Britischer Premierminister Boris Johnson
Reuters/Leon Neal
Sterblichkeit bei Mutation

Experten über Johnson-Aussage verwundert

Britische Experten haben sich über die Aussagen von Premierminister Boris Johnson zu einer womöglich höheren Sterblichkeit bei der zuerst in Großbritannien nachgewiesenen Virusvariante B.1.1.7 verwundert gezeigt. Derzeit liefen mehrere Untersuchungen. Es sei „nicht vollständig klar“, dass die Mutation tödlicher sei, sagte die medizinische Direktorin der Gesundheitsbehörde Public Health England, Yvonne Doyle, am Samstag dem Sender BBC Radio 4.

„Es ist zu früh, das zu sagen.“ Es gebe zwar Hinweise. Aber: „Es handelt sich nur um eine kleine Zahl von Fällen, und es ist viel zu früh, um zu sagen, was tatsächlich herauskommen wird“, sagte Doyle. Der Wissenschaftler Mike Tildesley, Mitglied des Expertengremiums SAGE, sagte der BBC, es sei zu früh für klare Aussagen. „Ich würde gerne noch ein oder zwei Wochen warten und ein bisschen analysieren, bevor wir wirklich starke Schlussfolgerungen ziehen.“

Die Zahl der Todesfälle sei zwar leicht gestiegen, von zehn auf 13 je 1.000 Patienten. „Aber das basiert auf einer ziemlich kleinen Datenmenge“, sagte Tildesley. Er sei sehr überrascht gewesen, dass Johnson die Information auf einer Pressekonferenz verkündet habe. „Ich mache mir Sorgen, dass wir Dinge voreilig melden, wenn die Daten noch nicht wirklich besonders aussagekräftig sind“, sagte Tildesley.

Johnson: Einige „Hinweise“

Johnson hatte am Vorabend gesagt, es gebe mittlerweile einige „Hinweise“, dass die Mutante B.1.1.7 nicht nur ansteckender sei, sondern auch „mit einer höheren Sterblichkeitsrate in Verbindung gebracht werden“ könne als die bisher vorherrschende Variante. Nach Angaben des wissenschaftlichen Chefberaters der britischen Regierung, Patrick Vallance, könnte die neue Variante rund 30 Prozent tödlicher sein als das ursprüngliche Virus. Bei 60-jährigen Männern steige nach derzeitigen Erkenntnissen die Zahl der Toten nach einer Infektion mit der Mutante auf 13 oder 14 von 1.000 Erkrankten. Bei der ursprünglichen Virusvariante liege die Quote bei etwa zehn Toten unter 1.000 Infizierten, so Vallance.

Auch bei anderen Altersgruppen lasse sich eine höhere Sterblichkeitsrate feststellen, sagte Vallance. Allerdings verwies er ausdrücklich darauf, dass derzeit noch wenige Daten zu der neuen Virusvariante vorlägen. „Ich möchte betonen, dass es noch viel Unsicherheit rings um diese Zahlen gibt“, sagte Vallance.

Die Mutation B.1.1.7 war Ende vergangenen Jahres in der südostenglischen Grafschaft Kent aufgetaucht und hatte sich rasch in London und Teilen des Landes ausgebreitet. Großbritannien gehörte bereits zuvor zu den am schwersten von der CoV-Pandemie betroffenen Ländern der Welt, durch die Mutation stiegen die Infektionsfälle nochmals sprunghaft. Die Mutation ist nach Ansicht britischer Experten 30 bis 70 Prozent leichter übertragbar als die bisher vorherrschende.

WHO: Bisher keine Belege

Die WHO reagierte bereits am Freitag zurückhaltend auf die Aussagen von Johnson. Laut Mike Ryan, Direktor des Gesundheitsnotfallprogramms der WHO, liegen der Organisation bisher keine Belege für eine höhere Sterblichkeitsrate durch die Mutation vor. Klar sei bisher nur, dass eine höhere Anzahl von Infektionen durch die Variante zu mehr Erkrankten führe. Dadurch stiegen automatisch auch die Todeszahlen. „Steigende Inzidenz führt zu höherer Sterblichkeit“, erklärte Ryan. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation wurde B.1.1.7 mittlerweile in rund 60 Ländern nachgewiesen, darunter auch Österreich.

Die Verbreitung ist ein Grund dafür, dass in Österreich und zahlreichen anderen Ländern die CoV-Restriktionen zuletzt wieder verschärft wurden. Überdies ist in Südafrika eine ebenfalls deutlich ansteckendere CoV-Mutation aufgetreten, die mittlerweile in mehr als 20 Ländern nachgewiesen wurde. Um das Auftreten dieser und anderer potenziell gefährlicherer Virusvarianten frühzeitig zu erkennen, sollen nun mehr Proben von positiv getesteten Menschen sequenziert werden. Durch die Aufschlüsselung des Viruserbguts können Mutationen frühzeitig erkannt werden.

Impfstoff: Schutzwirkung dürfte nicht beeinträchtigt sein

Experten in Großbritannien gehen nicht davon aus, dass die Schutzwirkung der bisher verwendeten Impfstoffe durch die heimische Virusvariante beeinträchtigt wird. Für zwei weitere Mutationen, die in Brasilien und Südafrika entdeckt wurden, sei das noch unklar, sagte Vallance. Laut britischer Regierung haben im Vereinigten Königreich bereits 5,4 Millionen Menschen eine erste Impfdosis erhalten.

Großbritannien ist eines der am schwersten von der Pandemie betroffenen Länder in Europa. Täglich werden Zehntausende Neuinfektionen und zuletzt jeweils mehr als 1.000 Tote gemeldet. Knapp 96.000 Menschen sind in Großbritannien bereits innerhalb von 28 Tagen nach einem positiven CoV-Test gestorben, so die offizielle Zählung.

Die Krankenhäuser sind teils schwer unter Druck. Johnson zufolge ist die Zahl der in Kliniken behandelten Covid-19-Patienten inzwischen um 78 Prozent höher als während der ersten Pandemiewelle im vergangenen Frühjahr. Der konservative Premier macht dafür hauptsächlich die Mutation verantwortlich. Seit Wochen gilt ein Lockdown mit weitreichenden Ausgangs- und Reisebeschränkungen, Schulen und nicht lebensnotwendige Geschäfte sind geschlossen. Die Maßnahmen sollen Mitte Februar überprüft werden.