Farbdruck zum Festspielhaus in Bayreuth aus dem Jahr 1931
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Neuer Alex Ross

Die Welt und das Wagner-Fieber

Auf den Lockdown-Blues gibt es zwei mögliche Antworten: Dauerserienkonsum. Oder Dauerkonsum großer Buchschwarten. Im Fach der Kulturgeschichte sorgte zuletzt Orlando Figes mit seinen „Europäern“ und der Idee, dass die Vorstellung eines gemeinsamen Europas in der Oper begründet liegen könnte, für Furore. Musikkritiker Alex Ross hat mit einem Monsterwerk über Wagner in diesem Fach nachgelegt und damit nicht nur das 19. Jahrhundert nachvermessen. Mit Ross könnte man schließen: Kein Wunder, dass Europa an sich leidet – wir mussten uns 150 Jahre an Richard Wagner abarbeiten.

Große Bücher, auch wenn sie auf dem Terrain der Kulturgeschichte mächtige Themen verhandeln, beginnen mit einem Staunen. Jürgen Osterhammels „Verwandlung der Welt“ zur Geschichte des 19. Jahrhunderts richtet seinen Blick etwa auf den Faktor Beschleunigung und Verdichtung. Figes staunt über die einende Kraft, die von einer Kunstform wie der Oper für eine gemeinsame Vorstellung von Europa ausging. Und Ross? Der breitenwirksame Musikkritiker des „New Yorker“ staunt nach Werken wie „The Rest is Noise“ und „Listen to This“ über eine Figur, an der niemand in den letzten 150 Jahren, egal ob mit Begeisterung oder Ekel, vorbeigekommen ist: Richard Wagner.

Auf Wagner beriefen sich Modernisten, Antimodernisten, Rassisten, Feministen, Homosexuelle, ja sogar die schwarze Bürgerrechtsbewegung. Er war Rückprojektionsfläche für den Wahn eines Adolf Hitler, der schon als junger Mann in Wien jedes Detail der Wagner-Opern kannte, Skizzen für Wagner-Inszenierungen schuf und seinen Reichsparteitagskitsch wie aus den „Meistersingern von Nürnberg“ abzuleiten schien.

„Wagner hat Hitlers Liebe überlebt“

„Wie immer die Einschätzung Wagners als ‚Proto-Nazi‘ zu bewerten ist – sein Nachruhm hatte eine tragische Komponente“, schreibt Ross im Einleitungskapitel seines jüngsten Werks: „Ein Künstler, der wie Aischylos oder Shakespeare universelle Anerkennung in greifbarer Nähe hatte, wurde erfolgreich auf eine kulturelle Abscheulichkeit reduziert – auf die Begleitmusik des Genozids.“ Und doch, so legitimiert Ross seinen Zugang, habe Wagner „Hitlers Liebe“ überlebt.

Lithographie von Franz Strasser zu Wagners Rheingold
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Körper- und Rollenbilder zu Wagner, etwa im Jugendstil von Franz Stassen

Ross mag in seinem Buch das „backshadowing“ zu Wagner vermeiden, wie es der Literaturwissenschaftler Michael Andre Bernstein auf den Punkt gebracht hat: „Wir versuchen eine historische Katastrophe zu erklären, indem wir sie nach einem strengen teleologischen Muster als den Höhepunkt eines bitteren Weges mit unvermeidlichem Ende betrachten.“

Dieser Gefahr entzieht sich Ross mit der leitmotivischen, schlaglichtartigen Betrachtung des Wagnerismus. Denn wo Wagner ins Spiel kommt, ist immer ein tragisches Ende nahe, nicht nur in den „Buddenbrooks“ von Thomas Mann, wo eine Frau namens Gerda ein hundertjähriges Lübecker Handelshaus in den Abgrund reißt, weil ihr die richtige Interpretation Wagners wesentlicher ist als die positive Bilanz des Handelskontors. Was ist schon die Welt, wenn der Wagner nicht sitzt?

Große Wirkung über die Musik hinaus

„Wagners Wirkung auf die Musik war gewaltig“, erinnert Ross: „Doch sie war nicht größer als die von Monteverdi, Bach oder Beethoven.“ Jedoch sei Wagners Wirkung auf andere Kunstformen „beispiellos“ und seither nicht mehr erreicht worden, auch nicht auf dem Terrain der populären Kunst. Wagner hatte, so könnte man auch auf die Erfahrungen des Beethoven-ABC von ORF.at zurückgreifen, musikalische Lösungen, die sich vor ihm so noch niemand getraut hatte. Und er hatte, anders als Beethoven, gesamtästhetische Vorstellungen seiner Kunst. Diesen Ansatz macht Ross sehr plastisch, geht es ihm doch darum, das Faszinosum Wagner besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auszuleuchten.

A.v.Werner, Enthüllung Wagner-Denkmal im Berliner Tiergarten 1903
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Einweihung des Wagner-Denkmals im Berliner Tiergarten um 1900

Herzl in Paris: Von der Skepsis zur Wagner-Begeisterung

Der junge Theodor Herzl etwa veranschaulichte in seinen Kulturkritiken als Paris-Korrespondent der „Neuen Freien Presse“ (des von Wagner so gehassten Eduard Hanslick, der ja in der Figur des Beckmessers in den „Meistersingern“ seine Verewigung gefunden hatte) das Kippen der Wagner-Skepsis (auch seiner eigenen) in eine Wagner-Bewunderung anlässlicher der Pariser „Tannhäuser“-Premiere 1861.

Die Feindseligkeit sei der Bewunderung gewichen, schreibt Herzl; aus dem Boulevard „sprießen jetzt Wagner-Forscher wie Pilze“: „Wie diese Musik geliebt wird! Wer hat das mir zuwege gebracht? Wer? Der rätselhafte, der große Kuppler: Erfolg.“

Zugleich schreibt Herzl an seinem Manifest „Der Judenstaat“ und notiert nach einer Lektüre von George Eliots „Daniel Deronda“ in sein Tagebuch, das zionistische Experiment solle Wagner’sche Ausmaße annehmen: „Moses’ Auszug verhält sich dazu, wie ein Fastnachtspiel von Hans Sachs zu einer Wagner’schen Oper.“

Die Bedeutung Frankreichs für den Wagnerismus

Überhaupt ist Frankreich jenes Terrain, das Ross in der Durchsetzung des Wagnerismus am meisten fasziniert. Da ist nicht nur die schwierige Etablierung von Wagner bei seinen ersten Pariser Aufenthalten und seine als Schmach empfundene Abhängigkeit vom Juden Giacomo Meyerbeer (was Ross als biografische Triebfeder in Wagners Antisemitismus deutet). Ross fasziniert das Kippen der Anti-Wagner-Stimmung in Paris zur „Wagnermania“.

„Die Rhetorik der permanenten Revolution“ habe die französischen Nonkonformisten trotz Wagners etwa abgründiger Äußerungen über die Belagerung von Paris (1870/71) begeistert: „Wagner war modern, er war dekadent, und er war gefährlich.“ Mit Wagner konnte man als etablierter Künstler, Ross blickt dabei etwa auf Emil Zola, eine Kehre im eigenen Werk weg von Realismus und Naturalismus vollziehen: „Für die Wagneristes hatte der Komponist nur wenig mit Deutschland zu tun, er repräsentierte vielmehr den internationalen Aufstand gegen den künstlerischen Status quo.“

Seit Baudelaire müssen sich die Erneuerer in der Literatur, wie Ross ausführlich zeigt, auf Wagner berufen. Wir müssen „zur Tiefe des Unbekannten, etwas Neues zu erfahren“, heißt es bei Baudelaire, den Ross wegen einiger Briefe Baudelaires an Wagner in die Rolle des Chefapologeten rückt.

Auseinandersetzung mit Wagner anlässlich der Lohengrin-Premiere 1891 in Paris
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Bis zum Endes des Jahrhunderts begleiteten Tumulte und Schlägereien die Aufführung von Wagners Werken in Frankreich: Auseinandersetzung mit Wagner 1891 in Paris anlässlich der Aufführung des „Lohengrin“

Vermischung von Kunst und Politik

In der Auseinandersetzung mit Wagner finde letztlich auch eine tiefe Vermischung von Kunst und Politik statt, erinnert Ross an das Beispiel Gabriele d’Annunzio. D’Annunzios „Trionfo della morte“ ist eng an der Vorlage zu Wagners „Tristan“ geführt – nur verbirgt sich hinter dem Liebstod von d’Annunzios Isolde ein vom Erzähler stillschweigend gutgeheißener Lustmord.

Vor der Tür steht der neue Übermensch, der dann im darauffolgenden Wagner-Roman „Il fuoco“ eine entscheidende Rolle spielen sollte. D’Annunzios Protagonist Stelio Effrena ist sich gewiss, dass der Dichter nicht nur mit der Schönheit, sondern der politischen Gewalttat konfrontiert ist: Ein neuer Gott werde kommen, und auf dem Janiculum in Rom werde ein Theater stehen, das Bayreuth in den Schatten stelle.

Hitler im Frack im Festspielhaus Bayreuth, Sommer 1936
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Hitler im Frack im Festspielhaus Bayreuth, Sommer 1936

Wagner, so liest man in diesem Schlüsselroman der Moderne, den nicht nur James Joyce in seinen Andachtsschrein stellte, habe dazu beigetragen, „die Volksseele zu begeistern und ihr Ewigkeit zu verleihen, wie der Wille des Reichskanzlers, wie das Blut des Soldaten“.

Als d’Annunzio diesen Text verfasst, schreibt man das Jahr 1900. Nach Ende des Ersten Weltkriegs wird der Dichter zum Kommandanten und errichtet in Fiume eine kurzzeitige Diktatur. Effrena liege wie die Blaupause für Mussolini und letztlich Hitler da, so Ross über die Keimzelle des „politischen Wagnerismus“ und seine verheerenden Folgen.

Buchcover von Alex Ross
Rowohlt

Alex Ross: Die Welt nach Wagner. Rowohlt, 800 Seiten, 40 Euro.

Auch im Kapitel über Wagner und den Nationalsozialismus entgeht Ross der Gefahr, die Wagner-Rezeption von hinten nach vorne zu lesen. Er nimmt die Keimzellen der Wagner-Begeisterung des jungen Hitler in den Blick und stützt sich dabei zentral auf die Forschung der Historikerin Brigitte Hamann. Von den Wagner-Opern fühlte sich Hitler bestärkt, ja Versatzstücke aus den Libretti Wagners fänden sich in den Kampfschriften Hitlers wieder. Dennoch, so Ross: „Welche Rolle Wagners Opern für die politische Entwicklung des jungen Hitler hatten, ist für mich bis heute ein ungelöstes Rätsel.“

Nichts ist schwarz und weiß in diesem 800-seitigen Wälzer. Und es sind gerade die ausgeleuchteten Brüche, die dieses massenkompatible Werk zu Wagner ausmachen. So erinnert Ross auch an die Rezeption des Brautchores aus dem „Lohengrin“ für das englische „Here Comes the Bride“: „Es ist ein eigenartiger Brauch, denn in dieser Oper ist diese Musik das Vorspiel zu einer Katastrophe.“

„Here Comes the Bride“: Melodie für den Abgrund

Es sei das englische Königshaus gewesen, das diesen Brautchor zur Hochzeitshymne propagiert habe. Königin Victoria hatte Wagner 1855 während einer Konzertreise empfangen. Er erinnert sich an eine Monarchin, „sehr klein und gar nicht hübsch, mit leider etwas rother Nase“ und wundert sich, dass sie sich mit ihm, „einem politisch verrufenen, steckbrieflich gesuchten Hochverräther“, getroffen habe.

Als Victorias älteste Tochter gleichen Namens heiratet, wird die Hochzeitsszene aus dem „Lohengrin“ mit neuem Text versehen und den Bedürfnissen des jungen britisch-preußischen Brautpaares angepasst. Als Umrahmung für dieses Stück Wagner vor dem Altar wählt das Königshaus Musik von Mendelssohn-Bartoldy und Meyerbeer, beides Komponisten, die Wagner in seinem Aufsatz „Das Judenthum in der Musik“ beleidigt hatte. Im Fall Wagners liegen Ironie und Abgrund der Geschichte eng beieinander. Auch davon lebt das Buch von Ross.