Robert de Montesquiou in einem Porträt von Giovanni Boldini
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Julian Barnes, der Brexit & die Belle Epoque

Was haben der Brexit und die Belle Epoque zwischen 1870 und 1914 gemeinsam? Nichts, könnte man sagen. Alles, würde Julian Barnes dagegenhalten. Gegen den Wunsch seiner Heimat, sich auf eine Insel zurückzuziehen, lässt Barnes, der gerade seinen 75. Geburtstag begeht, in seinem jüngsten Buch eine Parade von Exzentrikern aus der Belle Epoque aufmarschieren. Paris und London – sie konnten nicht ohneeinander existieren, ist sich Barnes sicher. Zwischen 1870 und 1914 war der Kulturtransfer zwischen beiden Städten eine der wichtigsten Triebfedern der Moderne. Nicht nur in der Kunst. Manchmal waren es kleine Spitzen und große Provokationen, die beide Orte aneinanderbanden.

„Der Mann im roten Rock“ ist der Titel von Barnes’ jüngstem Buch, das sich auf eines der bekanntesten Bilder der späten Belle Epoque bezieht: John Singer Sargents Porträt des legendären französischen Arztes Samuel-Jean Pozzi. Der Autor will es vor Jahren im Rahmen einer Sonderausstellung in der Royal Portrait Gallery gesehen haben. Und es ist für ihn der Ausgangspunkt, um über zentrale Gestalten der Belle Epoque hüben wie drüben (vor allem drüben – jenseits des Ärmelkanals) nachzudenken – und sich einige Gedanken mehr über den Zustand Europas zu machen.

Barnes berauscht sich an einem der Themen, die in der Kulturgeschichte seit Heinrich von Kleists Briefen von der Seine und Walter Benjamins „Passagenwerk“ nur zu gern abgehandelt wurden: einer Auseinandersetzung mit dem Mythos und dem Motor Paris. Paris war im 19. Jahrhundert die Hauptstadt für so viele Disziplinen – und doch lebte sie davon, dass nicht zuletzt Fremde das Bild der Stadt belebten – und in stets neues Licht setzten. So wimmelt es in diesem wieder einmal großartigen, weil auch mit viel Herzblut und intellektueller Verve geschriebenen Werk von étrangers, die das Paris des späten 19. Jahrhunderts aufmischten. Tief drinnen: Oscar Wilde, der in Paris zwar den großen Willen zur Exaltiertheit leben wollte (und für seinen Französismus noch vor einem Londoner Gericht „bluten“ sollte), aber, wie Barnes genüsslich zeigt, einmal in der Champions League der Avantgarde mithalten musste.

John Singer Sargent: Dr. Pozzi at Home
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Im roten Mantel auch ein wenig die Conchita Wurst des späten 19. Jahrhunderts: Samuel-Jean Pozzi, in der Darstellung von John Singer Sargent. Sargent war einer jener Amerikaner, die europäischer sein wollten als die Europäer, auf sie aber doch mit der nötigen Distanz blickten.

Ein Hauch von Proust – mit dem Blick nach vorn

Barnes, so scheint es, schlüpft ein bisschen in die Rolle des Erzählers aus Marcel Prousts „Recherche“ und lässt jene Figuren aufmarschieren, die aus dem Tableau der Belle Epoque herausstechen. Das ist neben Pozzi nicht zuletzt der Graf Robert de Montesquiou, dessen Porträt noch heute die Ausgaben von Huysmans „A rebours“ (deutsch: „Gegen den Strich“) zieren – aus dem simplen Grund, dass man Huysmans Hauptfigur Des Esseintes einfach für Montesquiou gehalten hat. Auch Proust wird in seiner „Recherche“ ohne das Modell Montesquiou nicht auskommen: Der Comte de Charlus ist nach dem realen Montesquiou modelliert, auch wenn Proust das gegenüber dem „professeur de beauté“ stets abstritt.

Doch anders als Proust schaut Barnes nicht sentimental oder zeitvergessen auf die Epoche des exzentrischen Paris (er hat auch den Vorteil der Distanz, während der fiebrige Bub aus Auteuil einmal aus dem Schatten seines Vaters Robert Proust finden musste). Barnes will die Energie einer Zeit rekonstruieren. Und so schreibt er dieses Buch beinahe atemlos, so sehr fasziniert ihn die Energie von Paris, der Geist der Avantgarde, der Kunst und Leben so verzahnt, dass Strafprozesse über Kunstwerke geführt werden müssen, weil sie für das Abbild des Lebens gehalten werden.

Zwei Bilder aus dem Buch von Julian Barnes mit Robert de Montesquiou und Oscar Wilde
Screenshot Kiepenheuer & Witsch
Das große Fest für die Dandys: Robert de Montesquiou und Oscar Wilde im Werk von Julian Barnes

Vor allem sieht Barnes aber mit einem Hauch von Trauer auf eine Zeit, da Städte und Länder ein beinahe dialektisches Verhältnis zueinander hatten. Paris und London sind gerade wegen ihrer Unterschiedlichkeit, ja auch wegen einer verzahnten kriegerischen Geschichte seit dem späten Mittelalter Orte, die nicht ohneeinander können. Wenn Barnes an Afrikaexpeditionen der Franzosen des späten 19. Jahrhunderts erinnert, dann erinnert er auch an die Schmach der Franzosen, selbst bei ihrem Kolonialismus in der Wüste an Orte zu stoßen, wo man zwar einen schönen französischen Lustgarten anlegen mag, einem aber am Ende doch der Brite das Terrain streitig macht – und zum Abschied des Franzosen noch die Marseillaise spielt.

Das Buch:

Cover des neuen Julian Barnes
Kiepenheuer & Witsch
Julian Barnes: Der Mann im roten Rock, übersetzt von Gertraude Krüger. Kiepenheuer und Witsch, 304 Seiten, 23,55 Euro.

Tour ohne Ziel

Barnes schickt drei Franzosen auf eine Einkaufstour nach London. Er reflektiert über die großen Mentoren dieser Kulturreisen, etwa den Amerikaner Henry James, der die Europäer im Großbürgerlichsein komplett in den Schatten stellt, weil er die Attitüde der Lebenskunst beherrscht, ohne sich um den Unterschied von Adel und Bürgertum scheren zu müssen.

In gewisser Weise kommen diese drei Reisenden, zwei Adelige und ein Bürgerlicher, nie an ihrem Zielort an, weil sich der Brite Barnes so an der Exaltiertheit der französischen Kultur fasziniert. Ohne Europa, so könnte man den Subtext dieses Werkes lesen, wäre die Welt der Reflexion auf einer Insel sehr eindimensional. Barnes hätte das ebenso gut am 18. Jahrhundert demonstrieren können, wo England und Frankreich noch viel mehr Lunte für ein Aufsprengen klassischer Ordnungen gelegt haben.

Er tut es hier bewusst am Beispiel einer Zeit, in der sich handelnde Figuren durch alle Disziplinen schleichen. Da ist der Arzt, der die Oberschicht mit den neuesten Kenntnissen der Medizin von schweren Leiden befreit, um sie auch im späteren Alter fit für die Ausgelassenheit des gesellschaftlichen Lebens zu halten. Da sind die Grenzgänger wie Montesquiou, die alle Rollenmuster so auf die Probe stellen, dass die Gender-Debatten des späten 20. Jahrhunderts wie ein Hort artiger Einteilungsversuche dastehen.

Bild von Julian Barnes in einem Lokal
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Julian Barnes, am 19. Jänner 75

Der Humus der Moderne

„Merrie England, das Goldene Zeitalter, la Belle Epoque: Solche Markennamen werden immer im Nachhinein geprägt“, ist sich Barnes sicher: „Die Schöne Epoche war eine Periode neurotischer, ja hysterischer nationaler Angst, gezeichnet von politischer Instabilität, Krisen und Skandalen.“ Barnes macht sich keine Illusionen. Zugleich beschreibt er jenen Humus, auf dem die Moderne gewachsen ist – ebenso wie die Weiterentwicklung des tieferen Bildes von Menschen in der Medizin.

Wenn so oft die Rede ist von der Vorgängerleistung der Avantgarde für den Blick der Medizin und Psychologie auf den Menschen: Bei Barnes kann man alle Triebfedern entdecken. Der Brite nimmt sich kein Blatt vor den Mund, wenn er auf Details und Grenzüberschreitungen der Belle Epoque schaut. Frivolität ist eine Frage der Perspektive, könnte man mit Barnes schließen. Und wie man sich zu einer Epoche positioniert, um sie erlebbar zu machen, das kann eine Stärke gerade des geschriebenen Buches sein, könnte man nach der Lektüre dieses Werks schließen. Barnes hat einen Leitbegriff zu dieser Phase europäischer Kultur: Sie sei flamboyant gewesen.

Man darf, in der Art, wie dieses Buch gestaltet ist, an ein anderes Werk dieser Bauart denken: W. G. Sebalds „Austerlitz“. Während Sebald eine Person vor sich hatte in dieser collageartigen Versuchsanordnung zwischen allen Genres, will Barnes eine ganze Epoche in den Blick nehmen. Das ist zwar wahnwitzig. Doch mit Barnes lässt man sich auch bei dieser Unternehmung gerne wegtragen – selbst wenn man an den Nachttöpfen der Spargelesser vorbeiziehen muss. Was habt ihr, wird Barnes dann unschuldig fragen. Es ist doch bloß ein Malarmé-Zitat.