Statue vor dem Rockefeller Center mit Maske
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CoVid-19 als Wende?

Das doppelte Gesicht der Krise

Die Lebensrealitäten der Menschen sind im langen Verlauf der Coronavirus-Pandemie höchst unterschiedlich: Während viele vor existenziellen Problemen stehen, gibt es andere, die trotz der Einschränkungen einigermaßen normal durch diese Zeit kommen. Man könnte sagen: Jeder durchlebt seine eigene Krise. Doch auch die großen Denker sind sich nicht ganz sicher, wie groß sie die Krise denken sollen. Der Italiener Giorgio Agamben etwa kam mit seiner Kritik an der Ausnahmezustandspolitik dem Fahrwasser der Coronavirus-Leugner nahe. Noch ist der Horizont nach der Krise ungewiss: Hoffen die einen auf einen Systemwechsel, deuten die anderen die Krise als einen Punkt, an den jedes System kommt, um danach in seinen alten Takt zurückzufinden.

Im Begriff der „Krise“ fallen mindestens zwei Vorstellungen zusammen. Einerseits gibt es die Krise als große letzte Entscheidung: Diese Bedeutung ist aus der Theologie entlehnt und mit der Vorstellung eines Jüngsten Gerichts verbunden. Die zweite Einschätzung sieht die Krise als ein Moment in einer zyklischen Entwicklung, als Scheitelpunkt, der überwunden werden muss, sodass danach eine neue Aufwärtsbewegung kommen kann. Die in den Blick genommene Koppelung von Einschnitt durch Krieg und nachfolgendem Wirtschaftswachstum zählt hier dazu.

Als die Coronavirus-Pandemie im Frühjahr ausbrach, bezeichnete UNO-Generalssekretär Antonio Guterres sie rasch als „größte Krise seit dem Zweitem Weltkrieg“. Diese Definition hat sich durchgesetzt. Beginnend mit Italien verhängten etliche betroffene Länder den ersten Lockdown und betraten damit teils auch in rechtlicher Hinsicht Neuland. Ein Stillstand des gesellschaftlichen Lebens, eine Schließung von Handel, Kultur, Tourismus und Gastronomie und verordnetes Social Distancing, all das bot eine Abkehr von allem Gewohnten.

Globaler „Ausnahmezustand“?

Politik, Analysten und Medien waren sich größtenteils einig, dass sich hier etwas nie Dagewesenes vollzog, eine „Krise“ im Sinn, den der Begriff seit dem späten 18. Jahrhundert zugewiesen bekommen hatte. Der Historiker Reinhart Koselleck schreibt, dass sich um die Französische Revolution herum ein geschichtsphilosophisches Deutungsmuster mit dem Begriff verband, das an der katholischen Vorstellung des Jüngsten Gerichts anknüpft: „Die Krise wird in Analogie zum Jüngsten Gericht zwar auch als einmalige, vor allem aber letzte Entscheidung gedeutet, nach der alles ganz anders sein werde.“

Luca Signorelli, Fresko „Das jüngste Gericht“ im Dom von Orvieto
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„Krise“ wurde lange theologisch gedacht, in Analogie zum finalen „Entscheidungspunkt“ des Jüngsten Gerichts, hier in der Darstellung von Luca Signorelli: „Ende der Menschheit“ Fresko im Dom von Orvieto (Umbrien), 1499

Ein Kommentator, der sich umgehend aus dem zunächst hauptbetroffenen Italien zu den politischen Implikationen der Pandemie zu Wort meldete, war der Philosoph Agamben – seit seinem Großprojekt „Homo sacer“ einer der Metadenker unserer Gegenwart. Für Agamben greifen die modernen Machthaber nur zu gerne auf immer neu hergestellte „Ausnahmezustände“ zurück, um damit Verfügungsgewalt über die Bürgerinnen und Bürger zu bekommen. Diese Verfügungsgewalt – und hier denkt er die Biopolitik eines Michel Foucault noch weiter ins Soziale hinein – reiche zum „nackten Leben“.

Schnellschüsse ins Allgemeine

Die Macht reduziere uns potenziell alle auf „Homines saceri“, auf Menschen, die außerhalb des Rechts stünden. Agambens Analysebeispiele umfassten dabei das römische Recht, antike und mittelalterliche Philosophie und Theologie genauso wie die nationalsozialistischen Konzentrationslager und Guantanamo. Schon bei früheren Texten Agambens habe dieser eine „Theoriebildung auf Ebene des Metaphorischen und des abstrakt Verallgemeinernden“ vorgenommen, meint Oliver Marchart, Professor für politische Theorie an der Universität Wien.

Buchcover „An welchem Punkt stehen wir“ von Giorgio Agamben
Turia und Kant

Buchhinweis

Giorgio Agamben: An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik. Turia und Kant, 155 Seiten, 16 Euro.

In seinen gesammelten Kommentaren zur Coronavirus-Pandemie unter dem Titel „An welchem Punkt stehen wir?“ sieht Agamben nun den „Ausnahmezustand“, also die „vorbehaltlose Aufhebung jeglicher verfassungsrechtlichen Garantie“, als Grundlage einer „Großen Transformation“ aufseiten der Regierenden walten. Die Gesellschaft sei von einer „Gesundheitsreligion“ durchdrungen, plötzlich sei „Gesundheit zur Pflicht“ geworden.

Die Coronavirus-Krise, so kann man schlussfolgern, ist für Agamben einer dieser Entscheidungspunkte, nach dem alles anders ist, wenngleich sich vieles auch in eine Reihe mit bekannten Entwicklungen stelle. Italien, so heißt es in einem Artikel vom 19. April 2020, sei eine „Art politisches Labor, in dem neue Regierungstechnologien ausprobiert werden“.

Viele Aussagen Agambens, so scheint es, werden von den Entwicklungen der Pandemie überholt. Er schrieb zunächst von einer nicht bewiesenen Übersterblichkeit und wollte sich mit Experten eins wissen, die Covid-19 mit einer Influenza verglichen. Der Grund liegt auf der Hand: Hier musste jemand seine Theorie vom instrumentalisierten Ausnahmezustand verteidigen. Dass diese Aussagen nicht durch ein neues Vorwort in den entsprechenden Kontext gestellt wurden, zeige Agambens „verleugnerischen Modus“, meint Marchart: „Er rückt nicht von diesen Meinungen ab.“

Agambens „Verhängniserzählung“

Agamben fühle sich in seinen Kommentaren sichtlich in seiner Analyse „eines Jahrtausende dauernden Prozesses, den er als Verhängniserzählung beschreibt“ bestätigt. Habe er in früheren Texten schon Auschwitz und Gated Communities unterschiedslos als „Lager“ zum Angelpunkt von Thesen gemacht, gehe er hier noch weiter: „In einer ähnlichen Obszönität wie in der Gleichsetzung aller möglichen Lager kommt hier in fast jedem Kommentar ein Nazi-Vergleich vor.“

Leerer Markusplatz in Venedig während des ersten Lockdowns
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Venedig im März 2020. War Italien im ersten Lockdown ein „politisches Labor, in dem neue Regierungstechnologien ausgeprobt werden“, wie Agamben schreibt?

Man könne Agambens Äußerungen, wonach die gestiegene Kontrolle der Bevölkerung im Zuge des ersten Lockdowns in Italien mit Faschismen gleichzusetzen sei, entgegnen, „dass gerade rechtspopulistische Politiker – von Jair Bolsonaro über Donald Trump bis hin zu anfänglich Boris Johnson – kein Interesse an der Gesundheit der jeweiligen Bevölkerung gezeigt haben. Diese Politiker sind über Leichen gegangen, und es war ihnen egal, wie viele Tote ihre Entscheidungen produzieren.“ Gegen solche Entgegnungen verteidigt sich Agamben aber mit seltsamen Argumenten: „Darauf sagt Agamben, dass eben eine Verirrung zwischen Links und Rechts besteht. Die besteht aber im Gegenteil nur bei Agamben selbst“, so Marchart.

Ausnahmezustand in Gesetze überführen

Der „Wahrheitskern“, den Marchart Agamben zugesteht und der auch der Grund sei, warum dessen bisherige Thesen so stark rezipiert wurden, „ist, dass der Ausnahmezustand ein real existierendes Instrument ist. In Frankreich wurde nach den Terroranschlägen im November 2015 der Ausnahmezustand ausgerufen und mehrfach erneuert. Die erste Konsequenz daraus war es aber nicht, den islamistischen Terror zu bekämpfen, sondern, die Demonstrationen zum UNO-Klimakongress in Paris zu verbieten und bei Umweltaktivisten Hausdurchsuchungen nach Maßgabe dieses Ausnahmezustandes durchzuführen. Das ist dann später unter Macron in Gesetze überführt worden. Das, was zuvor nur im Ausnahmezustand möglich war, ist jetzt im normalen Gesetz abgebildet.“

Demonstranten und Polizisten stoßen in Paris aufeinander
APA/AFP/Francois Guillot
Ein Moment des Ausnahmezustands in liberalen Demokratien: Die Demonstrationen gegen den UNO-Klimagipfel in Paris 2015 wurden unter Maßgabe des Ausnahmezustandes aufgrund von Terroranschlägen verboten

„Es gibt also Momente des Ausnahmezustandes, die in liberalen Demokratien auf Dauer gestellt werden“, so Marchart weiter. „Agambens Schlussfolgerungen sind zwar maßlos überzogen, aber wir sehen auch, dass diese Ausnahmegesetzgebungen unter Corona-Bedingungen, je nach politischem System, unterschiedliche Effekte haben. In Putins Russland werden einfach alle Demonstrationen untersagt. Unter repressiven Bedingungen ist die Pandemie nur ein weiterer Vorwand, um etwas, das ohnehin schon zur Staatsraison gehört, zu legitimieren.“

Verdichtung von Krisen

Braucht es andererseits die Krise als notwendiges Moment in jeder Weiterentwicklung eines Systems, wie der Carl-Schmitt-Schüler Koselleck auch gern mit Rückgriff auf Karl Marx argumentiert? Marx, so erinnert Koselleck, habe im „Kapital“ das Moment der Krise als Teil des kapitalistischen Wirtschaftssystems charakterisiert: „Marx thematisierte im ‚Kapital‘ die dem System zugrunde liegenden Widersprüche, die zyklisch zu immer neuen Krisen führen, um daraus die Bedingungen abzuleiten, die zur Aufhebung des ganzen Systems drängen.“

Ist also jede Krise „bloß“ eine Krise mehr? Dagegen hält Marchart, dass wir uns gerade an einem Punkt befänden, an dem sich Krisen verdichteten: „Nach 2008, seit der Finanzkrise, die sich in eine Wirtschaftskrise und später in eine soziale Krise übersetzt hat, hat man geglaubt, dass man nach diesem ‚verlorenen Jahrzehnt‘ langsam herauskommt, und dann setzt die Corona-Krise ein, die, wie vorherzusehen ist, in eine noch viel größere Wirtschaftskrise münden wird.“

Die Folge sei eine massive Delegitimierung des neoliberalen Wirtschaftsmodells, man könne eine „Rückkehr des Staates beobachten“. Es sei aber nicht gesagt, dass dieser „Krisenetatismus“ andauern werde. Ob am Ende der gegenwärtigen Krise eine Richtungsentscheidung zwischen einer Abkehr vom neoliberalen Modell und einer erneuten Austeritätspolitik stehe, müsse sich noch zeigen: „In Deutschland sieht man ja gerade, dass innerhalb der CDU ein Kampf darum geführt wird, ob die grundgesetzliche Verankerung der Schuldenbremse nicht aufgehoben werden müsste. Das sind schon Vorboten des Kampfes darum, wie die Krisenbewältigung funktionieren wird“, so Marchart.

„Gattopardismo“ als neoliberale Strategie

Marchart schreibt gerade an seinem Buch „Der demokratische Horizont“, das im Oktober erscheinen wird. Darin argumentiert er, dass die Demokratie durch Radikalisierung und Neuerfindung der klassischen Prinzipien von Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Volkssouveränität selbst wieder demokratisiert werden müsse.

Ein Phänomen, das ihn aktuell beschäftigt, ist der in Italien grassierende „Gattopardismo“. Das Konzept bezieht sich auf das wohl berühmteste Zitat der sizilianischen Literatur aus Giuseppe Tomasi di Lampedusas „Der Leopard“ („Il Gattopardo“). „Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, muss alles sich ändern“, sagt der junge Adelige Tancredi darin. Der „Gattopardismo“, so Marchart, könne zum Seismografen für die Gegenwart werden: Die Machteliten würden neue Rollen erfinden, um weiterhin am Ruder bleiben zu können.

Insofern bleibt für den Philosophen Marchart auch die Frage, ob nach der Krise ein Systemwechsel mit einer Wiederentdeckung der Rolle des Staates in der Gesellschaft komme oder eine Ummantelung des bisherigen Neoliberalismus mit neuen Modebegriffen.