Protestmarsch von MAN-Beschäftigten
APA/Fotokerschi.at/Werner Kerschbaum
Ganze Regionen betroffen

Massenkündigungen in Coronavirus-Zeiten

Über eine halbe Million Menschen sind aktuell beim AMS arbeitslos gemeldet. Diese Zahl könnte bald weiter steigen, weil Konzerne wie Swarovski, MAN und ATB Massenkündigungen vollzogen haben oder planen. Tausende Jobs stehen auf dem Spiel, ganze Regionen sind betroffen – und Familien, die über Generationen hinweg in derselben Firma arbeiten. Zorn und Unverständnis herrschen vor, Experten fordern ein Gegenlenken.

Die Schicksale der Menschen in den betroffenen Dörfern und Kleinstädten erinnern an die viel zitierte soziologische Studie über „Die Arbeitslosen von Marienthal“ von Marie Jahoda, Paul Felix Lazarsfeld und Hans Zeisel. Auch in Spielberg sind ganze Straßenzüge und Wohnbauten betroffen. Folgerichtig sind es nicht nur Arbeiterinnen und Arbeiter, die vor dem ATB-Werk in Spielberg aufmarschieren und ihrem Ärger Luft machen. Es kommen auch Familienmitglieder, Verwandte, Freundinnen und Freunde sowie Ortsansässige.

ATB ist der größte Arbeitgeber der Region und schließt sein Produktionswerk. 360 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verlieren dadurch ihre Jobs. Viele von ihnen sind über 50 Jahre alt und haben Angst, in Zeiten der Coronavirus-Krise keine neue Anstellung zu finden. Die Jüngeren unter ihnen plagen Existenzängste, sie müssen ihre Ziele neu stecken. Derartige Sorgen treffen ganze Familien, wie jene von Renate Vrabl.

Massenkündigungen in Coronavirus-Zeiten

Große Konzerne wie MAN, ATB und Swarovski planen Massenkündigungen oder haben sie bereits umgesetzt. Gesamte Regionen – und ganze Familien – sind betroffen.

Ganze Familien nun arbeitslos

Die 56-jährige Vrabl arbeitete 30 Jahre im ATB-Werk, ihr 23-jähriger Sohn Michael und ihre 27-jährige Tochter Simone waren im Betrieb ebenfalls seit Jahren beschäftigt. Tochter Simone hat dort ihre „große Liebe“ kennengelernt, Alexander Biela, 31, seit 16 Jahren in der Firma. Auch sein Bruder, seine Mutter und sein Großvater waren in der Firma angestellt.

Aufgrund seiner zusätzlichen HTL-Ausbildung vergangenen Sommer habe das Paar damals noch positiv in die Zukunft geblickt. Doch jetzt haben die beiden ihren Kinderwunsch sowie den „Traum eines Eigenheims nach hinten verschoben“, so Biela. „Vom Babykriegen sind wir weit, weit weg.“ Jetzt verlieren gleich mehrere Generationen der Familie ihren Job.

Mitarbeiter der Firma ATB
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Simone (27) und Mutter Renate Vrabl (56) verlieren nach vielen Jahren bei ATB Spielberg ihre Jobs

Nicht nur ATB-Mitarbeiter sind betroffen. Im Sommer kündigte der Tiroler Kristallhersteller Swarovski an, 1.600 Stellen bis Ende 2021 am Standort Wattens zu streichen. Flugzeugzulieferer FACC kündigte bereits im Vorjahr 650 Mitarbeiter. Bei MAN steht das Werk in Steyr offenbar vor der Schließung – hier drohen 2.200 Jobs verloren zu gehen.

TV-Hinweis

Die längere „Am Schauplatz“-Reportage ist am Donnerstag um 21.05 Uhr in ORF2 zu sehen.

Zweifellos ist die Coronavirus-Krise die schlimmste Wirtschaftskrise seit mehreren Jahrzehnten, das würde aber nicht gleichzeitig bedeuten, dass das Coronavirus auch immer der Auslöser der derzeitigen Werksschließungen sei, so der Soziologe Jörg Flecker von der Universität Wien. Die derzeitige Wirtschaftsordnung würde das Interesse der Eigentümer und deren Gewinnerwartungen in den Vordergrund stellen. Werde das nicht erfüllt, werde die soziale Verantwortung oft vernachlässigt, sagt der Soziologe.

Zuerst der Job, dann die Wohnung

Eine große soziale Verantwortung tragen Betriebe in strukturschwachen Gegenden. In Wattens etwa stellt Swarovski seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Werkswohnungen zu günstigen Mietpreisen zur Verfügung. Im Sommer hat der Konzern überraschend angekündigt, 1.000 Stellen am Standort abzubauen, noch in diesem Jahr sollen weitere 600 Kündigungen folgen.

Swarovski-Werk in Wattens (Tirol)
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Swarovski baut in Wattens 1.600 Stellen bis Ende dieses Jahres ab

Für viele kommt dieser Einschnitt überraschend. „Ich habe letzte Woche gestandene Männer mit Tränen in den Augen gesehen“, erzählt ein Bewohner einer Werkssiedlung, der vor Kurzem ebenfalls seine Kündigung erhalten hat. Deshalb muss er in drei Jahren auch aus der Firmenwohnung ausziehen – zum Job- kommt der Wohnungsverlust.

Gewerkschafter vermisst „soziale Verantwortung“

Der Umgang mit den Menschen sei das Problem, so der Tiroler Gewerkschafter Bernhard Höfler. Das sei nicht erst seit dem letzten Jahr so. Die fehlende Wertschätzung gegenüber Leiharbeitskräften beispielsweise würde das Problem seit Jahren verdeutlichen, „Corona bringt das nur noch mehr zutage.“ Er vermisse die soziale Verantwortung der Unternehmen in der Krise.

Für „Härtefälle“ habe Swarovski 60 Millionen Euro für vergangenes Jahr und zusätzlich 25 Millionen für heuer in einen Sozialplan investiert, heißt es in einem schriftlichen Statement der Firma. Beschäftigte, die fünf Jahre vor einer Regel- oder Korridorpension stünden, würden ihren Arbeitsplatz nicht verlieren. Wochenlange Bemühungen des ORF um ein persönliches Interview mit der Geschäftsführung blieben erfolglos.

Eigener Geschäftsführer für Kündigungen

Was wiederum die mittlerweile ehemaligen ATB-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter besonders verärgert: Als der chinesische Wolong-Konzern 2011 das Werk kaufte und vor der Insolvenz bewahrte, fühlten sich die Beschäftigten gerettet. Doch die angekündigten Investitionen blieben laut Betriebsrat Michael Leitner aus. Auch das sei der Grund, weshalb das steirische Werk zunehmend unprofitabel geworden sei. Der chinesische Eigentümer hätte dadurch das Ende des Standorts selbst herbeigeführt, so Leitner.

Wolong bestreitet die Anschuldigungen. Über 20 Millionen seien in den letzten vier Jahren investiert worden, um den Betrieb überhaupt aufrechtzuerhalten. In einem Statement heißt es dazu: „Die Zunahme des internationalen Wettbewerbsdrucks hat dazu geführt, dass die ATB Spielberg aufgrund der hohen Lohnkosten in Österreich schon seit Jahren nicht mehr konkurrenzfähig war.“ Von 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sollen 40 für Forschung und Entwicklung übrigbleiben. Für die Kündigungen sei ein Kurzzeit-Geschäftsführer eingesetzt worden, vermuten die Arbeiterinnen und Arbeiter. Als „Umstrukturierer“ angekündigt, wurde er direkt nach den ausgesprochenen Kündigungen sofort wieder abbestellt.

Wut auf „die Herren da oben“

Ähnlich enttäuscht reagiert MAN-Steyr-Betriebsrat Erich Schwarz. Im Werk in Oberösterreich wackeln 2.200 Jobs. Denn die Geschäftsführung der deutschen Konzernmutter hat im Zuge der Coronavirus-Krise angekündigt, das Werk am Standort Steyr in zwei Jahren ganz zu schließen. Nach einer Einigung der Unternehmensführung mit dem deutschen Betriebsrat am Mittwoch scheint die Schließung so gut wie fix. Und das, obwohl durchaus profitabel gewirtschaftet wurde, so der Betriebsrat, und die Konzernführung noch im Jänner des Vorjahres eine Standortgarantie bis 2030 unterschrieben habe.

MAN-Werk in Steyr
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MAN-Betriebsrat Erich Schwarz pocht auf die Standortgarantie bis 2030

„Das ist, wie wenn du am Boden liegst und es steigt auch noch einer drauf“, so Schwarz. Auch ein Arbeiter ärgert sich am örtlichen Stammtisch: „Wir leben ja für die MAN, nur sehen das die Herren da oben nicht!“ Mit den Arbeitszeiten und den Lohnkosten tue sich die Geschäftsführung in Billiglohnländern wie Polen leichter, meint dazu ein anderer Kollege. Am Dienstag gab die MAN-Geschäftsführung zum Werk in Steyr bekannt: „Hier prüft der Vorstand alle Optionen inklusive eines Verkaufs oder einer Schließung.“

Soziologe Flecker beobachtet die Abwanderung großer Firmen in Länder, wo Löhne und Sozialstandards niedriger sind, schon mehrere Jahrzehnte. Die Empörung der Belegschaft kann er nachvollziehen, denn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hätten „viel in Kauf genommen an harten Arbeitsbedingungen, haben teilweise ihre Gesundheit aufs Spiel gesetzt, und das alles zählt nicht mehr, sobald es eine Verlagerungsmöglichkeit gibt“. Die Geschäftsführung würde dabei oft den Deal „Engagement gegen Beschäftigungssicherheit“ brechen.

Lohnkosten Grund für Werksschließung

Polen ist das Ziel der Geschäftsführung von ATB Spielberg. Dass das Coronavirus die Firma in Schieflage brachte und somit der Grund für die Werksschließung sei, daran haben viele der ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Zweifel. In Polen soll weiter produziert werden, bei deutlich niedrigeren Personalkosten.

Auch bei Swarovski in Wattens seien die Arbeitsplätze den niedrigeren Personalkosten in anderen Ländern zum Opfer gefallen, meint Betriebsrat Ernst Daberto. In Serbien hat der Tiroler Konzern bereits ein Werk, dort „verdienen die Leute 300 Euro pro Monat, und das ist vier Stunden von Wien“, so Daberto. Er sieht die EU am Zug, Produkte aus Niedriglohnländern höher zu besteuern. Dass die Politik Abwanderungen entgegenwirken soll, fordert im Gespräch mit ORF.at auch AMS-Vorstand Johannes Kopf. Senken dürfe man in Österreich aber nicht die Löhne, sondern die Lohnnebenkosten für Firmen bei niedrigen Einkommen. Damit würde man Anreize für Unternehmen schaffen, dem Wirtschaftsstandort Österreich treu zu bleiben.

Klage gegen Konzernentscheidung

Während bei Swarovski in Wattens und ATB in Spielberg die Entscheidung bereits gefallen ist, hat der Betriebsrat der Firma MAN Steyr bereits angekündigt, rechtliche Schritte gegen die Geschäftsführung einzuleiten. Der Standortvertrag soll wie vereinbart eingehalten werden, das werde man einfordern, gab sich Betriebsrat Schwarz noch vor Kurzem kämpferisch. Es ist der letzte Hoffnungsschimmer für die Belegschaft, die von der Konzernführung enttäuscht ist: „Wir werden jedenfalls kämpfen bis zum Schluss, da fährt die Eisenbahn drüber.“

Vorsichtiger Optimismus

In nicht einmal einem Jahr, seit vergangenem März – kurz vor Ausbruch der Coronavirus-Pandemie in Österreich, ist die Zahl der Arbeitslosen hierzulande von 399.359 auf 534.256 gestiegen. AMS-Chef Kopf bleibt trotzdem optimistisch und glaubt, dass sich ein Wirtschaftsaufschwung nach dem ersten Halbjahr 2021 ausgehen könnte. Facharbeiterinnen und Facharbeiter, die sich jetzt in der Krise weiterbilden oder umqualifizieren, würden mit dem Konjunkturaufschwung wieder sehr gefragt sein.