Russischer Oppositionspolitiker Alexei Nawalny
Reuters/Shamil Zhumatov
Nawalnys Rückkehr

Unter Lebensgefahr gegen Putins Kalkül

Seine Rückkehr nach Russland hat Kreml-Kritiker Alexej Nawalny jüngst weltweit Beachtung eingebracht. Und das umso mehr, weil er ein paar Monate davor zur Behandlung einer Vergiftung mit dem Kampfstoff Nowitschok nach Berlin gebracht worden war. Zurück in Russland wurde er nun gleich nach seiner Ankunft festgenommen, verurteilt und inhaftiert. Doch die russische Führung kann über diese Entwicklung kaum erfreut sein.

So ist Nawalny trotz der im Vorfeld wiederholt geäußerten Drohgebärden aus Moskau nach Russland zurückgekommen. Ein Schritt Nawalnys, den die russische Führung aber jedenfalls habe verhindern wollen, analysiert Gerhard Mangott, Politologe an der Universität Innsbruck, gegenüber ORF.at. Dass Nawalny trotz Lebensgefahr Russland nicht fernblieb, sollte Kalkül und Erwartungen Putins durchkreuzen, meint er.

Ähnlich sieht das Susan Stewart – sie ist Leiterin der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. "Es gibt in Russland derzeit nicht viele, die bereit sind, so weit zu gehen, sagt sie im Gespräch mit ORF.at. „Man braucht auch Mut dazu.“ Ein Verbleib im Ausland hätte ihn marginalisiert, das sei bei anderen Akteuren zu sehen – etwa beim ehemals vielbeachteten Putin-Gegner Michail Chodorkowski, der heute in London lebt.

Russischer Oppositionspolitiker Alexei Nawalny wird festgenommen
APA/AFP/Alexander Nemenov
Nawalny nach seiner Verhaftung in einer Polizeistation nahe Moskau am Montag – medial weltweit vielbeachtet

Ein „Schub“?

Rückkehr und Verhaftung seien ein „Schub“ für Nawalny gewesen, insbesondere international sei er dadurch bekannter geworden, sagt Mangott. Doch hält der Experte diesem Umstand die begrenzte Popularität Nawalnys im eigenen Land entgegen: Dort sei der Kreml-Kritiker durch die jüngsten Entwicklungen zwar bekannter geworden – „doch es ist immer noch so, dass ihn ein Fünftel der Bevölkerung gar nicht kennt, weil er medial totgeschrieben wird“, so Mangott.

Ob Nawalnys Rückkehr auch nachhaltig ein „Schub“ für seine Aktivitäten sein kann, sei noch nicht klar, meint die Berliner SWP-Expertin Stewart gegenüber ORF.at. Man könne noch nicht sagen, ob er angesichts möglicher längerer Inhaftierung überhaupt aktiv werden könne. „Auch kommt es sehr darauf an, was seine Gefolgschaft tun wird oder tun kann“, ein Signal an Anhängerinnen und Anhänger sei Nawalnys Rückkehr aber jedenfalls – und seine Präsenz ein „Ansporn“.

„Größere Zahl der Russen lehnt ihn ab“

In Russland sei Nawalny jedenfalls eine „polarisierende Figur“, so Mangott. Zwar habe er dort eine wachsende Zahl an Anhängerinnen und Anhängern, doch „eine noch größere Zahl der Russen lehnt ihn und seine Tätigkeiten ab“. Das zeige sich auch daran, dass nur 15 Prozent der Russinnen und Russen glauben, dass Nawalny durch den Staat vergiftet wurde – demgegenüber seien 50 Prozent der Ansicht, „dass er das selbst inszeniert hat oder dass Geheimdienste dahinterstecken“, sagt der Politologe.

Geheimpalast des russischen Präsidenten Wladimir Putin
AP/Navalny Life youtube channel
Mit Schmiergeldern in rauen Mengen soll sich Putin Nawalnys Recherchen zufolge einen riesigen Palast bauen lassen haben – aus dem Kreml kommt ein Dementi: „Unsinn“, sagt Putins Sprecher Dmitri Peskow.

Die russische Führung werde nun wohl versuchen zu „verunmöglichen, dass er wieder politisch aktiv wird“, glaubt Stewart. Keinesfalls solle Nawalny nach Bestreben des Kreml wieder Kandidat bei einer Wahl werden, aus Sicht der Führung käme womöglich Hausarrest als geeignetes Mittel infrage, um seine Präsenz zu unterbinden, so die Expertin. Das würde im Westen womöglich nicht für so großen Wirbel sorgen, dennoch könne er dadurch an einer offensiveren Rolle im Land gehindert werden.

In Russland „differenzierteres“ Bild als im Westen

Im Westen sei Nawalny deswegen so hoch angesehen, weil er das Ziel des Westens verfolge – „nämlich Putin von der Macht zu verdrängen und einen Regimewechsel herbeizuführen“, so Mangott. Nawalny verfüge über „Sendungsbewusstsein“, das ihn antreibe, genau dieses Ziel innerhalb Russlands zu verfolgen, glaubt Mangott. Doch nehme man seine Positionen in Russland „viel differenzierter“ wahr als im Westen, sind sich Mangott und Stewart einig.

Ein Problem habe Nawalnys Rolle: Er kämpfe nicht für ein politisches Anliegen, sondern stets gegen etwas, sagt Stewart sinngemäß – etwa gegen die politische Führung oder gegen Korruption. „Es ist keine positive, sondern immer nur eine negative Agenda“, so Mangott. Auch sei er politisch verortet: „In der Vergangenheit hat er an nationalistischen Märschen teilgenommen“, so Stewart – laut Mangott habe er sich von „rechtsnationalistischen Positionen“ nie distanziert.

Nawalnys Programm „sehr dünn“

Und: Sein politisches Programm sei „leer“ bzw. „sehr dünn“, gespickt mit „viel Sozialpopulismus“, er liefere „keine Idee, wie man etwa die russische Wirtschaft wieder in Gang bringen oder die sozialen Probleme lösen könnte“, so Mangott gegenüber ORF.at. Über populistische Formulierungen a la „Erhöhung der Reallöhne“ oder „Erhöhung der Pensionen“ komme Nawalny nicht hinaus. Zustimmung erhalte er nur für sein grundsätzliches Ziel – Putin von der Macht zu verdrängen.

Alexei Nawalny im Krankenhaus in Berlin
APA/AFP/Handout
Dieses Bild von Nawalny, umringt von Familienmitgliedern, aus der Berliner Charite wurde Mitte September 2020 über dessen Instagram-Kanal verbreitet. Es war das erste Bild Nawalnys nach seiner Vergiftung.

„Kindischer“, „ungeschickter“ Umgang mit Opposition

Und doch zeigt auch die russische Führung Unsicherheit im Umgang mit Nawalny: „Die Tatsache, dass Putin den Namen Nawalny nicht in den Mund nimmt, sondern dies immer vermeidet, wirkt eher kindisch“, meint Expertin Stewart. Damit werde Nawalny „noch mehr Bedeutung“ verliehen, die russische Führung gehe "ziemlich „ungeschickt mit ihm um“. Generell existiere in Russland „fast so eine Art Paranoia in Bezug auf alles, was mit Opposition zu tun hat“, so Stewart.

Auch dadurch habe die russische Führung wohl noch keine endgültige Entscheidung getroffen, wie man weiter mit Nawalny umgehen solle – laut Mangott entzweien sich hier die Meinungen: Geheimdienste und Innenministerium wollten ihn nun sehr lange inhaftieren, abschotten und damit seine Strahlkraft reduzieren. Die liberalen Teile der Regierenden würden hingegen eine Radikalisierung befürchten, sollte Nawalny länger inhaftiert bleiben, glaubt Mangott.

Breiter Protest auf der Straße?

Dass aus den Entwicklungen eine neue Protestbewegung auf der Straße erwachsen könnte, sehen die beiden Experten eher nicht. In Onlineforen, auf Twitter, Facebook, VKontakte oder Telegram stelle sich die Bereitschaft, für Nawalny auf die Straße zu gehen, zwar als sehr groß dar, so Mangott. Bei der Polizeistation, in der er zuletzt verhört wurde, hätten sich aber zuletzt nur relativ wenige Menschen versammelt.

Auch Stewart hält größere Proteste für eher unwahrscheinlich, sie verweist auf Demonstrationsdynamiken der letzten Jahre, die weniger politischer Natur gewesen seien. „Es ist eher um Umweltfragen, um Infrastruktur, die nicht funktioniert, gegangen“, so Stewart. Und: Viele seien eher mit dem eigenen Leben oder dem Überleben beschäftigt. Dennoch, so Mangott: Sollten sich große Proteste entfachen, habe das wohl einen Einfluss darauf, ob Nawalny weiter inhaftiert bleiben wird oder nicht.