrauchen, um Rechnungen noch bezahlen zu können. Gegen Ende des Monats, wenn das Geld ausgeht, muss die Caritas immer mehr Lebensmittelpakete ausgeben. 700.000 Kilogramm waren es insgesamt alleine in Wien 2020, ein deutlicher Anstieg.

Entwicklung der Arbeitsosenzahlen nach Bundesländern
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: AMS

Zuversicht bewahren – trotz allem

Was also tun? Zunächst einmal, so Schwertner: Wer bemerkt, dass Menschen in der Nachbarschaft, in der Verwandtschaft oder im Bekanntenkreis abzurutschen drohen, soll sie animieren, sich Hilfe zu holen. Die Nummer der östereichweiten Corona-Nothilfe-Hotline für Menschen in akuten finanziellen Krisen lautet 051776-300. Für die Betroffenen selbst heiße es: Zuversicht bewahren, Hilfe annehmen.

Und gesellschaftlich, so Schwertner, sei Solidarität jetzt wichtiger denn je. Das Letzte, was es brauche, sei eine Neiddebatte. Spenden würden jetzt noch dringender benötigt als sonst. Dass es in schwierigen Zeiten Zusammenhalt gibt, man denke an Hochwasserkatastrophen, habe Österreich schon öfter bewiesen. Es brauche aber auch einen sozialen und wirtschaftlichen Wiederaufbauplan. Das heißt laut Schwertner: Aktive Arbeitsmarktpolitik betreiben und den Sozialstaat so stärken, dass nicht noch mehr Menschen in die Armut abrutschen.

Politik soll für Gerechtigkeit sorgen

Das kostet, und die Kosten sollen laut Schwertner gerecht verteilt werden. Die Gerechtigkeit herzustellen, das liege in der Verantwortung der Politik. Nicht bei den ohnehin schon Ärmsten solle gespart werden, während Unternehmen mit Milliardenumsatz wie Amazon in vielen Ländern kaum oder keine Steuern zahlen.

Und schließlich nennt Schwertner noch seinen „Silberstreif am Horizont“ im Jahr 2021 – die Impfung: „Um soziale Folgen zu vermeiden und damit wir gut aus der Krise kommen, ist es wichtig, möglichst rasch eine hohe Durchimpfungsrate zu erreichen.“ Unter Coronavirus-Leugnern und Impfgegnern leiden am Ende des Tages die Ärmsten am meisten.