EU-Ratspräsident Charles Michel
APA/AFP/Kenzo Tribouillard
EU-Impfstoffdebatte

Michel bringt Notmaßnahmen ins Spiel

EU-Ratspräsident Charles Michel hat am Donnerstag Notmaßnahmen ins Gespräch gebracht, um die Coronavirus-Impfungen in Europa zu beschleunigen. Sollten keine befriedigenden Lösungen mit den Herstellern gefunden werden, „sollten wir alle Optionen prüfen und alle juristischen Mittel und Durchsetzungsmaßnahmen nutzen“, teilte Michel dazu mit.

Konkret bringt Michel Artikel 122 der EU-Verträge ins Spiel, der Notmaßnahmen bei Versorgungsengpässen ermöglicht. Die EU-Staaten könnten die Kommission beauftragen, gezielte Maßnahmen zur Beschleunigung der Impfkampagne zu ergreifen, wie es nach dpa-Angaben dazu aus EU-Kreisen hieß.

Das könnten etwa Vorkehrungen sein, Impfstoffe bereits vor der Zulassung an die EU-Staaten zu verteilen. Es könnte aber auch bis hin zu Zwangslizenzen für Impfstoffe gehen, sodass Konkurrenten diese gegen Gebühr produzieren könnten.

Lieferengpass von AstraZeneca durchkreuzt Impfpläne

In knapp zwei Wochen könnte die erste Lieferung von Impfstoffdosen von AstraZeneca in Österreich eintreffen. Noch ist dieses Serum nicht zugelassen, das wird allerdings für Freitag erwartet. Mehr Sorge machen die angekündigten Lieferengpässe von AstraZeneca, die die Impfpläne EU-weit durcheinanderbringen.

Weiter keine Lösung mit AstraZeneca

Michel reagierte mit dem Schreiben auf einen Brief von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und dessen Amtskollegen aus Dänemark (Mette Frederiksen), Griechenland (Kyriakos Mitsotakis) und Tschechien (Andrej Babis) von voriger Woche. Sie hatten sich unter anderem für ein schnelles Zulassungsverfahren für Impfstoffe bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) starkgemacht.

Die EMA wird voraussichtlich am Freitag eine Empfehlung zur Zulassung des Mittels von AstraZeneca geben. Angesichts der vom britisch-schwedische Hersteller zuletzt angekündigten Lieferkürzungen, aber auch einer im Raum stehenden nur eingeschränkten Zulassung wackeln in vielen EU-Ländern, darunter auch in Österreich, nun aber die bisher verfolgten Impfpläne.

Eine Lösung, wie die Lieferengpässe beseitigt werden könnten, ist weiter ausständig. Es sei an dem Unternehmen, Vorschläge dazu zu machen, wie es die Verpflichtungen aus seinem Liefervertrag erfüllen wolle, sagte ein Kommissionssprecher am Donnerstag in Brüssel. Einen Termin für weitere Gespräche mit dem Unternehmen gebe es noch nicht.

Von der Leyen pocht auf ausgemachte Lieferungen

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen pocht auf die vertraglich mit AstraZeneca vereinbarten Impfstofflieferungen. „Es gibt verbindliche Bestellungen, und der Vertrag ist glasklar“, sagte sie am Freitag im Deutschlandfunk. Darin würden ganz klare Liefermengen für das erste, zweite und dritte Quartal genannt und die Produktionsstandorte dafür. Das Unternehmen habe für die drastische Reduzierung der Liefermenge keinen nachvollziehbaren Grund angegeben und müsse seine Lieferverpflichtungen erfüllen.

Deswegen sei es auch wichtig, dass der Vertrag öffentlich gemacht werde. Bei einem solchen Projekt seien Startschwierigkeiten verständlich, sagte von der Leyen. Sie fordere aber Transparenz und eine plausible Erklärung. Dann könne man auch gemeinsam an der Lösung dieser Probleme arbeiten.

Diskussion seit einer Woche

Der Streit hatte am Freitag vergangene Woche mit der Ankündigung des Herstellers begonnen, nach der für diese Woche erwarteten Zulassung des Impfstoffs weit weniger an die EU zu liefern als zugesagt. Statt 80 Millionen Impfdosen sollen nach EU-Angaben bis Ende März nur 31 Millionen ankommen. Den angegebenen Grund – Probleme in der Lieferkette – will die EU nicht gelten lassen. Sie fordert Vertragstreue.

Die EU hatte schon im August bis zu 400 Millionen Impfdosen von AstraZeneca bestellt und nach eigenen Angaben 336 Millionen Euro für Entwicklung und Fertigung vorgestreckt. Nach Darstellung der EU-Kommission hätte AstraZeneca seit Oktober auf Vorrat produzieren müssen, damit der Impfstoff sofort nach der Zulassung in der EU bereitsteht.

„Wir prüfen jetzt Dokumente und Daten“

Ein Kommissionssprecher bekräftigte, dass die EU erwarte, dass notfalls auch Impfstoff aus Werken in Großbritannien an sie geliefert werde. Die EU-Kommission bestätigte zudem eine Inspektion der belgischen Behörden in dem von Produktionsschwierigkeiten betroffenen Werk.

Warten auf EMA-Entscheidung

Am Freitag soll die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) darüber entscheiden, ob der Impfstoff des Herstellers AstraZeneca in der EU zugelassen wird.

Die belgische Arzneimittelbehörde (AFMPS) bestätigte am Donnerstag eine im Auftrag der EU-Kommission erfolgte Visite in der AstraZeneca-Produktionsstätte in Seneffe. „Wir prüfen jetzt Dokumente und Daten“, sagte AFMPS-Sprecherin Ann Eeckhout der Nachrichtenagentur AFP.

Nach Angaben aus dem belgischen Gesundheitsministerium soll die Überprüfung des Werks nun Aufschluss darüber geben, ob die Verzögerung – wie von AstraZeneca angegeben – tatsächlich auf ein Produktionsproblem in dem belgischen Standort zurückzuführen sei. Ein Sprecher der EU-Kommission teilte mit, dass die Ergebnisse „mit Experten aus anderen Mitgliedsstaaten analysiert werden“.

EU widerspricht AstraZeneca-Darstellung

Die EU wies am Mittwoch Angaben von AstraZeneca zur Begründung von Lieferengpässen zurück. „Wir bestreiten viele Dinge in diesem Interview“, sagte ein EU-Vertreter am Mittwoch mit Blick auf ein Gespräch von Unternehmenschef Pascal Soriot mit mehreren europäischen Zeitungen. Soriot hatte in dem Interview, das unter anderem die deutsche „Welt“ veröffentlichte, gesagt, AstraZeneca habe den Liefervertrag mit Großbritannien drei Monate früher als mit der EU geschlossen.

Deshalb habe es dort mehr Zeit gegeben, um „Anfangsprobleme“ zu beheben. In der EU habe es mit einem Werk in Belgien dann „einen Standort mit großer Kapazität gegeben, der Ertragsprobleme hatte“, zitierte etwa die italienische Zeitung „La Repubblica“ den Firmenchef. „Wir glauben, dass wir diese Probleme in den Griff bekommen haben, aber wir liegen im Grunde zwei Monate hinter dem zurück, wo wir sein wollten“, sagte Soriot weiter. Allerdings habe sich sein Unternehmen in der Vereinbarung mit der EU ohnehin nicht zu festen Liefermengen verpflichtet. Dem widerspricht die EU.

Zeitung: Hersteller will Vertrag veröffentlichen

Wegen des Streits ist AstraZeneca einem Zeitungsbericht zufolge bereit, den Impfstoffvertrag mit der EU zu veröffentlichen. Die Hausjuristen arbeiteten derzeit an einem Vorschlag, welche heiklen Teile geschwärzt werden sollten, berichtet die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ unter Berufung auf EU-Kreise. Dieser solle mit der EU abgestimmt werden. Die Veröffentlichung sei für Freitag geplant.

Ein EU-Vertreter hatte bereits zuvor über eine Vereinbarung, die man im August mit dem Unternehmen getroffen habe, informiert. Sie sehe Flexibilität bei den Produktionsstätten vor, hieß es. „Wenn es also in einem Werk in Belgien ein Problem gibt, haben wir Kapazitäten auch in anderen Werken in Europa und Großbritannien“, hieß es vonseiten des EU-Vertreters. Dass die EU ihren Vertrag später abgeschlossen habe, spiele ebenfalls keine Rolle. „Wir weisen die Logik des ‚Wer zuerst kommt, mahlt zuerst‘ zurück.“