Mann und Kind liegen mit VR-Brille auf einer Couch
Getty Images/Westend61/Kniel Synnatzschke
Log-in statt Lockdown

Flucht in virtuelle Realitäten

Virtuelle Realität (VR) hat in den letzten Jahren technische Entwicklungen durchgemacht, die viele Userinnen und User anzieht. Gerade jetzt unter dem Eindruck des Lockdowns verlagern immer mehr Menschen ihre Bedürfnisse in dieses Medium. Psychologinnen und Neurobiologen erklären, warum VR immer wichtiger wird und als „Empathiemaschine“ funktionieren kann.

Was ist das, Realität? „Wenn du darunter verstehst, was du riechen, schmecken, hören oder sehen kannst, dann ist Realität nichts anders als elektrische Signale, interpretiert von deinem Verstand“ – so hat der Kultfilm „Matrix“ im Jahr 1999 die Möglichkeit beschrieben, unserem Hirn eine alternative, programmierte Wirklichkeit vorzuspielen.

Was das Hören und Sehen betrifft, so sind wir in den letzten Jahren der „Matrix“ – einer perfekten Simulation von Wirklichkeit – tatsächlich sehr nahegekommen. Ausgerechnet im Pandemiejahr 2020 hat Microsoft die gesamte Erdoberfläche – 510 Millionen Quadratkilometer – in fast fotorealistischer Qualität in den virtuellen Raum gebracht. Eine perfekte Scheinwelt, bei deren Erstellung – genau wie im Film – auch eine künstliche Intelligenz am Werk war. Das heimische Start-up Blackshark.ai aus Graz hat beispielsweise eine künstliche Intelligenz programmiert, die die Satellitenbilder von Microsoft scannt und mit digitalen Gebäuden erweitert.

Virtual Reality als Lebensmodell

Die Verlockung, mittels Virtual-Reality-Brille komplett in diese Parallelwelt ohne Reisebeschränkungen und ohne Ansteckungsgefahr einzutauchen, ist mit den sich stets erweiternden Angeboten größer denn je. Die VR ist für eine kleine Gruppe von „Early Adoptern“ gar zum alternativen Lebensmodell während des Lockdown geworden, zum Zufluchtsort für das Ausleben von Bedürfnissen, die in der normalen Welt gegenwärtig nicht befriedigt werden können.

Während der Flugsimulator von Microsoft auch ganz neue Gruppen für diese alternative Wirklichkeit begeistern kann, haben die bestehenden Plattformen eine seit Jahren bestehende, treue Community. VRChat, die größte Plattform in diesem Raum, hat seit dem Ausbruch der Pandemie einen Zulauf an Nutzern registriert. Musiker und DJs haben ihre Auftritte teilweise in diesen virenfreien digitalen Raum verlagert – und die Fans sind ihnen in die Virtualität gefolgt.

Großraumdiscoersatz und Kummerkasten

„Viele gehen auf Partys im virtuellen Raum. Gerade jetzt, wo es die Pandemie schwer gemacht hat. Sie passen ihr Sozialleben an die neuen Gegebenheiten an“, erzählt der YouTuber Syrmor Shiraz, der diese virtuelle Realität zu seinem Lebensmittelpunkt gemacht hat. Shiraz interviewt die Bewohner dieses virtuellen Raums und erreicht damit mittlerweile ein Millionenpublikum auf YouTube. Seine Reportagen zeigen, welchen Stellenwert dieser neue (Kultur-)Raum für seine – hauptsächlich jugendlichen – Interviewpartner hat.

„Ich kann in der virtuellen Realität Freunde gewinnen. Die Leute behandeln mich hier nicht anders wegen meiner Größe oder wegen meines Aussehens. Ich würde sagen, es ist die beste Form, anonym zu sein, ohne völlig unsichtbar zu werden“, so beschreibt ein als Kermit der Frosch verkleideter Jugendlicher die Vorteile von VR als Treffpunkt. Wie viele andere hier nutzt er das virtuelle Leben, um über die Probleme des echten Lebens nachzudenken. In seinem Fall geht es um ADHS, das ihm im Schulalltag zu schaffen macht.

Avatare beeinflussen Selbstbild

Die klinische Psychologin Anna Felnhofer forscht seit zehn Jahren an der medizinischen Universität in Wien an der Wirkung von VR. Avatare – so nennt man die virtuellen Körper der Nutzer in diesem digitalen Raum – sind für sie mehr als nur Verkleidungen. Die Rolle, die man im virtuellen Raum für sich wählt, würde sogar das Verhalten, das man in dieser Welt an den Tag legt, bestimmen: „Unser Selbstbild ist nichts Starres. Das lässt sich ein Stück weit formen. Wenn wir einen großen Avatar wählen, reagieren wir aggressiver gegenüber virtuellen anderen. Wenn wir einen attraktiven Avatar wählen, reagieren wir freundlicher und selbstbewusster. Wir haben gewisse Stereotype in uns abgespeichert, die sich dann auf uns übertragen“, so Felnhofer.

TV-Hinweis

„Fannys Friday“ widmet sich dem Thema mit der Dokumentation „Log-in statt Lockdown“ am Freitag, 29. Jänner, 16.40 Uhr, ORF1.

Die VR ist erst auf dem Sprung in den Massenmarkt. Die großen Tech-Firmen – allen voran Facebook – investieren viel, um immer mehr Nutzern diesen neuen, digitalen Raum auch als sozialen Treffpunkt schmackhaft zu machen. Denn andere Avatare in einem virtuellen Raum zu treffen sei viel persönlicher als die Videochats via Skype, Zoom und Co., die der Lockdown zum neuen Standard unseres Soziallebens gemacht hat, meint Shiraz: „Mit Leuten, die ich zuerst in der virtuellen Realität und erst später im echten Leben kennengelernt habe, war es immer sehr einfach, eine gute Gesprächsbasis zu finden. Denn die haben wir schon im virtuellen Raum etabliert. Virtuelle Realität ist vereinnahmender als Text- oder Videochats.“

VR-Brillen als „Empathiemaschinen“

Gerade weil die VR-Brillen die Userinnen und User völlig vereinnehmen, werden sie auch gerne als „Empathiemaschinen“ bezeichnet. VR-Filme ermöglichen ihren Trägern etwa, die USA aus der Sicht schwarzer Menschen zu sehen („Traveling While Black“) oder die Dimension und Tristesse eines Flüchtlingslagers zu begreifen („Clouds Over Sidra“). Die VR-Brille eröffnet aber auch der Psychotherapie völlig neue Perspektiven: Ein spanisches Künstler- und Therapeutenkollektiv hat eine Möglichkeit aufgezeigt, Menschen mittels VR-Brille in den Körper eines anderen schlüpfen zu lassen („The Machine to be Another“).

Immersion als Vorteil

Der Neurobiologe Bernd Hufnagl sieht die Vorteile dieser neuen virtuellen Welt in ihrer Immersion – in der Möglichkeit, total in sie einzutauchen. „Es sind die archaischen Areale unseres Gehirns, die ausschlaggebend sind, ob wir uns etwas merken. Immer dann, wenn Emotionen mit Fakten verbunden werden, kann man das Gelernte auch wieder wunderbar abrufen. Wenn wir uns involvieren – wenn etwas im positiven Sinne ansteckend ist, dann bedeutet das besseres Lernen.“

In VR kann man viel erleben – vielleicht sogar zu viel, meint Hufnagl, der in seinen Vorträgen und Büchern seit Jahren vor einer Überforderung des Homo Sapiens warnt: „Es sind die Grenzen zwischen privat und beruflich verschwommen in den letzten Jahren, jetzt auch die Grenzen zwischen real und virtuell. Das führt dazu, dass wir Säugetiere keinen Rückzugsort mehr finden. Denn wir haben evolutionsbiologisch die Unfähigkeit geerbt, uns gegen etwas zu entscheiden, etwas nicht anzusehen. Diese neue virtuelle Welt bietet so viele Optionen, dass wir das dringend lernen sollten.“

Überforderung vorprogrammiert?

Laut Hufnagl ist VR eine künstliche Welt, die zu viel bietet. In einer Zeit, in der die echte Welt vielen zu wenig Reize bietet, ist sie aber verlockend. Auch nach der Pandemie wird die virtuelle Realität wohl neue Bewohner anlocken können, denn der Raum, den sie bietet, wird in der echten Welt immer knapper.

Im Jahr 2050 werden zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben, zwei Drittel davon in Städten, in denen der reale private Raum als „Real Estate“ schon heute zum Luxusgut geworden ist. Welche Rolle spielt in dieser Situation der unendlich verfügbare virtuelle Raum? Für den YouTuber Shiraz ist er längst zur zweiten Wirklichkeit geworden: „Avatare zu interviewen wirkt jetzt vielleicht noch seltsam. Aber VR wird bald viel populärer werden. Und dann bin ich nur noch einer von vielen, die aus dieser virtuellen Welt berichten.“