Zeichnung einer Volksschülerin
ORF.at/Carina Kainz
Volksschule

Eingeschult im Dauerkrisenmodus

Seit Monaten durchlebt auch der Schulbetrieb ein Wechselbad der Gefühle. Einmal wird das Gebäude geschlossen, dann ist es für Betreuung offen, künftig herrscht Schichtbetrieb. Nur die Volksschule nimmt den Betrieb vorerst ganz auf. Für die jüngsten Schülerinnen und Schüler bedeutet die Rückkehr in die Klasse auch eine Flucht aus dem Dauerkrisenmodus.

Nach den Semesterferien sollen Volksschulkinder wieder vollkommen in den Präsenzunterricht wechseln. In Wien und Niederösterreich ist das am Montag der Fall, in den restlichen Bundesländern eine Woche später. Für die Schülerinnen und Schüler soll im ganzen Gebäude eine Maskenpflicht gelten, nicht jedoch am Sitzplatz. Außerdem dürfen die Kinder nur am Präsenzunterricht teilnehmen, wenn sie zuvor negativ auf das Coronavirus getestet wurden. Wenn Eltern nicht wollen, dass ihr Kind getestet wird, gilt wie bisher das Homeschooling.

In den vergangenen Monaten haben einige Kinder ihre Aufgaben zu Hause erledigt, die meisten jedoch in der Schule. Unterrichtet wurden die Kinder aber nicht, sondern „betreut“, wie Volksschullehrerinnen gegenüber ORF.at berichten. Ob Abc, das kleine Einmaleins oder „Wie funktioniert die Uhr?“: Vieles mussten die Schülerinnen und Schüler unter „anderen Bedingungen“ lernen. Für Kinder, die erst eingeschult wurden und mit der Institution Schule in all ihren Facetten zum ersten Mal in Kontakt kommen, seien Beziehungen sehr wichtig, sagt Roman Langer, Bildungsforscher an der Johannes-Kepler-Universität Linz.

„Soziale Aspekte des Lernens“

„Aus der Forschung wissen wir, dass für Kinder, die gerade eingeschult werden, das Verhältnis zum Lehrpersonal und zu den anderen Kindern eine große Rolle spielt“, sagt Langer. Wenn dieses Vertrauensverhältnis plötzlich wegfällt, wie etwa durch Einschränkungen im Alltagsleben, und die Lehrerin kaum noch die Möglichkeit hat, einen Draht zum Kind herzustellen, drohe ein Lernrückstand. Dabei gehe es nicht nur um die Frage nach den kognitiven Leistungen der Kinder. „Wir müssen uns auf die sozialen Aspekte des Lernens fokussieren“, sagt Langer, der sich auch mit den Ursachen von Bildungsungleichheit beschäftigt.

Die Mehrheit der Lehrerinnen, mit denen ORF.at sprach, bestätigt diese Einschätzung. Die Schulen seien zwar gut auf die Maßnahmen vorbereitet gewesen. „Den Kindern fehlt aber ein geregelter Schulalltag, wie ihn ältere Schüler schon erlebt haben“, sagt eine Lehrerin einer ersten Klasse. Nach den Weihnachtsferien sei etwa einer ihrer Schüler, der zuvor im Homeschooling war, zurück in die Klasse gekommen und habe sich gar nicht mehr ausgekannt. „Auch die Kinder brauchen Strukturen, und sei es nur ein Sesselkreis am Montag, wo wir miteinander darüber reden, was wir am Wochenende getan haben“, sagt sie. Das sei zu kurz gekommen.

Volksschüler im Präsenzunterricht
ORF.at/Carina Kainz
In der ersten Klasse kommen die Kinder auch zum ersten Mal mit der Institution Schule in Kontakt

Eine Lehrerin aus dem Burgenland erzählt, dass ihre Schülerinnen und Schüler selbstständiger geworden seien. Im ersten Lockdown seien die Kinder „plötzlich“ aus ihrer Routine gerissen worden. Für den Herbst habe man die Lernpakete und den Onlineunterricht besser vorbereitet, sagt sie. Man habe gelernt, Aufgaben „richtig zu lesen“ – und auf dem Land sei die Kommunikation zu den Eltern ohnehin sehr rege, wie sie sagt. Eine Pädagogin aus Kärnten hat für jeden Buchstaben des Abc ein Video aufgenommen. „Darin erkläre ich, wie man den Buchstaben schreibt und ausspricht“, so die Lehrerin. „Die Kinder machen ja nicht nichts. Ich sehe, ob etwas gemacht wurde, aber nicht wie.“

Unterstützung der Eltern im Vordergrund

Damit spricht die Lehrerin das an, was alle Eltern betrifft: Wie kann das Kind in dieser Situation bestmöglich unterstützt werden? Diese Frage sei auch ohne Lockdown für manche Väter und Mütter schwierig zu beantworten, so Bildungsforscher Langer. „Alle Eltern wollen ihre Kinder fördern, aber manche Eltern können ihren Kindern einfach mehr bieten als andere“, sagt er.

Ein Kind, das in einer „weniger anregenden Lernumgebung“ aufwächst, hätte es doppelt schwer: Zum einen fehlt es zu Hause womöglich an Geld, Unterrichtsmaterialien und an der nötigen Unterstützung für die Hausaufgaben. Zum anderen sind diese Kinder stärker an häusliche Verpflichtungen gebunden – zum Beispiel Aufpassen auf die kleineren Geschwister oder Einkäufe erledigen.

Eine Volksschullehrerin aus Wien beschreibt die vergangenen Wochen ähnlich: „Bei Kindern, die gut in der Schule sind und die Eltern haben, die sie beim Lernen unterstützen können, gibt es kaum Probleme.“ Anders sei die Situation bei Schülerinnen und Schüler, die zu Hause mit unterschiedlichen Problemen konfrontiert sind. „Entweder sie sind in der Klasse nicht bei der Sache, oder die Eltern bringen die Lernpakete nicht zurück“, erzählt sie. „Wir liegen, was den Lernstoff betrifft, Wochen zurück. Einige Kinder hätten während des Lockdowns den Stoff, den wir schon durchgenommen haben, wieder vergessen.“

Langer verweist auf das Phänomen des „Summer Learning Loss“, des sommerlichen Lernverlusts. Es besagt, dass, je länger Ferien dauern, desto höher die Wahrscheinlichkeit ist, dass Schüler und Schülerinnen das Erlernte wieder vergessen. Jedoch trifft es nicht auf alle Kinder und Jugendliche gleich stark zu. "In Haushalten, wo Bildung ohnehin großgeschrieben wird, spielt der Verlust kaum eine Rolle.

Es fallen jene Kinder stärker zurück, die ihre Bildung ausschließlich über die Schule erlangen", so Langer. Und wenn der Unterricht wieder startet, haben diese Kinder auch einen weiteren Nachteil: „Sie müssen sich wieder in die spezifische Lern- und Anforderungskultur der Schule einarbeiten, um wieder anknüpfen zu können - was leider nicht immer gelingt.“

Dividieren statt teilen

Es seien „Kleinigkeiten“, die einer Lehrerin aufgefallen seien. „Wenn die Kinder zu Hause nicht laut lesen, merke ich das. Dann lesen sie in der Klasse auch anders. Oder wenn Eltern vom Dividieren sprechen, schlägt sich das durch. Wir sagen Teilen dazu“, betont sie. Die Lehrerin sieht darin zwar kein „größeres Problem“, aber im Lockdown sei die Art und Weise, wie Eltern ihre Kinder beim Lernen unterstützen, noch stärker zum Vorschein gekommen. „Die Väter und Mütter konnten mich aber jederzeit anrufen, wenn es Fragen zu den Aufgaben gab“, sagt sie. Für eine Lehrerin sei der Lernstoff ja selbsterklärend, für Eltern, die damit nichts zu tun haben, eher nicht.

Bursch sitzt daheim mit seinem vater vor dem Laptop und seinen Schulunterlagen
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Im Homeschooling übernehmen die Eltern eine noch stärkere Rolle beim Lernen – und das sieht man laut Lehrerinnen auch

Eine Pädagogin, die eine vierte Volksschulklasse unterrichtet, sagt, dass sie unter Druck stehe. Am Ende des Schuljahres stehen ihre Kinder vor einem Schulwechsel. „Wir müssen die Schüler nach ihren Leistungen benoten, aber wegen der Beschränkungen milde“, wie sie erklärt. Es sei nicht auszuschließen, dass die Noten heuer nach anderen Kriterien vergeben werden als noch vor einem Jahr. Das könnte auch zur Folge haben, dass manche Kinder auf Schulen kommen, „die nicht zu ihnen passen“, sagt die Lehrerin.

Laut den jüngsten Daten der Statistik Austria wechselten 2018 knapp 60 Prozent der Kinder nach der vierten Klasse Volksschule in eine Neue Mittelschule (früher Hauptschule), während 40 Prozent in die AHS-Unterstufe (inkl. Modellversuch Neue Mittelschule an AHS) übertraten. Der Anteil der AHS-Unterstufe ist dabei seit vielen Jahren zwar nur leicht, aber kontinuierlich im Steigen begriffen. In Wien wechselt die Mehrheit der Viertklässler in eine AHS-Unterstufe, in den restlichen Bundesländern in die Neue Mittelschule.

Der Weg in eine neue Schule

Auch Langer blickt mit großem Interesse auf das nächste Semester und vor allem auf die Bildungswegsentscheidungen nach der vierten Volksschulklasse. In Studien sei nachgewiesen worden, dass die Empfehlungen vielfach nicht nur von den real erbrachten Leistungen der Schüler und Schülerinnen abhängt, sondern auch vom familiären Hintergrund der Kinder. „Kinder aus benachteiligten oder bildungsfernen Familien müssen zum Teil deutlich höhere Leistungen erbringen, um eine AHS-Empfehlung zu bekommen als Kinder aus höheren sozialen Schichten“, sagt Langer.

Die Empfehlungen der Lehrkräfte seien zwar unverbindlich und sollen als Orientierungshilfe dienen. Dennoch würden sich bildungsferne Eltern eher dem Urteil der Lehrkräfte anschließen – während bildungsnahe Eltern versuchten, selbst ein Urteil zu fällen. Der Bildungsforscher geht davon aus, dass Lehrerinnen und Lehrer den Eltern öfter als bisher die Neue Mittelschule für ihre Kinder empfehlen werden. Wenn die Schule unter Coronavirus-Bedingungen den Lernstoff weniger gut vermitteln kann, dann könnte die Frage, ob Eltern ihre Kinder in einem Gymnasium unterstützen können, die Empfehlung der Lehrkräfte noch mehr beeinflussen.

Aber egal, wie sich Eltern, Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler entscheiden: Es wird laut Langer ein besonderer Jahrgang werden, der vielleicht mit faktischen Lernverlusten einhergeht. „Dazu gibt es aber noch zu wenig Forschung“, sagt er. Wichtig sei, dass Schülerinnen und Schüler auf allen Ebenen unterstützt werden. Eine Möglichkeit wäre auch, ihnen Räume zu schaffen, wo sie untereinander kommunizieren und Beziehungen aufbauen können. Die Lehrerin aus dem Burgenland pflichtet Langer bei: „Die Kinder müssen sich wohlfühlen.“