Es gab mal eine Welt, als das Wort Co-Working-Space noch gar nicht erfunden war – und, wie Peter Handke für das Drehbuch zu Wim Wenders grandiosem „Himmel über Berlin“ (1987) schrieb: „das Kind Kind war“. Und als das Kind Kind war, „dachte es nicht“, dass auch die Mauer hinter der „Staatsbibliothek zu Berlin“, wie man das Gebäude des Architekten Hans Scharoun in Berlin-West nannte, tatsächlich mit seinem Urbau, der Staatsbibliothek Unter den Linden wieder zusammenwachsen würde. Denn unter den Linden, in der einst knapp nach der Jahrhundertwende geplanten Bibliothek des preußischen Hofarchitekten Ernst von Ihne (1903–1914), haben sich schon Walter Benjamin oder Willy Brand in ihren Forscherträumen verloren.
Die Rückrekonstruktion
Jetzt ist die Staatsbibliothek Unter den Linden fertig, mit einem digitalen Festakt eröffnet – und doch noch nicht ganz zum Leben erweckt. Weil man die Stätte des Wissens und der Forschung mit 25 Millionen Büchern, covid-19-bedingt, nicht betreten darf. Länger als am Bau des Flughafens Berlin-Brandenburg arbeitete man an der Wiederherstellung der beinahe originalen Staatsbibliothek, hatte vier Buchspeichertürme der DDR abgetragen – und, weil ja die Bibliothek auch Teil der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist, die ja den Fetisch der Wiederherstellung des Hohenzollernschlosses an der Stelle des DDR-Palasts der Republik betreibt, wird original rückrekonstruiert.
So gibt es Richtung Originalentwurf Rekonstruiertes, im Zentrum aber statt des einstigen Kuppelsaals einen großen Glasquader, der den „allgemeinen Lesesaal“ beherbergt – und der an alle babylonischen Bibliotheksträume der Moderne erinnert. Man darf dabei etwa an den Lesesaal der Stockholmer „Stadsbibliotek“ denken, der ja den Renaissance-Zentralbau mit der Lesesaalnutzung in moderner Gestalt zusammendenkt. Fotograf Andreas Gursky war bekanntlich von diesem Gebäude so fasziniert, dass er den Stockholmer Lesesaal fotografisch so spiegelte, dass dieser wie ein unendlicher Wissensturm aussah. Und es mag sein, dass sich Architekt Hans-Günter Merz, der schon manch schwierigen Museumsfall des Historismus in Deutschland neu belebte, an dieses berühmte Bild erinnert haben mag, als er die „Stabi“ Unter den Linden neu dachte.
Berlin und das Lipman-Regal
Teil des Altbestandes, den man Unter den Linden erhalten musste: das legendäre Lipman-Regal. Diese Erfindung des deutschen Kunstschlossers Robert Lipman, die erstmals um 1900 in Straßburg eingesetzt wurde, ist tatsächlich tragender Bestandteil der Berliner „Stabi“: Lipman konstruierte Standardregalböden aus Stahl, in der Regel einen Meter breit, die in simple Stahlträger eingehängt wurden. In Berlin tragen diese Stahlträger zugleich die Decken zwischen den einzelnen Stockwerken. Und gemeinsam mit den Panizzi-Stiften, die die Fixierung von Regalböden ermöglichen, ist das Lipman-Regal die Urmutter aller modernen Bücherregalen a la „Ivar“ geworden.
Länger als am BER gebaut
15 Jahre, „länger als beim BER“ (dem Flughafen Berlin-Brandenburg), wie etwa die „Süddeutsche Zeitung“ erinnert, habe man an der Wiederherstellung der Bibliothek Unter den Linden gearbeitet. Jetzt ist der neobarocke Büchertempel fertig, der im Inneren deutsche Gründlichkeit und Aufgeräumtheit zelebriert, und gerade in der Farbgestaltung mit Rot als Leitfarbe großen Mut beweist. Und ein Markstück ist die Art, wie man eine der wichtigsten Universalbibliotheken neu aufstellt. Zwar sind die Bestände auch in dieser Bibliothek aus Magazinen heranzuschaffen. Aber der zentrale Lesesaal ist der Ort, an dem sich die Wissensgesellschaft treffen kann – und in den viel Licht fällt und der eine mehr als freundliche, offene Arbeitsatmosphäre herstellt.
Die 1661 gegründete Staatsbibliothek zu Berlin zählt mit ihren zwei Standorten im West- und Ostteil der Stadt zu den international wichtigsten Einrichtungen ihrer Art. In Deutschland ist sie die größte wissenschaftliche Universalbibliothek. Zu den Schätzen der „Stabi“ gehören die originalen Partituren etwa von Beethovens Neunter Symphonie, Mozarts großen Opern wie der „Zauberflöte“ oder 80 Prozent von Bachs Handschriften.
Eine Institution, zwei Standorte
Dass es nach wie vor zwei Standorte gibt, ist der deutschen Teilung als Folge des Zweiten Weltkriegs geschuldet. Die DDR wollte die „Stabi“ Unter den Linden, die einst als „Palast des Wissens“ für das Deutsche Kaiserreich geplant war, zu ihrer identitätsstiftenden Konstruktion umfunktionieren. Und im Westen entwarf Scharoun ja einen „Kulturbezirk“ in unmittelbarer Mauernähe, der zwar in seiner gesamten Ausbaustufe nie realisiert wurde, aber mit der Philharmonie und der nach Scharouns Tod vollendeten Staatsbibliothek West ein markantes Symbol finden sollte.
Durch die Anlage in unmittelbarer Nähe zur Zonengrenze durfte man mit der Scharoun’schen Staatsbibliothek in den 1990er Jahren zwar nicht an der Überwindung der deutschen Teilung teilhaben – aber man sah den Baufuror, den das neue Deutschland gerade in Berlin in Gang zu setzen wusste. Der neue Potsdamer Platz macht ja die Scharoun’schen Bauten beinahe zu kleinen Anhängseln. Für die Berliner bleibt nach dem Lockdown aber die Gewissheit, in West und Ost und in weniger als einem Kilometer Gehdistanz zwei der architektonisch interessantesten Co-Working-Spaces für die Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts zu haben.