„Ich war nicht sicher, ob ich gut bin, aber ich war immer sicher, dass es mir zusteht, das zu tun, was ich tue.“ Es ist vielleicht einer der zentralsten Glaubenssätze, den Richter in einem Interview im Jahr 2009 zu seiner Arbeit ausgesprochen hat. Sich erlauben, Dinge zu tun, Zusammenhänge zu denken, die man davor so nicht gedacht hätte, und sie dann in einem prägnanten, oft eben auch verschwimmenden Moment im Bild festzuhalten. Das macht die Arbeit Richters seit seinem Aufstieg in den 1960er Jahren aus. Besonders schön zu sehen war das in einer großen Schau mit seinen BRD-Zeitgenossen Sigmar Polke, Anselm Kiefer und Georg Baselitz zuletzt in den Hamburger Deichtorhallen.
Richters Werk kennt große Phasen: sein Spiel mit politischer Ikonografie, seine Typisierungen des Privaten bis ins Gespenstische – seine Wende zur Abstraktion und das Spiel mit den Pigmentverschiebungen in seinem Lieblingsmedium der Ölfarbe. All das ist mittlerweile in vielen Richter-Schauen abgehandelt und ausgestellt. Richter wurde für viele Menschen zu einer Schule des Sehens, zu einem Erleben der Malerei – gerade auch zum Erleben ihrer Geheimnisse. Man wollte sich bei den monochromen, jede Umrissfestlegung verweigernden gegenständlichen Werken eben nicht fragen, wie Richter die Auflösung der Form, der Gestalt, erzielt hat. Offenkundig ist er in der Technik der Alten Meister, in der Kunst der feinen Lasur beheimatet. Stets aber zelebrierte er Formen der Bildgestaltung, die die Mittel der Bildherstellung vergessen machen sollten.
Richter-Werke, ob gegenständlich oder abstrakt, sind Erlebniswelten, sind Verunsicherungen, sind zugleich Deklinationen des genialischen Moments eines Malers, der noch einmal die Konturen seiner Arbeit im letzten Schritt verwischt oder neu denkt. Richters Malerei lotet die Möglichkeiten der Malerei und des bildlichen Denkens aus. Er als Person trat hinter seinen Bildwerken stets zurück. Beinahe, so scheint es, definiert Richter sein Verhältnis zu seinen Bildern wie ein Handwerker. Die Person dahinter soll vergessen werden.
Das Handwerkliche soll nicht sichtbar sein
Nie wollte sich Richter mit den handwerklichen Drucktechniken auseinandersetzen oder aus diesen Bildwerke machen. Radierung und Lithografie etwa, diese Form der Reproduktion, schätzte Richter nie, weil er das Handwerkliche, das diese Verfahren deutlich machten, nicht vorzeigen wollte. So gibt es Richter im Original oder in der Offsetrepro – mit Glück vielleicht signiert.

Richters frühere Skepsis gegenüber der Zeichnung
Umso bemerkenswerter scheint es, dass sich Richter gerade in den letzten Jahren der Zeichnung einen Stand-alone-Charakter in seinem Werk einräumt. Gezeichnet hat Richter immer. Auf seiner Website darf man sich an eindrucksvollen Vorzeichnungen und Experimenten ab den 1960ern erfreuen. Immer schon verrät die Zeichnung am meisten vom Charakter eines bildenden Künstlers, legt quasi die Fährte zu seiner Art des Denkens.
Richter sei der Zeichnung aber immer sehr skeptisch gegenüber gestanden, erinnert etwa der frühere Direktor des Kunstmuseums Winterthur, Dieter Schwarz, der in den 1990er Jahren mit Zustimmung des Künstlers eine Ausstellung über Richters Zeichnungen wagte. Der Bestandskatalog zu den Zeichnungen Richters habe sich nicht sehr gefüllt, meinte Schwarz – und sollte sich doch täuschen. Denn Richter, der im Vorjahr offiziell sein malerisches Werk für beendet erklärte, scheint nur noch die Zeichnung als gegenwärtigen bildnerischen Ausdruck zuzulassen.

Begegnungen mit dem Zeichner Gerhard Richter
Das Gerhard-Richter-Archiv Dresden, das kurz vor Ausbruch der Coronavirus-Pandemie im Februar des Vorjahres einen Blick über die jüngsten zeichnerischen Arbeiten Richters versammelte, ermöglichte einen ersten Einblick in seine zeichnerischen Arbeiten aus den Jahren 2017 bis 2020. Nun legt die Pinakothek der Moderne seit Februar nach und will der zeichnerischen Arbeit Richters aus der jüngeren Zeit eigene Werkgruppen zuordnen. Nun ist die Ausstellung fertig – pandemiebedingt geschlossen. Doch ein Eindruck der Arbeiten Richters lässt sich auch hier gewinnen, erweitern sie seinen Werkkanon doch um entscheidende Dimensionen.
Wer aktuell in Wien die Gerhard-Richter-Schau „Landschaft“ im Kunstforum besucht, kann in einem kleinen Nebenraum das Bauprinzip von Richters zeichnerischen Arbeiten entdecken. Bereits Ende der 1990er Jahre fängt Richter hier an, Papierarbeiten mit einem Tagesdatum zu versehen. In Wien deutet man drei ausgestellte monochrome Arbeiten Richters als „Abstrakte Landschaft“, was einerseits als Lesart plausibel scheint. Andererseits sind gerade Richters zeichnerische Arbeiten der letzten drei Jahre (auch hier gibt es in Wien drei Beispiele zu sehen) maximal Erkundungen des zweidimensionalen Raums, ja eigentlich im Gegensatz zu frühen Zeichnungen intensive Auseinandersetzungen mit dem Material „Zeichnung“.

Das kleine Format mit großer Wirkung
Richter kommt in der Zeichnung beinahe seinem alten Freund Polke nahe. Die Abstraktion und das Rasterhafte treffen sich hier ebenso wie der Mut zur farbigen Linie, aber auch Farblösungen in Flächenform. Anders als Richters abstrakte Arbeiten in Öl, die immer für den großen spontanen Gestus offen waren, wehrt sich die Zeichnung gegen das Handstreichartige, das Richters abstrakte Malarbeit kennzeichnet. „Während Richter bei den Abstrakten Bildern durch die Verwendung des Rakels dem Zufall großen Raum im Entstehungsprozess der Gemälde zugesteht und das endgültige Werk in einem wechselhaften Prozess von ‚trial and error‘ entstehen lässt, bleibt diese Eigengesetzlichkeit des Zufalls aus der Arbeit an den kleinformatigen Zeichnungen ausgeschlossen“, schrieb man in Dresden zur Präsentation seiner Bilder. Die gezeichneten Kleinformate seien nur über den Prozess einer gesteigerten Konzentration zu haben, unterstellt man Richter.
Tatsächlich beziehen Richters Zeichnungen ihre Stärke aus der Kleinform. Richter datierte in den letzten drei Jahren stets den Tag, an dem eine bestimmte Zeichnung entstand. Stets scheint der Graphitstift die Rolle des Vorarbeiters zu übernehmen – und der Farbstift die des Taktgebers für das Spektakel. Richters Zeichnungen arbeiten trotz ihrer Kompaktheit hin auf einen großen Eindruck – und zielen wie immer auf eine Form der magischen Vertiefung. Das Repertoire der Farbigkeit schränkt Richter stark ein. Mal wird das Monochrome durch starke Gelbfarben aufgelöst, mal zündet er mit den Ölkreiden ein Spektakel der Komplementärfarben Blau und Rot.
Nach den Großformaten, an die Richter sein Publikum besonders in der abstrakten Phase gewöhnt hat, muss man sich nun an Arbeiten gewöhnen, die eine Breite von 50 Zentimetern selten übersteigen. Der Eindruck bleibt wie so oft bei Richter: enorm.
Man wolle mit der Ausstellung der Zeichenkunst eines derart bekannten Malers, so sagt man in der Münchner Pinakothek der Moderne, gerade die Rolle der Zeichnung als Impulsgeber innerhalb der bildenden Künste befragen. Richter sucht keinen Impulsgeber mehr. Er wagt noch einmal eine Komplettkehre. Und bleibt sich doch treu: Am Ende fährt er noch mit dem Finger in seine Farbflächen.