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APA/Barbara Gindl
CoV-Mutation

Experten klar gegen Lockdown-Lockerung

Die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie in Österreich dürften verlängert, möglicherweise sogar verschärft werden. Darauf verweisen Expertenaussagen nach einer Gesprächsrunde über die weitere Vorgangsweise mit der Regierung im Bundeskanzleramt. Eine zentrale Rolle für diese Einschätzung spielen die möglichen Auswirkungen der nun auch in Österreich nachgewiesenen CoV-Mutation B.1.1.7. auf die ohnehin weiter als zu hoch eingestuften Neuinfektionszahlen.

Die Rate der Neuinfektionen sei für eine Lockerung „aus unserer Sicht viel zu hoch“ und gehe auch „nicht mehr stark genug zurück“, sagte MedUni-Wien-Vizerektor Oswald Wagner am Samstagvormittag bei einer nach den Gesprächen mit der Regierung gehaltenen Pressekonferenz mit Verweis auf die laut AGES-Dashboard bei 137 liegende 7-Tage-Inzidenz. Laut Wagners Einschätzung müssten nun „Maßnahmen getroffen werden, diese Inzidenz deutlich zu senken“, betonte er. Ziel sei, diese auf „deutlich unter 50“ zu senken. Die 7-Tage-Inzidenz von 50 sei „deutlich ein Grenzwert“.

Als zielführende Maßnahmen stellte Wagner unter anderem eine generelle FFP2-Maskenpflicht, einen auf zwei Meter vergrößerten Mindestabstand, verpflichtendes Homeoffice und intensive Testungen in den Raum. Auf eine Journalistenfrage brachte Wagner dabei auch einen „generellen Lockdown ohne Ausnahmen“ ins Spiel.

MedUni-Wien-Vizerektor Oswald Wagner
ORF
Herwig Ostermann vom Forschungsinstitut Gesundheit Österreich, Oswald Wagner von der Medizinischen Universität Wien und der Virologe Andreas Bergthaler vom Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) traten nach den Gesprächen mit der Regierung vor die Presse

Auf eine Dauer wollte er sich nicht konkret festlegen, das sei eine politische Entscheidung, aber: „Ich denke, dass wir mit zwei oder drei Wochen dieses Ziel erreichen müssen.“ Erklärtes Ziel sei es schließlich, die Überbrückung der Zeit zwischen dem Lockdown und dem Greifen der Impfungen „ohne neuen Lockdown zu schaffen“.

Oswald Wagner: „7-Tage-Inzidenz für Lockdown-Ende zu hoch“

Oswald Wagner, Vizerektor für Klinische Angelegenheiten an der Medizinischen Universität Wien, zufolge ist die 7-Tage-Inzidenz für ein Ende des Lockdowns viel zu hoch.

Warten auf Entscheidung der Regierung

Eine Entscheidung über die weitere Vorgangsweise soll seitens der Regierung am Sonntag verkündet werden. Bereits am Freitagabend wurde nach einem Gespräch zwischen Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und den Landeshauptleuten klar, dass es wohl zu keiner Aufweichung der Maßnahmen kommen wird. Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser (SPÖ) erklärte im Anschluss an die abendliche Unterredung, er rechne mit der Verlängerung des Lockdowns „bis weit in den Februar hinein“. Lockerungen wird es seiner Ansicht nach nicht geben, auch die ab dem 25. Jänner angedachten Schulöffnung dürften seiner Einschätzung nach nicht kommen.

Bereits zuvor hatte auch der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) gesagt, er rechne mit neuen Verschärfungen. Ludwig begründet seine Annahme, dass der derzeitige Lockdown noch angezogen wird, mit der „Dramaturgie der letzten Tage“. Dabei verwies er etwa auf den Verdacht, dass es im Wiener Abwasser bereits Spuren der wohl deutlich ansteckenderen Virusvariante B.1.1.7 gebe. Wenn derlei seinen Weg in die Medien finde, deute das wohl auf Verschärfungen hin – mehr dazu in wien.ORF.at.

Warten auf offizielle Bekanntgabe

Nach dem nun Samstagfrüh erfolgten Expertengespräch, zu dem auch die Landeshauptleute zugeschaltet waren, stand am Vormittag im Kanzleramt noch ein Gespräch mit den Sozialpartnern im Kanzleramt auf der Agenda. Im Laufe des Tages soll nach Angaben aus dem Bundeskanzleramt eine weitere Videokonferenz mit den Landeshauptleuten geben. Mit der Verkündigung der Entscheidung über das weitere Vorgehen hinsichtlich des Lockdowns ist für Sonntagvormittag zu rechnen, für den späteren Vormittag ist eine Pressekonferenz im Kanzleramt in Aussicht genommen.

Wie stark die britische Virusvariante in Österreich verbreitet ist, wird in der nächsten Woche feststehen. Am Freitag wurde zunächst einer der Verdachtsfälle im steirischen Ausseerland bestätigt. Am Samstag bestätigte das Land Steiermark dann auch Medienberichte, wonach zwei Kinder aus Oberösterreich ebenfalls an dem mutierten Virus erkrankt waren.

„Neue Situation“

So wie andere Experten geht auch der an den Gesprächen mit der Regierung beteiligte Virologe Andreas Bergthaler vom Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) von einer bereits „großflächigen“ Verteilung der Virusmutation in Österreich aus.

Andreas Bergthaler: „Neue Variante großflächiger vorhanden“

Andreas Bergthaler vom Forschungszentrum für molekulare Medizin an der Akademie der Wissenschaften weist darauf hin, dass die neue CoV-Variante bereits großflächiger in Österreich vorhanden sei. Es sei daher nötig, neue Maßnahmen zu setzen.

Eindringlich warnte die Expertenrunde vor der nun auch in Österreich angekommenen neuen britischen Virusvariante B.1.1.7. „Wir wissen, dass sie wesentlich infektiöser ist als der bisherige Wildtyp“, sagte Wagner. „Es ist eine neue Situation“, hieß es von Bergthaler. „Das Virus ist infektiöser, darauf müssen wir eingehen.“

Gleichzeitig sagte Bergthaler, dass die bisherigen Maßnahmen grundsätzlich weiterhin geeignet seien, das Virus einzudämmen, auch die neue Variante. Da aber die Dynamik eine größere sei, müsse man eben überlegen, welche zusätzlichen Maßnahmen man ergreife. Denn die Zahlen seien insgesamt zu hoch, das belaste nicht nur das Gesundheitswesen und erschwere das Contact-Tracing, sondern berge auch die Gefahr weiterer Mutationen. „Wenn wir versuchen, die Zahlen runterzubringen, ist das unser Ticket, möglichst rasch zu einem Normalzustand zu kommen.“

Herwig Ostermann: „Ausbreitung und Infektiosität für Modellierung entscheidend“

Herwig Ostermann, Leiter von Gesundheit Österreich, erklärt, dass die Infektiosität und das Vorhandensein der neuen Variante des Coronavirus entscheidend sind.

TV-Hinweis

Der ORF ändert angesichts der jüngsten Coronavirus-Entwicklungen sein Programm. In ORF2 gibt es am Samstag von 21.50 Uhr bis 22.10 Uhr die ZIB2. Zur Pressekonferenz der Bundesregierung folgt am Sonntag zwischen 11.00 Uhr und 12.00 Uhr eine ZIB Spezial.

Weiter offene Fragen

Einig war sich die Expertenrunde schließlich in der Einschätzung, wonach man auch die Bevölkerung erneut auf die Dringlichkeit der Maßnahmen hinweisen müsse. Laut Wagner trage die Bevölkerung die derzeitigen Maßnahmen nicht mehr ausreichend mit. Die Kommunikation mit der Bevölkerung spiele eine zentrale Rolle, wie Herwig Ostermann vom Forschungsinstitut Gesundheit Österreich dazu noch anführte.

Laut Ostermann geht es angesichts der neuen Virusmutation auch darum, Zeit zu gewinnen. Denn man gehe derzeit davon aus, dass bei der britischen Mutation die Infektiosität um den Faktor 0,5 erhöht ist. Das ergebe bei einem derzeitigen Reproduktionsfaktor von rund 1 eine Verdoppelungszeit bei den Neuinfektionen von circa einer Woche bei der neuen Variante. „Man sieht eine sehr hohe Dynamik.“

Erich Neuwirth: „Müssen mehr tun“

Erich Neuwirth, emeritierter Professor für Statistik und Informatik an der Universität Wien, erkennt keinen Abwärtstrend bei der Reproduktionszahl. Seiner Meinung nach ist es daher notwendig, weitere Maßnahmen zu setzen, etwa eine FFP2-Masken-Pflicht.

Der bei der Pressekonferenz zugeschaltete Universitätsprofessor Erich Neuwirth verwies schließlich erneut auf die im Kampf gegen das Coronavirus nun verstärkt in den Fokus rückenden FFP2-Masken. Man müsse mehr tun, um diese „überall, wo Menschen zusammenkommen, vorzuschreiben“. Die anlaufende Impfung wecke zwar Hoffnung auf Entspannung, es werde dem Statistiker zufolge aber noch dauern, bis die Impfung auch in Zahlen erkennbar sei.

„Es braucht ein Datum“

Die Sozialpartner pochten nach ihrem Treffen mit der Regierung indes auf eine „klare Ansage“ und eine „Perspektive“ für das Wiederaufsperren nach dem Lockdown. „Es braucht ein Datum“, sagte Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer (ÖVP) nach dem Treffen im Kanzleramt. Klar sei, dass das nicht der März sein könne, sondern ein „deutlich früherer Zeitpunkt“.

Auch ÖGB-Chef Wolfgang Katzian forderte Klarheit, zur Homeoffice-Pflicht äußerte er sich skeptisch. Man habe zudem „klar gesagt, das Ganze bringt nur was, wenn man zum einen die Bevölkerung mitnimmt und zum anderen die Wirtschaft nicht kaputt macht“. Im Vordergrund stehe, dass man das Gesundheitssystem nicht überfordert, „aber wir müssen gleichzeitig die Maßnahmen so setzen, dass man die Wirtschaft nicht ganz ruiniert“.

Der Präsident der Industriellenvereinigung (IV), Georg Knill, signalisierte nach dem Treffen Bereitschaft, eine Lockdown-Verlängerung mitzutragen, sofern die produzierende Industrie weiter aufrecht bleiben kann. „Ich glaube, erst wenn wir gemeinschaftlich die Infektionszahlen zurückbringen, wenn wir das Virus besiegen, dann können wir alles wieder öffnen. Daher ist es jetzt notwendig, nochmals in einem gemeinsamen Kraftakt solidarisch zusammenzuhalten.“

Opposition fordert Klarheit und Transparenz

Die Opposition forderte mit Blick auf die anstehende weitere Vorgangsweise der Regierung unterdessen Klarheit und Transparenz. Türkis-Grün habe offenbar „leider immer noch keinen langfristigen Plan“, meinte SPÖ-Gesundheitssprecher Philipp Kucher angesichts der zunächst noch ab 25. Jänner in Aussicht gestellten Lockerungen. Die SPÖ habe immer gesagt, dass die Infektionszahlen entscheiden müssten „und nicht irgendwelche PR-Überlegungen im Kanzleramt“.

„Mehr Ehrlichkeit und klare Ansagen“ seitens der Regierung, damit die Menschen die Maßnahmen verstehen und mitziehen, fordete auch NEOS-Gesundheitssprecher Gerald Loacker ein. Es brauche klare Kriterien und auch einen klaren Zeitraum – „auch wenn das keine guten Nachrichten bedeutet“. Sollte die Regierung den Experten folgen und den Lockdown verschärfen, müsse sie die zugrunde liegenden Daten offenlegen.

FPÖ-Chef Norbert Hofer hält es „trotz aller Bedenken“ der Experten – deren Stellungnahmen er „nicht bezweifle“ – doch für den besseren Weg, den Lockdwon rasch zu beenden und ein Wirtschaften und Arbeiten unter klaren Auflagen zu ermöglichen. Denn in die Rechnung der Spezialisten sei wohl nicht der „zivile Ungehorsam“ eingeflossen. Der Lockdown werde zu einem Anstieg privater Treffen führen, weil die Menschen die soziale Isolation „einfach nicht mehr aushalten“, wie Hofer dazu noch sagte.