Bernhard war gewiss kein kleinmütiger Autor, seine Texte strotzten von Beginn an von Superlativen und Zuspitzungen, die er durch Wiederholung derart vom eigentlichen Sinn entfernte, dass beim Lesen bis heute oft nur schallendes Lachen als Reaktion hilft. Seiner immensen Breitenwirkung ist es geschuldet, dass inzwischen auch das kleinste Detail seines Lebens von Freunden, Bekannten und Zeitgenossen nacherzählt und ausgedeutet wurde.
Eine der entlarvendsten Anekdoten berichtete der ehemalige Immobilienhändler und Freund Bernhards, Karl Ignaz Hennetmair: „Wir saßen vor Jahren gemeinsam vor dem Apparat, als die Meldung kam, daß Doderer gestorben sei. Wie elektrisiert sprang Thomas vom Sessel, klatschte in die Hände und rief erfreut: Der Doderer ist gestorben. Auf meine Frage, warum ihn das so freue, sagte er: Doderer war doch in Österreich das Renommierpferd, und solange der lebte, konnte keiner hochkommen. Jetzt ist die Bahn frei, jetzt komme ich.“
Damals hatte Bernhard außer Gedichten und Erzählungen erst den von der Kritik gut aufgenommenen Roman „Frost“ (1963) veröffentlicht. Sein später erschriebener Status eines modernen Klassikers war damals nur für ihn selbst absehbar. Neben der oft beschriebenen Musikalität von Bernhards Sprache und seinen verschachtelten Erzählkonstruktionen bleibt in der Rückschau seine konsequente Bearbeitung einer von psychischer Gewalt geprägten Kindheit und Jugend.
Wunder Punkt NS-Vergangenheit
In seiner Literatur verstand Bernhard es bis zuletzt, bis zu seinem Stück „Heldenplatz“, dessen Uraufführung im November 1988 zum Skandal wurde, den Finger auf den wunden Punkt der nur halbherzig aufgearbeiteten nationalsozialistischen Vergangenheit Österreichs zu legen. Just im Jahr des Gedenkens an 50 Jahre „Anschluss“ hieß es dort: „Jetzt ist alles schlimmer, als es vor 50 Jahren war.“ Das Stück, selbst längst Teil des kollektiven Gedächtnisses Österreichs, ist gerade in neuer Inszenierung online am Salzburger Landestheater zu sehen.
Bei persönlichen Konflikten, so viel verraten die biografischen Annäherungen, war er in seinen Anschuldigungen überbordend. In „Ein Leben an der Seite von Thomas Bernhard“ berichtet Peter Fabjan, Bernhards Bruder, Erbe und zu Lebzeiten behandelnder Arzt, vom nicht immer einfachen Verhältnis. Der erste Satz darin lautet: „Der Weg meines Bruders Thomas war ein einziges Bestreben, sich aus den beengenden Familienbanden zu befreien und sich ein Leben als Künstler zu erkämpfen.“
Spuren kollektiven Traumas
Gewiss spielte bei Bernhard die Position in der Familie mit, in der er angeblich vom Stiefvater Emil Fabjan meist nur als „das Kind“ tituliert wurde. Diese Reduktion auf eine Funktionsbezeichung übernahm Bernhard als Titel für den chronologisch ersten Band seiner hochgradig stilisierten Autobiografie (1982).
Im Band „Die Ursache“ (1975) ging er auf seine Zeit im Salzburger Internat Johanneum ein, dessen Verbindung von ungebrochener nationalsozialistischer Ideologie und Katholizismus zu einer schwarzen Pädagogik traumatische Spuren hinterließ, die Bernhard wohl mit großen Teilen seiner Generation teilte und geradezu stellvertretend in seinen zwischen Weltanklage und absurdem Humor pendelnden Texten bearbeitete.
Dass sich Bernhard wie beispielsweise in „Holzfällen“ (1984) gegen einstmals nahestehende Personen wandte, wie das Ehepaar Lampersberg, das in den 1950er Jahren junge Künstler auf seinen Tonhof bei Maria Saal einlud, um dort zu arbeiten, führte zu kalkulierten Skandalen. Wie er seine Verletzungen, deren Ursachen weit mehr als sein persönliches Erleben berührten, in der literarischen Öffentlichkeit ausspielte, war aber nur ein Aspekt, der Bernhard zum modernen Klassiker machte.
Musikalität und technische Raffinesse
Ein weiterer Aspekt ist, unabhängig vom provokanten Spiel mit Schuld und Vergangenheit, seine noch immer verblüffende technische Raffinesse. Die endlosen Sätze, die sich immer mehr Musik annähern und wie im Fall des letzten großen Romans „Auslöschung“ (1985) auf mehreren hundert Seiten nur durch eine Hand voll Punkte unterteilt werden, sind kunstvoll über mehrere Erzählebenen verschachtelt, in denen sich beispielsweise einer erinnert, was ein anderer gesagt oder geschrieben hat.
Es ist diese, im engeren Sinn literarische Brillanz Bernhards, die bis heute nachwirkt und so unterschiedliche Autoren wie W. G. Sebald in seinem „Austerlitz“ (2001), den türkischen Nobelpreisträger Orhan Pamuk und den argentinischen Autor Patricio Pron beeinflusst hat.
Abarbeiten am Übervater
In der deutschsprachigen Literatur lastete Bernhards Einfluss über Jahre mitunter schwer auf den Nachfolgern. Die Emanzipation vom „Übervater“ Bernhard dauerte ihre Zeit. Noch 2004 legte der Schriftsteller Andreas Maier seine Dissertation „Die Verführung. Die Prosa Thomas Bernhards“ vor, in der er sich sichtlich bemühte, Bernhard zu entzaubern und nachzuweisen, dass der Meister in seinen Texten kein philosophisches Unterfutter, sondern lediglich suggestives und stilistisch überzeugendes Blendwerk zu bieten hatte.
Nicolas Mahler: Thomas Bernhard. Die unkorrekte Biografie. Suhrkamp, 125 Seiten, 16,50 Euro.
Die Arbeit las sich weniger als kritische Distanzierung denn als enttäuschte Liebserklärung. Einen kreativeren Zugang fand Barbi Markovic in „Ausgehen“ (2006), in dem sie Bernhards „Gehen“ in die Gegenwart der Clubszene Belgrads übersetzte und Bernhard damit remixte. Heute verirrt sich kaum noch eine endlose Satzperiode garniert mit einer der Bernhard’schen Lieblingsvokabeln wie „naturgemäß“ in aktuelle Neuerscheinungen.
Den jüngsten Vorstoß in der spielerisch-humorvollen Entzauberung Bernhards hat der Comiczeichner Nicolas Mahler jüngst vorgelegt. Mahler, der schon James Joyces „Ulysses“ und Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ in eine Graphic Novel umzusetzen wusste, zeigt mit „Thomas Bernhard. Die unkorrekte Biografie“ liebevoll die Widersprüche in Bernhards nachdrücklich betriebener Selbstinszenierung auf. Damit markiert er das Ende des langen Schattens, den Bernhard noch immer wirft. Mit dieser nötigen zugewandten Distanz wird der Blick auf die Texte Bernhards ungetrübter.