Ein Bub nimmt am Zoom-Meeting einer Schulklasse mit Lehrerin teil
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Kinder in der Pandemie

Aggression und emotionale Krisen

Die CoV-Krise hat drastische Auswirkungen auf die Psyche von Kindern. Emotionale Krisen, depressive Episoden und Essstörungen seien seit dem Vorjahr verstärkt zu beobachten, sagt die Kinderpsychiaterin Kathrin Sevecke. Buben und Mädchen reagieren unterschiedlich auf Pandemie und Lockdown – die einen aggressiv, die anderen mit „Traumasymptomen“.

Sevecke ist Primaria der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Landeskrankenhaus Innsbruck und Hall und Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (ÖGKJP). Seit dem Vorjahr untersuchen sie und ihr Team in Nord- und Südtirol, wie die Krise auf die Psyche von Kindern und Eltern schlägt. Im Fokus steht die Gruppe der Drei- bis Zwölfjährigen. Mitte Dezember startete die zweite große Befragungsrunde unter Familien. „Die Quarantänemaßnahmen haben klar negative Auswirkungen auf die Lebensqualität“, zieht Sevecke gegenüber ORF.at eine Zwischenbilanz.

Daneben förderte die Untersuchung laut der Kinderpsychiaterin eine weitere interessante Erkenntnis zutage: Im Umgang mit der Krise zeigen Buben und Mädchen unterschiedliche Verhaltensweisen. Die älteren Buben – im Alter zwischen acht und zwölf – „waren aus Sicht der Eltern wesentlich aggressiver und hatten mehr Aufmerksamkeitsprobleme durch die Qurantänemaßnahmen und das Homeschooling“, so Sevecke.

Bei den Mädchen seien dagegen „traumaähnliche Symptome“ zu beobachten. Sie träumten schlecht, hatten Probleme beim Ein- und Durchschlafen, waren beunruhigt und leicht zu erschrecken. Betroffen waren nicht nur größere Kinder. Auch die Eltern von Mädchen im Kindergartenalter berichteten laut Sevecke, ihre Töchter litten an Unwohlsein, Kopfweh und Übelkeit. „Wir interpretieren das als Symptom emotionaler Belastung“, sagte die Kinderpsychiaterin.

Kinderpsychiatrien überfüllt

Die Erkenntnisse der Studie decken sich mit Seveckes Beobachtungen aus der Praxis. „Seit einem Jahr sehen wir eine deutliche Zunahme an emotionalen Störungen, an Krisen, an depressiver Entgleisung, aber auch an schweren Verläufen von Essstörungen“, sagte Sevecke.

Die Untersuchung der Tiroler Forscherinnen und Forscher läuft noch bis Ende Jänner. Eltern und Kinder können auch online teilnehmen.

Die Intensiv- und Krisenabteilung an der Kinderpsychiatrie ihres Spitals sei überbelegt. Ähnlich die Lage in den anderen Bundesländern: Am Wiener AKH etwa ist die Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie überfüllt, berichtete Leiter Paul Plener gegenüber Ö1 – mehr dazu in wien.ORF.at. An der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Christian-Doppler-Klinik in Salzburg gingen in der Vorwoche die freien Betten aus – mehr dazu in salzburg.ORF.at.

Belastung auch für „gut situierte Familien“

Wer wie stark von der Krise betroffen ist, hängt Sevecke zufolge auch mit wirtschaftlichen Faktoren zusammen – aber nicht nur. Bei Familien, die über eine bessere finanzielle Ausstattung verfügen, mehr Platz in Haus oder Wohnung haben und sich die entsprechenden Geräte für den Heimunterricht leisten können, sei die Belastung insgesamt geringer. „Aber auch bei gut situierten Familien gibt es emotionale Belastungen und Stress durch Homeschooling“, so Sevecke.

Viel hängt von den Kindern und ihren „persönlichen Ressourcen“ ab, wie es die Kinderpsychiaterin ausdrückt. Die Persönlichkeiten der Kleinen können sehr verschieden sein – manche neigen zur Ängstlichkeit und sorgen sich mehr, während andere relativ angstfrei durchs Leben gehen. Das große Problem sei aber, dass die großen „Entwicklungsfelder Schule und Freizeit“ für Kinder und Jugendliche derzeit blockiert sind.

Kinderärztin Karall über Belastungen für Kinder im Lockdown

Daniela Karall, Präsidentin der Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde, spricht über die psychischen Belastungen, die Kinder im Lockdown ertragen müssen.

Eine Rolle spielt auch, wie stark die Krise Eltern trifft. Jobverlust, Kurzarbeit, finanzielle Engpässe, Heimunterricht, Covid-19-Erkrankungen im nahen Umfeld – „die Belastung für Eltern hat zugenommen“, sagte Sevecke, „und die Anspannung der Eltern überträgt sich auf die Kinder“.

Kinder mit „guter Antenne“ für Emotionen

Dem Nachwuchs etwas vorzuspielen und die Probleme für sich zu behalten, funktioniere nicht. „Kinder haben eine gute Antenne für emotionale Zustände der Eltern“, so Sevecke. Eltern rät sie, mit den Kindern offen über die Situation zu sprechen und ihnen nicht zu viel Leistungsdruck beim Heimunterricht zu machen.

Ein weiteres Thema ist die Angst von Kindern, die Großeltern mit dem Coronavirus anzustecken. Eltern sollten ihre Kinder sachlich und unaufgeregt über die Risiken informieren, sagte Sevecke. Hysterie, übertriebene Angst und Schuldzuweisungen seien fehl am Platz. Mittlerweile gebe es eine Vielzahl von Aufklärungsbüchern und -materialien, in denen Kindern jeden Altersspektrums der Umgang mit Hygienemaßmaßnahmen, FFP2-Masken, Händedesinfektion und Abstand erklärt werde.

Sorge bereitet der Expertin, dass Kinder und Jugendliche im Lockdown noch mehr Zeit vor dem Bildschirm verbringen. Kommunikationskanäle wie Videochat-Apps seien positiv, etwa um regelmäßigen Kontakt mit den Großeltern zu halten. Die Kombination aus Videochat, digitalem Unterricht und stundenlangem Computerspielen aber könne Kinder zusätzlich stressen und Symptome wie Bewegungsunruhe, Schlafstörungen und Kopfweh hervorrufen.

Lockdown vorbei – Krise dauert an

Was die Entwicklung betrifft, geht Kindern und Jugendlichen in der Krise „etwas verloren“, ist Sevecke überzeugt. Wie stark die langfristigen Auswirkungen sein werden, könne man noch nicht absehen. Eindeutig sagen lasse sich laut Sevecke aber bereits, dass nach dem Ende des Lockdowns „nicht sofort wieder alles beim Alten sein wird. Die seelischen und emotionalen Schwierigkeiten der Jugendlichen dauern an.“

Beim Thema Schulöffnungen plädiert Sevecke dafür, den „Nutzen-Risiko-Faktor“ stärker miteinzubeziehen. Die Politik sollte die vorliegenden Hygienekonzepte für eine Öffnung von Schulen und Freizeitstätten „unter Abwägung des Risikos von psychischer Belastung von Kindern und Jugendlichen sehr, sehr genau prüfen“.