Ehemaliger Präsident des EZB Mario Draghi
Reuters/Yara Nardi
„Unter Vorbehalt“

Draghi sucht neue Regierung für Italien

In der Regierungskrise in Italien hat Staatspräsident Sergio Mattarella dem früheren Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, ein Mandat zur Bildung eines Kabinetts angeboten. Der 73-Jährige nahm Mattarellas Auftrag „unter Vorbehalt“ an, so italienische Medien mit Verweis auf den Generalsekretär im Quirinalspalast, Ugo Zampetti.

Konkret muss Draghi in den nächsten Tagen nun prüfen, ob er eine Mehrheit auf die Beine stellen kann. Mattarella führte ein 95 Minuten langes Gespräch mit Draghi, bevor er ihm den Regierungsauftrag erteilte. Das gilt als eine ungewöhnlich lange Zeit. Draghi erklärte, Italien sei wegen der Coronavirus-Pandemie und der Wirtschaftskrise mit schweren Herausforderungen konfrontiert. Daher sei es wichtig, eine solide Mehrheit aufzubauen.

Mattarella hofft, dass eine von Draghi geführte Regierung die notwendige Unterstützung der Parteien gewinnt, um das Land aus der Coronavirus- und der Wirtschaftskrise zu führen. Gelingt das nicht, bliebe als Alternative eine Neuwahl spätestens im Juni. Die will Mattarella allerdings mitten in der Krise vermeiden. Auf Draghi wartet ein Verhandlungmarathon quer durch alle politischen Lager – und mit einem Termin bei den Parlamentspräsidenten ist dieser am frühen Mittwochnachmittag auch bereits angelaufen.

Mario Draghi und Italiens Präsident Sergio Mattarella sitzen sich gegenüber im Quirinale Palast, in Rom
APA/AFP/Quirinale Press Office/Francesco Ammandola
Italiens Staatspräsident Mattarella zusammen mit seiner „letzten Trumpfkarte“, Ex-EZB-Chef Draghi

Die bisherige Regierung des parteilosen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte war nach dem Ausstieg der von Ex-Premier Matteo Renzi angeführten Kleinstpartei Italia Viva (IV) geplatzt. Bemühungen um eine Wiederauflage der Koalition aus Fünf-Sterne-Bewegung und sozialdemokratischem Partito Democratico (PD) sowie weiteren Partnern waren gescheitert.

Streit über Hilfsgelder

Drängendste Aufgabe der neuen Regierung wird es sein, Brüssel bis Ende April Pläne für den Einsatz von 200 Milliarden Euro EU-Hilfsgeldern für den Wiederaufbau nach der Coronavius-Krise vorzulegen. Die Pläne sind Voraussetzung für die Auszahlung der Gelder.

Conte hatte vergangene Woche seinen Rücktritt erklärt, nachdem die von ihm angeführte Koalition am Streit um die Verwendung der Hilfsgelder zerbrochen war. Renzi warf Conte eine Verschwendung von Milliardenmitteln vor und forderte deren sinnvolleren Einsatz.

Katharina Wagner (ORF) aus Rom

Katharina Wagner (ORF) berichtet, warum Italiens Präsident Sergio Mattarella ausgerechnet auf Mario Draghi setzt.

„Hochrangige Regierung“

Zuletzt hatte Mattarella den Präsidenten der Abgeordnetenkammer, Roberto Fico, über das vergangene Wochenende beauftragt, eine mögliche neue Mehrheit der Parteien des bisherigen Mitte-links-Bündnisses von Premier Conte auszuloten. Die Fünf-Sterne-Bewegung, die Sozialdemokraten, die linke Partei Liberi e Uguali und die Partei Italia Viva wurden sich jedoch nicht einig.

Nach dem Scheitern der Gespräche zog Mattarella laut Medienberichten seine „letzte Trumpfkarte“ und lud Draghi zu Gesprächen über eine mögliche Regierungsbildung in den römischen Quirinalspalast. Erklärtes Ziel: Draghi soll die Führung eines Einheitskabinetts mit Parteien aus allen politischen Lagern übernehmen. Ob es sich dabei um ein Kabinett aus Experten oder doch Parteienvertretern handelt, bleibt offen – Beobachtern zufolge lasse aber bereits vieles auf eine Regierungsmannschaft aus Experten schließen.

„Ich fühle mich verpflichtet, an alle im Parlament anwesenden politischen Kräfte zu appellieren, einer hochrangigen Regierung Vertrauen zu schenken, die sich mit keiner politischen Formel identifizieren sollte“, wie Mattarella am Dienstag in Rom dazu sagte. Die kommenden Monate seien dem Staatspräsidenten zufolge entscheidend. „Das bedarf einer Regierung in voller Funktionsfähigkeit.“

„Nicht genug“

Dafür benötigt ein von Draghi angeführtes Kabinett das Vertrauen der beiden Parlamentskammern in Rom. Man sei nicht begeistert, sage aber nicht Nein, hieß es Medienberichten zufolge von der PD: Mit Draghi werde nun eine neue Phase eröffnet, so PD-Chef Nicola Zingaretti, der laut der Zeitung „La Repubblica“ dazu aber auch sagte: „Unsere elf Prozent sind nicht genug, um eine Regierung zu unterstützen.“

Zuspruch für ein von Draghi angeführtes Expertenkabinett gibt es schließlich von Renzi und mit Silvio Berlusconi und dessen Partei Forza Italia von einem weiteren Ex-Premier. Die derzeit größte Fraktion im Parlament, die Fünf-Sterne Bewegung, ist in der Frage jedoch gespalten. So sprach sich Interimschef Vito Crimi im Vorfeld gegen eine mögliche Regierung Draghi aus. Es wäre „verantwortungslos“, sich Mattarella zu entziehen, sagte hingegen der Fünf-Sterne-Abgeordnete Giorgio Trizzino.

Die rechte Lega unter Matteo Salvini, die 2018 die erste Regierung Conte zusammen mit der Fünf-Sterne-Bewegung gebildet hatte, könnte Draghi unterdessen durchaus mittragen. Der „Königsweg“ seien aber vorgezogene Wahlen, wie Salvini dazu noch sagte. Zuspruch für Mattarellas Vorgangsweise kommt aus Brüssel. EU-Kommissar Margaritis Schinas bescheinigte, dass Draghi nicht nur in Brüssel respektiert werde.

„What it takes“

Außer Frage steht: Der in Italien immer wieder als „Supermario“ bezeichnete Draghi war in seiner langjährigen Karriere bereits oft mit großen Herausforderungen konfrontiert. Nach dem Wirtschaftsstudium an der römischen Universität La Sapienza promovierte Draghi in den USA am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Es folgten die Habilitation und die Arbeit als Professor an italienischen Universitäten. Zwischen 1984 und 1990 war Draghi italienischer Exekutivdirektor der Weltbank. Ab 1991 folgten dann zehn Jahre als Generaldirektor im italienischen Finanzministerium und damit eine federführende Rolle bei der großen Privatisierungswelle der Jahre 1996 bis 2001.

2002 rückte Draghi zum Vizepräsidenten der US-Investmentbank Goldman Sachs auf. Um einen Interessenkonflikt zu vermeiden, verkaufte er seine Goldman-Sachs-Anteile, als er im Februar 2006 das Chefamt der italienischen Zentralbank (Banca d’Italia) übernahm. 2011 rückte Draghi zum Präsidenten der EZB auf, den Posten hatte er bis Oktober 2019 inne.

Als EZB-Chef polarisierte der Ökonom. Fachleute bewerten sein Erbe unterschiedlich. Nullzins, Strafzins für Banken, Anleihenkäufe – Draghi zog im Kampf gegen Miniinflation und Konjunkturflaute alle Register. Nie zuvor hat die EZB über einen so langen Zeitraum so viel billiges Geld in den Markt gepumpt. Im Juli 2012 betonte Draghi in London in einer mittlerweile berühmt gewordenen Rede, die Zentralbank werde alles tun im Rahmen ihres Mandats, was nötig ist („whatever it takes“), um den Euro zu retten. Das gilt bis heute vielen Experten als Wendepunkt in der Euro-Schuldenkrise.

Anhänger von Mario Draghi halten Schilder mit seinem Namen hoch
AP/LaPresse/Mauro Scrobogna
Draghi erfreut sich in Italien hoher Popularität

Populärer Banker folgt auf populären Premier

Seit Ende seines Mandats als EZB-Präsident ist es ruhiger um Draghi geworden. Im Juli wurde er von Papst Franziskus zum Mitglied der päpstlichen Akademie der sozialen Wissenschaften ernannt. Schon zu Beginn der Regierungskrise in Rom vor drei Wochen wurde er als möglicher Chef eines Fachleutekabinetts ins Spiel gebracht. Draghi wurde auch immer wieder als aussichtsreicher Kandidat für die Nachfolge von Staatspräsident Mattarella gehandelt, dessen Amtszeit Anfang 2022 zu Ende geht.

Die hohe und für einen Banker wohl erstaunliche Popularität, an der sich Draghi in Italien, aber auch Europa erfreut, ist freilich kein Erfolgsgarant für die nun anstehende Suche nach einer tragfähigen Regierung. Daran scheiterte zuletzt auch Conte und damit der laut Umfragen seit Jahrzehnten populärste italienische Premier.