Demonstranten in weißen Schutzanzügen auf dem Wiener Heldenplatz
Georg Hochmuth / APA / picturedesk
Hygienepolitik

Macht und Ohnmacht im Pandemiestaat

Dass eine Pandemie die Eingriffsmacht des Staates ausweitet wie in Zeiten fundamentalster Not, wird von vielen Bürgerinnen und Bürgern als Zumutung empfunden. Wer die Proteste gegen die „Corona-Maßnahmen“ betrachtet, sei es auf der Straße, sei es in Foren in Sozialen Netzwerken, wird immer auf ein sehr uneinheitliches Bild stoßen, aber klare Stoßrichtungen gegen den Staat und seine „Systemmedien“ finden. Der Staat dürfe gerade zu viel, lautet der oft gehörte Vorwurf. Der „Hygienestaat“, wie er auch oft genannt wird, beruft sich seinerseits wiederum auf den Auftrag, Leben zu sichern – wofür ihm ja die Bürger den Auftrag gegeben hätten.

Das Konzept der „Bio-Politik“ ist zu einem der großen Modebegriffe in den Humanwissenschaften der letzten 25 Jahre geworden. Was in den 1960er Jahren in den Hörsälen der Begriff „Ideologiekritik“, das wurden in den letzten Jahrzehnten die Wortpaare „Bio-Macht“ und „Bio-Politik“. Schlüsselantrieb hinter dieser Begrifflichkeit sind postum herausgegebene Vorlesungen des französischen Philosophen Michel Foucault am College de France aus den 1970er Jahren. Foucaults Studien zur „Geburt der Klinik“ und den Maßnahmen zur Institutionalisierung von Gesundheitspolitik durch den Staat samt den Entscheidungen, wer in den Kliniken und damit nicht mehr in der Gesellschaft ist, hat eine ganze Serie von Forschungen inspiriert, die sich allesamt auf die Maßnahmen des modernen Staates im Umgang mit den Themen Hygiene und Gesundheit richten.

Von einer Politik der Disziplinierung ist in dieser Forschung zu lesen. Disziplinierungsstaat. Bei der Betrachtung des Staates wiederum liegt die Begründung für alle Maßnahmen in seiner Funktion, gerade nach 1945 und aus den Lehren des Zweiten Weltkriegs, Leben zu geben und zu sichern. Tatsächlich, so könnte man sagen, sind die Forschungen zur „Bio-Politik“ erneut Betrachtungen zur Ideologie oder Grundüberzeugung des Staates, der ja als Souverän den Willen seiner Bürger verwirklichen will.

In der Coronavirus-Krise aber zeigt sich: Viele Bürger sehen ihren Willen nicht mehr durch die Maßnahmen des Staates verwirklicht. Angetrieben nicht zuletzt durch die Forenkultur Sozialer Netzwerke entsteht das Bild von Öffentlichkeiten, die die Maßnahmen des Staates aus den unterschiedlichsten Gründen ablehnen und diese Ablehnung als Protestform auf die Straße tragen.

Mann demonstriert in irrer Clownmaske auf dem Wiener Ring
Hans Ringhofer / picturedesk.com
„Ihr“ und „wir“ und die immer so leichte Scheidung, wer dahintersteht: „Wir“, das Volk? „Ihr“, der Staat? Bilder von der Demonstration gegen die CoV-Maßnahmen am 16. Jänner in der Wiener Innenstadt

Wer gibt den Auftrag?

Dieser Widerspruch ist, historisch betrachtet, in der Anlage des modernen Staates begründet: Bürger und Bürgerin erleben sich grundsätzlich als gleich, können sich aber selbst gerade im Unterschied zu den anderen denken: Warum werden alle Maßnahmen über einen Kamm geschoren, fragen sich etwa Bürger gerade in einer Situation, wo sie sich von den Auswirkungen des Coronavirus weniger betroffen fühlen als von anderen Folgen der Pandemiebekämpfung? „Die Autorität des bürgerlichen Subjekts beruht darauf, dass es sich als ein Selbiges, das ‚Selbst‘, denken kann“, formuliert etwa die US-Philosophin Naomi Scheman einen Widerspruch in der Konstruktion zwischen individuellem, gesellschaftlichem und rechtlichem Ich.

„Warum schließen sich die Individuen zusammen, auf der Ebene des Gesellschaftsvertrages, um zu verhandeln, d. h., um einen Souverän zu konstituieren, um einem Souverän die absolute Macht über sich zu übertragen?“, so fragt auch Foucault zum Ausgangspunkt jener Staatskonstruktion, die ab dem 19. Jahrhundert den Hygienestaat umsetzt – und ihn nach 1945 zur Vollendung bringen wird. Seine Antwort folgt sogleich: Um das eigene Leben zu schützen, ja, „um Leben zu können“, konstruiere man diesen Souverän, so Foucault zum Gedanken der Staatsgründung im 18. Jahrhundert.

Der endemische Volkskörper

Die Triebfeder für diesen Gedanken versteht man auch, wenn man auf den Zustand des kollektiven Körpers dieser Zeit schaut. Und da waren für breite Schichten Krankheiten und Seuchen so etwas wie ein Dauerzustand. „Gegen Ende des 18. Jahrhunderts geht es nicht um Epidemien, sondern um etwas anderes, das man Endemien nennen könnte, d. h. die Form, Natur, Ausdehnung, Dauer und Intensität der in einer Bevölkerung herrschenden Krankheiten“, so Foucault in seiner Vorlesung am College de France.

Als der Dichter Heinrich von Kleist im Jahr 1801 die Stadt Paris, die schon damals für den Betrachter unermesslich wirkte, besuchte, stellte er fest, dass die Schönheiten des Ortes nicht über die Niederungen des Alltags in der Metropole hinwegsehen lassen: „Es ist etwas ganz Gewöhnliches, einen toten Körper in der Seine oder auf der Straße zu finden. Ein solcher wird dann in einem an dem Pont St. Michel dazu bestimmten Gewölbe geworfen, wo immer ein ganzer Haufe übereinander liegt“, schreibt er am 16. August 1801 an Luise von Zenge.

TV-Hinweis

„Wie hoch ist der Preis der Krise?“ Darüber diskutiert man am Sonntag in „Im Zentrum“, 22.10 Uhr, ORF2. Mehr dazu in tv.ORF.at.

Das Aufkommen der Hygienepolitik

Die durchschnittliche Lebenserwartung 1800, so erinnert der Historiker Jürgen Osterhammel in seiner Geschichte des 19. Jahrhunderts, sei bei 30 Jahren gelegen. Städte etwa seien am Beginn des 19. Jahrhunderts permanente Brutstätten von „Gesundheitsrisiken“ gewesen, so Osterhammel: „Es waren dabei nicht konzentriert auftretende Epidemien, sondern die ‚normalen‘ in den jeweiligen Lebensumständen nistenden Krankheiten, die die meisten Opfer forderten.“

Gegen diese schon endemischen Lebensumstände beginnen die meisten Länder spätestens ab 1850, auch getrieben von wirtschaftlichen Interessen (damit die Menschen länger im Arbeitsprozess in der sich industrialisierenden Gesellschaft zu halten sind), systematisch eine öffentliche Gesundheitsfürsorge aufzubauen und eine nachhaltige Hygienepolitik umzusetzen. Jene Staaten, die dazu in der Lage waren, prosperierten, und so ging die Schere zwischen den wohlhabenden und weniger wohlhabenden Staaten gerade in der Zeit zwischen 1820 und 1913 am stärksten auf.

Ansicht des Allgemeinen Krankenhauses in Wien in einem Kupferstich aus dem Jahr 1793
Wien Museum / Imagno / picturedesk.com
Die Geburt der modernen Klinik: Das unter Joseph II. errichtete Allgemeine Krankenhaus in Wien, hier in einer Kupferstichansicht aus 1793

Epidemien als Herausforderung

Zentrale Wasserversorgung, Einrichtung von Krankenhäusern, die nun die Gesundung des Menschen (und nicht wie in der frühen Neuzeit die Unterbringung der nicht mehr Rettbaren) zum Auftrag hatten, die Erkenntnisse eines Ignaz Semmelweis im Bereich der Desinfektion und von Louis Pasteur zur Mikrobentheorie sind beispielhafte Bausteine einer immer rigoroser werdenden Hygienepolitik. Dennoch werden die Staaten weiter von Epidemien getroffen. An der weltweiten Grippeepidemie von 1918 (der so genannten „Spanischen Grippe“) starben nach Schätzungen 50 bis 100 Millionen Menschen, also deutlich mehr als im Weltkrieg davor.

Bücher zum Thema

  • Michel Foucault: „In Verteidigung der Gesellschaft“
  • Jürgen Osterhammel: „Die Verwandlung der Welt“
  • Heinrich von Kleist: „Sämtliche Briefe“

Die vom englischen Landarzt Edward Jenner 1796 entwickelte Schutzimpfung gegen Pocken zeigte, so Osterhammel, „dass die Vakzination nur bei Zwangsimmunisierung letztlich der ganzen Bevölkerung zur Verdrängung der Seuche führen würde“. Staaten mit zentralistischer Organisation oder „modernisierungsorientierten autoritären Herrschaftsformen“ hätten sie besonders schnell umgesetzt. Und Impfgegner gab es schon das gesamte 19. Jahrhundert hindurch, sodass Impfkampagnen noch größere Auf und Abs erlebten, als man das im 20. Jahrhundert kannte.

Bahnreisende in Frankreich werden in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in Frankreich mit Karboldämpfen gegen Typhus „desinfiziert“
akg-images / picturedesk.com
Bahnreisende im Frankreich des Jahres 1884: Hier werden sie bei der Ankunft Karboldämpfen ausgesetzt. Man suchte eine Form der Desinfektion gegen die Ausbreitung der Cholera.

Interventionen zugunsten des Lebens

Für den Historiker und Philosophen Foucault ändert und erweitert sich mit der „Bio-Politik“ des 19. Jahrhunderts die bisher bekannte Rechtstheorie, die einen Vertrag zwischen Individuum und Gesellschaft vorgesehen hätte. Nun tauche das Prinzip der „Bevölkerung“ auf, das zum Maßstab der Dinge werde. Nicht die Disziplinierung, aber die „Regulierung“ aller biologischen Prozesse der Menschengattung sicherzustellen, dieser Aufgabe stellten sich die Staaten fortan. Hatte der Souverän früher die Macht, das Leben zu nehmen, so entstehe die Erwartung, dass der Souverän „Leben mache“. Die Macht bestehe nun immer darin, „zugunsten des Lebens zu intervenieren und auf die Art des Lebens und das ‚Wie‘ des Lebens einzuwirken“.

Möglicherweise ist es gerade diese Form der Intervention zugunsten des Lebens, die dem Staat ja ein besseres Wissen über die Gesamtzusammenhänge gegenüber dem Einzelnen unterstellt, die den Ausgangspunkt für Konflikte markiert. Die Erkenntnisse aus den Zuständen des 18. Jahrhunderts, erinnert Foucault, hätten zur Einrichtung einer Medizin geführt, „deren Hauptaufgabe in der öffentlichen Hygiene liegt“ – mitsamt der Koordinierung der medizinischen Versorgung. Einen im Zuge dieser Vorkehrungen wichtigen Punkt nennt Foucault auch: „die Zentralisierung der Information“. Diese bleibt seit damals eine Aufgabe des Staates – nicht aber seiner Medien.