Frau mit roter Jacke spaziert durch eine winterliche Waldlandschaft
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Mehr als nur Gehen

Die unbekannte Rolle des Spaziergangs

Der Spaziergang erlebt während der Pandemie seine große Renaissance. Bereits seit der Antike hilft er Menschen beim Entspannen, Denken und Dichten. Eine ganz andere Rolle nimmt er hingegen in der Spaziergangswissenschaft ein. Warum spazieren viel mehr ist als nur gehen, wie es den Blick auf die Welt verändern kann und was einen guten Spaziergang ausmacht, erzählen Promenadologen im Gespräch mit ORF.at.

Schon die griechischen Peripatetiker waren davon überzeugt, dass die besten Einfälle beim „Umherwandeln“ kämen, so trug auch Aristoteles, der Gründer dieser Philosophenschule, seine Lehren auf und ab gehend vor. Ähnlich dürfte es dem italienischen Humanisten Francesco Petrarca ergangen sein, als er während einer Wanderung auf den Mont Ventoux in der französischen Provence die Welt und unseren Blick darauf gänzlich neu ordnete. Den hohen Wert eines gepflegten Spaziergangs erkannten auch die Aristokraten im 18. Jahrhundert – sie ließen sich zum Lustwandeln eigene Barockgärten, Promenaden und Parks errichten.

„Um 1840 gehörte es vorübergehend zum guten Ton, Schildkröten in den Passagen spazieren zu führen. Der Flaneur ließ sich gern sein Tempo von ihnen vorschreiben“, schrieb der deutsche Philosoph Walter Benjamin und entwarf gleichzeitig das Konzept des Flaneurs im 20. Jahrhundert. Er verortet den Spaziergänger nun nicht mehr am Land, sondern in der Stadt.

Luftaufnahme des Schloss Belvedere
ORF.at/Dominique Hammer
Ob Freundschaftstreffen oder Tinder-Date: Der prächtige Barockgarten des Schlosses Belvedere lädt auch heutzutage noch zum Lustwandeln ein

Von Flaneuren und Flaneusen

Ein Blick in die Kulturgeschichte zeigt: Fast alle großen Dichter und Denker von Jean-Jacques Rousseau bis Sören Kierkegaard, Edgar Alan Poe bis Johann Wolfgang von Goethe beschäftigten sich in ihren Werken mit dem Spaziergang und waren nicht selten selbst leidenschaftliche Spaziergänger. Auch Benjamin sammelte Eindrücke für sein philosophisch-literarisches Werk, indem er durch die Passagen und über die Boulevards der französischen Hauptstadt flanierte.

Bücher zum Thema

  • Walter Benjamin: „Der Flaneur im 20. Jahrhundert“ in „Passagen“
  • Lauren Elkin: „Flaneuse. Frauen erobern die Stadt“
  • Jean-Jacques Rousseau: „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“
  • Edgar Allan Poe: „Der Mann in der Menge“
  • Peter Handke: „Das Ende des Flanierens“
  • Lucius Burckhardt: „Warum ist Landschaft schön: Die Spaziergangswissenschaft“
  • Bertram Weisshaar: „Einfach losgehen. Vom Spazieren, Streunen, Wandern und vom Denkengehen“

Bei Frauen galt zielloses Flanieren in den Großstädten indes lange als Zeichen der Prostitution („Bordsteinschwalbe“) – eine Zuschreibung, die erst durch weibliche Flaneusen wie Virginia Woolf oder Patti Smith überwunden werden konnte. Sie eroberten sich die männlich dominierten Straßen zurück.

Tinder statt Handke

Und obwohl Peter Handke 1980 bereits vom Ende des Flanierens und der Unmöglichkeit des Spazierens in der beschleunigten Großstadt schrieb, scheint der Spaziergang in Zeiten der Coronavirus-Krise sein großes Comeback zu feiern – als einzig verbliebene soziale Aktivität für Familienmitglieder, Freunde und Freundinnen, Liebespaare und nicht zuletzt auch (illegalerweise) für Tinder-Dates.

So heißt es auch in einer Kolumne der „Süddeutschen Zeitung“: „Was soll man auch anderes machen in diesen Zeiten? Früher traf man sich mit Freunden zum Essen oder auf ein Bier. Heute trifft man sich zum lockdown walk.“ Das Leben sei ein einziger Spaziergang geworden.

Die Wiederentedeckung des Spaziergangs

Während derzeit also viele Menschen auf der ganzen Welt den Spaziergang (wieder) für sich entdecken, als Möglichkeit, um mit den Liebsten Zeit zu verbringen, zur Gesundheitsförderung, zur Entspannung oder einfach nur, um einmal die eigenen vier Wände zu verlassen, nimmt er im Leben der zwei deutschen Promenadologen Betram Weisshaar und Martin Schmitz eine ganz andere Stellung ein. Die Spaziergangswissenschaftler beschäftigen sich seit Jahrzehnten professionell mit dem Spazierengehen.

Beide studierten bei Lucius Burckhardt, dem Begründer der Spaziergangswissenschaft, und führen sein Erbe bis heute weiter. Schmitz hat die Lucius-und-Annemarie-Burckhardt-Professur an der Kunsthochschule Kassel inne, Weisshaar ist im Bereich der Stadtentwicklung tätig und bietet zudem geführte Spaziergänge an.

Gemälde von Carl Spitzweg: Der Sonntagsspaziergang (1841)
Public Domain
Der Spaziergang fand nicht nur in die Philosophie und Literatur Eingang, sondern auch in die bildenden Künste – etwa hier in Carl Spitzwegs Gemälde „Der Sonntagsspaziergang“ von 1841

Promenadologie: Der Spaziergang als Wissenschaft

Gegründet wurde die Spaziergangswissenschaft in den 1980er Jahren im Fachbereich Architektur, Stadtplanung und Landschaftsplanung. In einer Zeit, in der die Mobilität stark anstieg, das Auto zum Massenverkehrsmittel aufstieg und die Städte und Dörfer „autogerecht“ umgestaltet wurden: „Überall wurden Autobahnen gebaut, es gab billige Charterflüge, das Gehen wurde zur Seite gedrängt. Fahren und Fliegen war wichtiger“, erklärt Schmitz.

Der Schweizer Soziologe Burckhardt kritisierte damals zudem, dass viele Gestalter nur noch vom Schreibtisch aus arbeiten würden. Politiker und Politikerinnen sowie Architekten und Architektinnen müssten den Ort, der zu gestalten ist, jedoch genau kennen – und das könnte am besten mittels eines Spaziergangs gelingen.

Der Spaziergang wurde somit zur wissenschaftlichen Methode, zum Instrument der Welterschließung mit dem Ziel des bewussten Wahrnehmens: „Bestenfalls schafft Spazierengehen Schönheit. Denn je intensiver die Welt betrachtet wird, desto besser kann man sie gestalten“, sagt Schmitz.

Autos parken auf einem schmalen Gehweg
picturedesk.com/SZ-Photo/Stephan Rumpf
Zugeparkte Gehsteige können einen Spaziergang schnell einmal zu einem Hindernisparcours durch den Großstadtdschungel werden lassen

„Das Gehen bringt einen am dichtesten an die Welt heran“

„Das Gehen bringt einen am dichtesten an die Welt heran“, meint auch Weisshaar. Schließlich könne man den Raum nur erfassen, indem man sich in diesem bewege. Das „feinkörnigste“ Bild erhalte man, wenn das zu Fuß geschehe: „Unsere Sinnesorgane können pro Sekunde nur eine gewisse Menge an Informationen aufnehmen und sortieren. Beim Gehen kann das Gehirn mit den Füßen Schritt halten.“ Im Umkehrschluss bedeute das: „Je schneller wir unterwegs sind, umso ärmer wird für uns die erlebte Realität.“

Dass viele Menschen nun wieder die Freude am Gehen wiederentdeckt hätten, „wenn auch aus der Not geboren“, freut den Promenadologen – noch zentraler sei aber, „dass jetzt ganz viele Menschen, auch Kommunalpolitiker und Planer, registrieren“, wie wichtig das gute Wohnumfeld sei. So reiche die Größe und Anzahl von Stadtparks oftmals bei Weitem nicht aus. Von entscheidender Bedeutung sei aber etwa auch, dass Gehsteige breit genug sind – ohne dass sie zugeparkt werden, so Weisshaar.

Ähnlich äußert sich Schmitz. Er kritisiert, dass man oftmals die Straße vor lauter parkenden Autos nicht mehr sehe, Autos, „die noch dazu immer größer werden“. Dennoch: In vielen Metropolen gibt es bereits Initiativen, die Stadt wieder fußgängerfreundlicher zu gestalten, als Beispiel sei hier etwa Paris genannt, dessen Bürgermeisterin kürzlich ankündigte, die berühmteste Prachtstraße der Hauptstadt, die Champs-Elysees, in einen „großen Garten“ zu verwandeln.

Illustration zeigt Fußgänger auf der begrünten Champs-Elysees in Paris
PCA-STREAM
Die Champs-Elysees sollen zukünftig ein „großer Garten“ werden – für den Promenadologen Weisshaar ein Zeichen für „Rückkehr zum Menschen als Maß der Dinge“

Roter Teppich für Fußgänger

Für Weisshaar zeigt dies „die Rückkehr zum Menschen als Maß der Dinge“. Und weiter: "Alle Städte, die bei der Stadtentwicklung vorangehen, rollen den Fußgängern den roten Teppich aus. Die Förderung des Fußverkehrs sei immer zugleich auch eine Aufwertung des öffentlichen Raums, von dieser würden dann alle Menschen profitieren.

Für Schmitz offenbart diese Entwicklung, die zudem von einem steigenden Umweltbewusstsein beeinflusst sei, „dass wir uns am Ende des Automobilsystems befinden“. Schmitz gibt sich jedoch skeptisch, ob es durch die Pandemie tatsächlich zu einer Trendwende kommt, dafür müsse der öffentliche Raum stark umgestaltet werden.

Funktionalisierungen wie eigene Fußgänger- oder Begegnungszonen seien aber nicht die Lösung, denn „so viel Fläche hat die Stadt nicht, um alle Formen der Mobilität – Auto, Fahrrad, Bahn und das Gehen – getrennt voneinander unterzubringen.“ Das bedeute, dass es weniger Autos geben müsse, so Schmitz.

Vom Flaneur zum Phoneur

Schmitz beobachtet zudem ein steigendes Interesse an der „analogen“ Welt: „Es gibt viele Künstler, die Spaziergänge organisieren, Stadtführungen, künstlerische Aktionen.“ Weisshaar empfiehlt für Stadtspaziergänge Audio-Guides, denn dann „sehen die Augen mehr“. Wer sich mittels mobiler Technologie wie dem Smartphone im Stadtraum bewegt, gilt übrigens als „Phoneur“, als „scrollender Flaneur“.

Allerdings sei es auch wichtig, dass man hin und wieder ohne Musik und „ohne irgendwas“ unterwegs ist und sich „einfach wirklich auch darauf einlässt auf das, was einem begegnet“. Dabei müsse man auch einmal aushalten, dass zehn Minuten nichts Spektakuläres passiere, schließlich sei ein Spaziergang immer auch eine „Einladung an den Zufall und den Einfall“.

„Jeder Spaziergang ist ein Unikat“

„Das Gehirn pendelt immer von einer Hälfte zur anderen, weil der eine Fuß von der gegenüberliegenden Gehirnhälfte gesteuert wird. Diese leichte, repetitive Tätigkeit, die einen nicht völlig vereinnahmt, das ist ein Modus, wo wir gut auf überraschende Einfälle kommen können“, so Weisshaar. Denn: „Wir sind nun einmal gehende Wesen, das ist etwas ganz Wesentliches, das uns ausmacht.“

Das Einzige, was man beim Spazierengehen falsch machen könne, sei, dass man gar nicht geht. Und wenn es doch einmal langweilig wird, solle man die Neugierde auf die ganze Welt richten und an Orte gehen, wo man noch nie war, so der Promenadologe, der sich am Telefon mit „Schöne Spaziergänge“ verabschiedet. Auch für Schmitz gibt es „keine Formel“ für einen guten Spaziergang, schließlich könne man immer neue Dinge entdecken. Und: „Man kann die Strecke wiederholen, aber niemals den Spaziergang. Jeder Spaziergang ist ein Unikat.“