Menschen spazieren in Innsbruck
APA/EXPA/Erich Spiess
Politologen zu Tirol

Kompromiss mit Tücken

Ein handfester Politstreit, lange Verhandlungen und schließlich – vorerst – ein Kompromiss, der vor allem auf unverbindlichen Empfehlungen beruht: Zum Streit über die Anti-CoV-Maßnahmen in Tirol spricht Politologin Kathrin Stainer-Hämmerle gegenüber ORF.at von einem „gesichtswahrenden Kompromiss“ für alle. Politikwissenschaftler Peter Filzmaier sieht ein Beispiel für die „Realverfassung des Föderalismus“ und verweist auf die Unverbindlichkeit der Maßnahmen.

Stainer-Hämmerle verweist auf die verhärteten Fronten der vergangenen Tage – und auch darauf, dass sich zunächst alle Tiroler Parteien geeint, also auch etwa SPÖ, FPÖ und Grüne, gegen eine Abschottung des Bundeslandes gewehrt hatten. Das Match sei zunächst eines des Landes gegen die Experten gewesen, die sich für strikte Maßnahmen ausgesprochen hatten – und erst nachher eines zwischen Tiroler ÖVP und Gesundheitsministerium. Das Land verwies auf die eigenen Maßnahmen und die vergleichsweise gute 7-Tage-Inzidenz, Ministerium und Experten auf die erstmals in Südafrika nachgewiesene Mutation B.1.351, die es in Schach zu halten gilt.

„Das lange Tauziehen um die Corona-Maßnahmen für Tirol ist die typisch österreichische Realverfassung des Föderalismus in einem politischen Mehrebenensystem“, sagt Filzmaier gegenüber ORF.at. Es sei „über die rechtlichen Notwendigkeiten hinaus die historisch gewachsene Realität, dass die Bundespolitik immer erst mit den Ländern einen Konsens herstellen muss – auch um den Preis, dass etwas dadurch verspätet oder nicht klar genug oder gar nicht entschieden wird“.

„Ländermatch“ statt gemeinsames Vorgehen

Historisch sei das Misstrauen zwischen Bund und Ländern jeweils nach den Weltkriegen gewachsen. Doch heute passe eine Politik „nach dem Prinzip des Misstrauens und kleinsten gemeinsamen Nenners“ nicht mit den Notwendigkeiten in einer Pandemie zusammen, so Filzmaier. Man ignoriere schon seit Beginn der Pandemie die Logik, „dass man schon vom Namen her die weltweite Verbreitung einer Krankheit entweder gemeinsam verhindert oder wir alle zusammen scheitern“.

Stattdessen gebe es auf Bundes- und Landesebene seit März „eine unselige Wortwahl im Stil von Ländermatches“. Es sei zwar – egal ob national oder international – einfach unsinnig, „sich ständig vergleichend selbst zu loben“, „genau das machen jedoch Politiker im Bund und aus allen Ländern“. Es suche und finde „lieber jeder jemand, dem er noch schlechteres Corona-Management vorwirft, als dass man miteinander Maßnahmen abstimmt“. Stainer-Hämmerle verweist darauf, dass es gerade in Tirol die Tradition des „Widerstands gegen außen“ gebe, um das eigene Land und die eigenen Leute zu schützen.

Zurückhaltende Bundes-ÖVP

Als Grund, dass sich die Bundes-ÖVP in den vergangenen Tagen eher zurückgehalten habe, vermutet Stainer-Hämmerle, dass man nicht den nächsten regierungsinternen Konflikt in der Öffentlichkeit austragen wollte. Es sei bei der ÖVP-Regierungsriege in der Frage auch niemand zuständig, insofern sei es „klug gewesen, das den Tirolern zu überlassen“. Sie ist sich aber sicher, dass die Tiroler ÖVP bei ihrer Vorgehensweise „zumindest Rückendeckung“ von der Bundespartei gehabt habe, so die Politologin.

Analyse von Andreas Mayer-Bohusch (ZIB-Innenpolitik)

Wie verbindlich ist die Reisewarnung für Tirol? Und kann man daraus auf einen Konflikt zwischen dem Bundesland und der Bundesregierung schließen? Andreas Mayer-Bohusch antwortet.

Was hinter den Kulissen in den vergangenen Tagen abgelaufen ist, bleibt eher unklar: „Der Standard“ berichtete jedenfalls von Verstimmungen zwischen Bundes-ÖVP und Tiroler Landespartei. Der „Kurier“ wiederum berichtete von einem Telefonat von Bundeskanzler Sebastian Kurz mit Landeshauptmann Günther Platter (beide ÖVP) am Sonntagabend, in dem es vor allem um das Image Tirols gegangen sein soll.

Filzmaier meint dazu, die Bundespartei der ÖVP sei „letztlich die Summe ihrer Teilorganisationen, welche die Mitglieder und das Geld haben. Wenn beispielsweise der Wirtschaftsbund harte Coronavirus-Maßnahmen nicht mitträgt, wackelt im Extremfall sogar die Mehrheit im Parlament“. Und der Politikwissenschaftler merkt anekdotisch an, dass es in früheren Zeiten dazu gekommen sein soll, „dass ein Minister aus der Ministerratssitzung den Landeshauptmann seiner Heimat anruft und fragt, ob er für oder gegen etwas ist“.

Reisewarnung für Tirol

Von den bisher bekannten Verdachtsfällen mit der hochansteckenden Mutation B.1.351 wurden 293 in Tirol gefunden – und nur neun irgendwo anders in Österreich. Trotzdem wurde in Tirol der Lockdown ähnlich gelockert wie überall sonst, nur dass die Bundesregierung jetzt vor unnötigen Reisen nach Tirol warnt und man in Tiroler Skiliften einen negativen Coronavirus-Test vorweisen muss.

Konsens statt Zwang

Für ihn ist der Fall „insofern kurios, als man ja extra das Epidemiegesetz geändert hat, damit der Gesundheitsminister klar entscheiden kann und es bei unterschiedlichen Auffassungen keine Blockadesituation gibt. Noch vor einem Jahr hätte der Minister kein Bundesland von sich aus unter Quarantäne stellen können. Nun dürfte er das rechtlich, konnte es jedoch politisch offenbar trotzdem nicht einfach tun.“

Formale Beschlüsse und Weisungen würden ja auch keine Umsetzung garantieren. Schon „gewollte Verzögerungen und gezieltes Ausnützen von rechtlichen Schlupflöchern“ hätten die Eskalationsspirale weitergedreht, erklärt Filzmaier, wieso der auf Konsens bedachte Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) nicht – wie auch von vielen Kommentatoren gefordert – die Maßnahmen in Tirol im Alleingang verschärft habe.

In der ZIB2 fand Anschober allerdings deutliche Worte – er sagte, dass ihm die Schritte Tirols und die unverbindlichen Empfehlungen zu wenig seien. Juristen würden prüfen, welche Maßnahmen vonseiten des Bundes möglich sind. Anschober deutete an, dass der besonders betroffene Bezirk Schwaz lückenlos getestet werden müsse – mit einer Testpflicht bei der Ausreise.

Gesundheitsminister Anschober: „Können nicht zur Tagesordnung übergehen“

Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) über den Konflikt mit dem Land Tirol.

Auch eine Imagefrage

Mit dem Kompromiss könnten wohl beide Seiten zumindest kurz leben, meint Stainer-Hämmerle. Sie vermutet auch, dass es Bundeskanzler Kurz auch um das Image Österreichs – und Tirols – im Ausland gegangen sei. Dass er den Kompromiss selbst mit verkündete, sei wohl auch als Signal an Bayern gedacht gewesen. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hatte in den vergangenen Tagen immer wieder die Lockerungen in Österreich kritisiert. „Sollte die Gefahr wachsen, dürfen auch Grenzschließungen zu Tirol kein Tabu sein“, sagte er nun dem „Münchner Merkur“ (Dienstag-Ausgabe).

Eine Übernahme der Verantwortung im engeren Sinn durch den Kanzler sieht Filmzmaier nicht, „sondern eher symbolisches Leadership“. Die Reisewarnung sei rechtlich nicht verbindlich, sondern ein Gefahrenhinweis und Ersuchen an die Bevölkerung. Das Grundproblem bleibe aufseiten des Gesundheitsministers – und der will nun offenbar ohnehin „nachlegen“.

Appelle für Transparenz bei Zahlen

Ob alleine der Kompromiss mit seinen unverbindlichen Regeln und Empfehlungen funktioniert, hänge wohl davon ab, wie sich die Bevölkerung daran halte, so Stainer-Hämmerle. Wichtig sei jetzt jedenfalls Transparenz, vor allem über die Zahlen, bei denen es in den vergangenen Tagen unterschiedliche Angaben gegeben hatte.

Aus Tirol hieß es, es gebe gerade acht aktive Fälle der aus Südafrika stammenden Mutation B.1.351 in Tirol. Dem widersprechen Wissenschaftler, die drauf verwiesen, dass bei mehreren hundert Verdachtsfällen die Ergebnisse noch ausstehen – und dabei seien auch Dutzende Proben, die im Februar genommen worden seien.

Dass Platter das Wort „Reisewarnung“ als falsche Bezeichnung nennt und dass Anschober weitere Maßnahmen in den Raum stellt, spricht eindeutig dafür, dass der am Montag geschlossene Kompromiss nicht nur Tücken hat, sondern offensichtlich nur eine Zwischenlösung ist – in einem Konflikt auf mehreren Ebenen.