Ein Demonstrant mit auf einer Stange montiertem Peace-Zeichen steht Einsatzpolizisten gegenüber
AP/Marcio Jose Sanchez
Separatismus

Frankreichs „US-importierte“ Furcht

Glaubt man der Regierungspolitik und Teilen der intellektuellen Elite Frankreichs, schwebt ein Damoklesschwert über den republikanischen Prinzipien, gar der Identität des Landes. Es trägt den Namen „Separatismus“ und werde nicht zuletzt zugespitzt durch „sozialwissenschaftliche Theorien, die aus den Vereinigten Staaten importiert wurden", wie es Präsident Emmanuel Macron formulierte.

Progressives Gedankengut aus den USA – insbesondere was die Themen Rasse, Geschlecht und Postkolonialismus beträfe – würde Frankreichs intellektuelles und kulturelles Erbe gefährden und radikale Tendenzen bestärken, warnen die Apologeten des Niedergangs. „Es gilt, einen Kampf gegen den geistigen Nährboden zu führen, den amerikanische Universitäten aufbereiten“, sagte Bildungsminister Jean-Michel Blanquer im vergangenen Herbst.

Prominente Intellektuelle griffen die Äußerungen der politischen Führung auf und verbündeten sich gegen das, was sie als „Verseuchung durch die außer Kontrolle geratene Linke und die Cancel Culture“ in den USA bezeichneten.

Ihnen gegenüber steht eine jüngere Gruppe an Gelehrten, die ebendiese Thesen als Mittel betrachtet, die blinden Flecken einer zunehmend vielfältigen Nation zu verstehen. Einer Nation, die immer noch vor dem Begriff Rasse zurückschrecke, ihre koloniale Vergangenheit noch nicht aufgearbeitet habe und die Sorgen von Minderheiten als Identitätspolitik abtue.

„Black Lives Matter“-Proteste in Portland (USA)
Reuters/Caitlin Ochs
„Black Lives Matter“-Proteste schwappten von den USA auch nach Frankreich über

Explosive Gemengelage

„In gewisser Weise handelt es sich um einen Stellvertreterkampf über einige der brennendsten Themen der französischen Gesellschaft, die nationale Identität und die Aufteilung der Macht. In einer Nation, in der die Intellektuellen immer noch das Sagen haben, steht viel auf dem Spiel“, schrieb die „New York Times“. Die Hintergründe dieser Debatte sind komplex, die Grenze zwischen wissenschaftlichem und politischem Diskurs zu ziehen, ist bei der Gemengelage in Frankreich schwer möglich.

Der Angriff auf Charlie Hebdo und die Terroranschläge in Paris im Jahr 2015, die Amokfahrt in Nizza am französischen Nationalfeiertag 2016, im vergangenen Oktober dann die islamistisch motivierte Enthauptung des Lehrers Samuel Paty und das Attentat auf die Basilika Notre-Dame in Nizza – „aus Angst vor einer weiteren Vertiefung der Bruchlinien in der französischen Gesellschaft, wurde es schließlich als dringend notwendig angesehen, ein Gesetz ‚zur Stärkung der republikanischen Werte‘ auszuarbeiten“, schrieb die Wissenschaftlerin Hana Jaber vom Institut für zeitgenössische Geschichte der arabischen Welt am College de France jüngst in einem Beitrag für den Berliner „Tagesspiegel“.

Laizität als Spaltpilz

Am Dienstag wurde über ebendieses Gesetz im französischen Parlament abgestimmt, wie erwartet fand es in erster Lesung Zustimmung. Macrons Regierung argumentiert, dass die Maßnahme notwendig sei, um französische Werte wie die Gleichheit der Geschlechter, den Säkularismus, die Laizität zu schützen und um zu verhindern, dass radikale Ideen Wurzeln schlagen und neue Gewalt hervorrufen.

„Die Laizität, diese so französische Leidenschaft der strikten Trennung von Kirche und Staat, wird durchaus kontrovers diskutiert. (…) Die Polarisierung führt dazu, dass bei Befürwortern eine starke Gereiztheit und gesteigerte Aggressivität zu beobachten sind. Denn die ethischen und politischen Grundlagen des französischen Gesellschaftsvertrags werden durch neue Akteure und soziale Ungleichheiten in Frage gestellt, die sich aus der Kolonialgeschichte und der Migration ergeben“, schrieb Jaber.

Demonstration in Paris nach der Ermordung des Lehrers Samuel Paty
Reuters/Charles Platiau
Die Enthauptung des Lehrers Samuel Paty brach die Wunden der französischen Bevölkerung erneut auf

Genau gegen diese scheinbar unausweichlichen Ungleichheiten verwehren sich der Soziologe Stephane Beaud und der Historiker Gerard Noiriel in ihrer neuen, in Frankreich vielbesprochenen Publikation „Rasse und Sozialwissenschaften“. Die Veröffentlichung von Auszügen in der Jänner-Ausgabe von „Le Monde diplomatique“ reichte aus, um eine Welle von Protesten auszulösen.

Vielbesprochenes Buch

Beaud legte seinen Standpunkt in einem Interview mit France Inter dar: „Ich bin Professor, ich lese Masterarbeiten und Dissertationen, und ich sehe, dass die Rassenfrage beginnt, einen sehr wichtigen Platz einzunehmen. Der Makel ist: Die ganze Interpretation konzentriert sich allein auf diese Frage, ohne alle anderen mitwirkenden Elemente zu berücksichtigen. Es gibt soziale Klasse, Geschlecht, Generationseffekte, institutionelle Einflüsse … Doch in vielen Arbeiten junger Sozialwissenschaftler herrscht eine ‚Bulldozer-Mentalität‘, die alles mitnimmt, was sich ihr in den Weg stellt, und die es nicht erlaubt, die feine Textur der sozialen Welt, ihre Komplexität zu verstehen.“

„Le Monde“ bezeichnete das Werk als wichtig, gleichwohl aber als „vertane Chance“. „Es ist, als hätte das Buch zwei Ebenen: eine wissenschaftliche und eine politische“, hieß es in der Besprechung. „Die erste zielt darauf ab, die Autonomie der Sozialwissenschaften gegenüber den Affekten quer durch die Gesellschaft zu verteidigen. Die zweite greift die Sehnsucht nach einer Zeit auf, in der die Bestrebungen „gegen alle Formen der Ausbeutung und Diskriminierung“ die „fortschrittlichen Kräfte“ vereint hätten.“ Eine respektable Sehnsucht, wie „Le Monde“ schrieb, aber: „Welche Autonomie kann die Wissenschaft haben, wenn ebendiese Affekte letztlich Oberhand gewinnen müssen?“

Demonstrierende Frauen mit Tranparenten in Paris
APA/AFP/Thomas Coex
Die „#MeToo“-Debatte nahm in Frankreich rasch Fahrt auf

„Ideologische Exzesse“ an den Unis

Der Diskurs nahm an den französischen Universitäten seinen Anfang, wird aber zunehmend über Medien und Politik ausgetragen. Macron schaltete sich im vergangenen Juni ein, als er die Universitäten beschuldigte, die „Ethnisierung der sozialen Frage“ zu fördern, was darauf hinausliefe, „die Republik in zwei Teile zu spalten“. Massenproteste gegen Polizeigewalt, angeheizt durch die Tötung des Afroamerikaners George Floyd in den USA, stellten die offizielle Ablehnung Frankreichs der Begriffe Rasse und systemischem Rassismus infrage. Die „#MeToo“-Debatte rüttelte offensiv an der Macht der Männer. Dazu kam die Serie von islamistisch motivierten Anschlägen – Frankreich war in seinen Grundfesten erschüttert.

Mitte-rechts-Politiker drängten auf eine parlamentarische Untersuchung der „ideologischen Exzesse“ an den Universitäten und prangerten „schuldige“ Lehrende auf Twitter an. Und auch auf deren Seite machte sich Widerstand breit. „Es gab eine Reihe von Vorfällen, die extrem traumatisch für unsere Gemeinschaft waren und die alle unter das fielen, was man als Cancel Culture bezeichnet“, sagte etwa die Soziologin Nathalie Heinich gegenüber der „New York Times“.

Heinich war im Jänner Mitgründerin der Organisation gegen „Dekolonisation und Identitätspolitik“, der mehrere prominente Intellektuelle angehören und die in französischen Zeitungen wiederholt vor US-inspirierten Gesellschaftstheorien warnte.

Eine Frau mit Schutzmaske hält auf einer Pariser Demo ein Schild mit der Aufschrift „Islamophobie Ca Suffit“ (Schluss mit Islamophobie)
APA/AFP/Geoffroy Van Der Hasselt
Das geplante Gesetz gegen den radikalen Islamismus ist höchst umstritten

„Völlig künstlicher Import“

Schon im Vorjahr hatte eine Gruppe von 100 prominenten Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen einen offenen Brief zur Unterstützung der Regierungslinie geschrieben und dabei Theorien angeprangert, die „von nordamerikanischen Universitäten übertragen wurden“. Einer der Unterzeichner, Gilles Kepel, Sozialwissenschaftler und ausgewiesener Islamexperte, sagte, dass der US-Einfluss zu „einer Art Verbot an den Universitäten geführt hat, über das Phänomen des politischen Islams im Namen einer linken Ideologie nachzudenken, die ihn als die Religion der Unterprivilegierten betrachtet“.

Gemeinsam mit der Islamophobie wurde durch den „völlig künstlichen Import“ der „schwarzen Frage nach amerikanischem Vorbild“ versucht, ein falsches Bild von einem Frankreich zu zeichnen, das sich des „systemischen Rassismus“ und des „weißen Privilegs“ schuldig mache, gab ihm der Politikwissenschaftler, Philosoph und Soziologe Pierre-Andre Taguieff recht. „Gerade der weiße Mann – das ist der Schuldige, den es zu verurteilen, und der Feind, den es zu eliminieren gilt.“

Objekte werden zu Subjekten

Eric Fassin, der sich als einer der ersten Soziologen vor etwa 15 Jahren mit Rasse und Rassismus in Frankreich zu beschäftigen begann, sieht das durchaus differenzierter. Hinter den Angriffen auf US-Universitäten – angeführt von älteren, weißen, männlichen Intellektuellen – stünden Spannungen angesichts einer potenziellen Neuverteilung der Macht.

Früher seien Wissenschaftler, die sich mit Rassenfragen beschäftigten, oft weiße Männer wie er selbst gewesen. Aber das Auftauchen junger Intellektueller – einige von ihnen schwarz oder muslimisch – hätte den Angriff auf das, wie Fassin es nannte, „US-Schreckgespenst“ befeuert. „Das ist es, was die Dinge auf den Kopf gestellt hat. Sie sind nicht mehr die Objekte, über die wir reden, sondern Subjekte, die selber sprechen.“