Bild zeigt Strafgesetzbücher und ein Buch zur Strafprozeßordnung.
picturedesk.com/Elmar Gubisch
Generalstaatsanwalt

An der Spitze der Weisungskette

Die Frage ist vermutlich so alt wie der Berufsstand selbst: Können Staatsanwältinnen und Staatsanwälte frei von (politischem) Einfluss ermitteln? Neu aufgeflammt ist die Debatte im Zuge der „Ibiza“-Aufklärung. Eine Korruptionsermittlerin legte ihre Funktion zurück und forderte eine Systemänderung. Ein Generalstaatsanwalt (Bundesstaatsanwalt) könnte die Justizministerin an der Spitze der Weisungskette ablösen.

Zumindest lautet so der Plan. Denn während SPÖ, NEOS und Grüne schon seit Jahren für einen weisungsfreien Generalstaatsanwalt eintreten, forderte am Montag die ÖVP erstmalig einen solchen. Die FPÖ zeigte sich noch abwartend. Derzeit ist das erste Glied der Weisungskette das mit einem Minister oder einer Ministerin besetzte Justizministerium. Das sorgte – trotz der Etablierung eines Weisungsrates, der für Weisungsfälle und alle Fälle von besonderem öffentlichen Interesse zuständig ist – nicht selten für Verstimmungen innerhalb der Justizbehörden.

Ein neuer Generalstaatsanwalt könnte den Verdacht einer politisch motivierten Weisung jedenfalls ausräumen, sagte die ehemalige SPÖ-Justizministerin und frühere Richterin am Europäischen Gerichtshof, Maria Berger, im Gespräch mit ORF.at. „Wie man das Amt im Detail gestaltet, muss man sich überlegen. Einige Vorschläge wurden in den vergangenen Jahren schon gemacht“, so Berger, die zwei Jahre lang das Justizressort leitete. 2007 sagte sie, dass das Weisungsrecht an einen Generalstaatsanwalt übergeben werden sollte. In einer SPÖ-ÖVP-Koalition sei das aber nicht möglich gewesen.

Europäischer Sonderfall

Bergers Gegenüber im Innenministerium, Maria Fekter (ÖVP), konnte der Idee eines Generalstaatsanwalts (bzw. Bundesstaatsanwalts wie in Deutschland) nichts abgewinnen. „Wer kontrolliert denn den?“, fragte sie. Noch dazu würde die Besetzung des Postens mit großer Wahrscheinlichkeit eine politische sein. Das kann Berger heute auch nicht ausschließen. Allerdings, so die ehemalige Justizministerin, wäre es durchaus möglich, dass der Bestellmodus auf einen Dreiervorschlag basiert. Zudem müsste ein Hearing vollzogen werden und die Amtszeit müsste lang genug sein, um Kontinuität zu bewahren.

Das Weisungsrecht der österreichischen Justizministerin bzw. des Justizministers ist ein europäischer Sonderfall. Laut EU-Justizbarometer 2020 kennt von den 27 EU-Staaten sonst nur Polen eine exklusive Befugnis des Ressortchefs bzw. der Ressortchefin, der Anklagebehörde Weisungen in konkreten Fällen zu erteilen. Neun EU-Staaten (Estland, Finnland, Griechenland, Lettland, Italien, Portugal, Rumänien, Schweden und Slowenien) erlauben überhaupt keine Weisungen in konkreten Fällen.

In elf Staaten (Bulgarien, Frankreich, Irland, Kroatien, Litauen, Malta, Slowakei, Spanien, Tschechien, Ungarn und Zypern) kommt das Weisungsrecht dem Generalstaatsanwalt zu. In fünf weiteren Staaten (Belgien, Dänemark, Deutschland, Luxemburg und die Niederlande) haben Generalstaatsanwalt und Justizminister gemeinsam das Weisungsrecht, doch ist die entsprechende Befugnis des Ressortchefs oft schon seit Jahrzehnten totes Recht.

Appell einer Staatsanwältin findet Gehör

Zuletzt beklagte die frühere Staatsanwältin der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA), Christine Jilek, das System aus Berichtspflichten und einer Weisungskette. In diesem Netz sei nicht möglich, zügig und effektiv zu ermitteln. Das Problem sei nicht eine Person, sondern der gesamte Mechanismus, so Jilek. Das Fass zum Überlaufen brachte eine Rüge durch die Oberstaatsanwaltschaft (OStA) Wien, der die WKStA untergeordnet ist.

Die für die bereits eingestellte „Schredder-Affäre“ zuständige Ermittlerin hatte eine interne E-Mail, wonach die OStA Wien gegen die Vorlage des Aktes an den „Ibiza“-U-Ausschuss ist, in das Tagebuch des Akts gelegt. Das habe sie in ihrer Karriere noch nie erlebt, sagte die Ex-Staatsanwältin. Die „Ausstellung“, so heißt die Rüge im Fachjargon, wurde aus Jileks Personalakt entfernt.

Doch das Vorgehen der OStA Wien, die Weisungen geben und Berichte anfordern kann, sei „schikanös“ gewesen. Solange die WKStA unter politischer Aufsicht steht, so die frühere Staatsanwältin, sei eine „schlagkräftig und zügige“ Korruptionsbekämpfung systembedingt nicht möglich. Jileks Aussagen sind in Fachkreisen ebenso wenig neu wie die Forderungen nach einem weisungsfreien Generalstaatsanwalt an der Spitze, der nicht nur fachlich qualifiziert sein soll, sondern vor allem abseits jeglicher politischen Einflussnahme arbeiten kann.

Staatsanwalt: Wechsel der Gewalt

Welche Aufgaben und Rechte der Generalstaatsanwalt haben wird, ist eine politische Frage, die schließlich in einem politischen Beschluss enden wird. Dass Weisungen und die Berichtspflicht bleiben, dürfe für die handelnden Akteure allerdings sicher sein. Eine Weisungsfreiheit wäre für die seit 2009 bestehende WKStA angedacht gewesen. Das konnte Berger nach eigenen Angaben allerdings nicht durchsetzen. Mit der Strafprozessreform 2008 wurde allerdings die Rolle der Staatsanwaltschaft erheblich aufgewertet. Sie löste den bis dahin tätigen Untersuchungsrichter als „Herrin des Verfahrens“ ab und hatte damit eine richterliche Funktion inne.

ÖVP will weisungsfreien Bundesstaatsanwalt

Die ÖVP fordert überraschend die Schaffung eines unabhängigen Bundesstaatsanwaltes. Sie begründet das mit mehreren Justizpannen, so die ÖVP. Der Koalitionspartner ist erfreut, weil die Grünen wie auch SPÖ und NEOS schon länger einen unabhängigen Bundesstaatsanwalt vorgeschlagen haben. Ob der Justizminister durch die Reform sein oberstes Weisungsrecht tatsächlich verliert, ist noch unklar.

Ein interessanter Aspekt, der allerdings oft zu kurz kommt, ist am 1. Jänner 2008 ebenso passiert: Die Staatsanwälte wurden verfassungsrechtlich zu „Organen der ordentlichen Gerichtsbarkeit“ erklärt. Dass sie aber weiterhin weisungsgebunden sind, sorgte für einige rechtstheoretische Debatten über die Stellung der Staatsanwälte. Gehören sie nun zur „steuer- und kontrollierbaren Verwaltung oder zur unabhängigen und unverantwortlichen Gerichtsbarkeit?“, fragte etwa Staatsrechtler Ewald Wiederin. Der Verfassungsgesetzgeber, so Wiederins Schluss, habe mit diesem Konstrukt versucht, es allen recht zu machen.

Ex-Justizministerin Berger sagte darauf angesprochen: „Wir haben den Generalstaatsanwalt damals nicht durchgebracht. Deshalb haben wir versucht, den Fuß in die Türe zu bekommen – mit der Gerichtsbarkeit.“ Sie ist der Meinung, dass Staatsanwälte und Staatsanwälte mit ihren Aufgaben und mit ihrer Pflicht zur Objektivität sich näher den Richtern und Richterinnen fühlten als der Verwaltung. Das habe man mit Paragraf 90a des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG) auch rechtlich verankern wollen.

Gerichtsbarkeit, aber weisungsgebunden

Aber freilich waren auch die Staatsanwälte stark für diese Stellung innerhalb der Gerichtsbarkeit eingetreten. Allerdings gab es mit der Weisungsgebundenheit eine Einschränkung – und diese wurde quasi in letzter Minute verschärft. Die ursprüngliche Fassung des letzten Satzes des Art 90a B-VG hatte gelautet: „Inwieweit sie bei der Besorgung ihrer Aufgaben an die Weisungen der ihnen vorgesetzten Organe gebunden sind, wird durch Bundesgesetz geregelt.“

Die ehemalige Politikerin und Juristin Maria Berger.
APA/Georg Hochmuth
Ex-Justizministerin Berger zeigte sich erfreut über den ÖVP-Meinungsschwenk zum Generalstaatsanwalt

Damit wäre, so wurde es zum Teil interpretiert, auch ein Ausschluss der Weisungsbindung der Staatsanwälte möglich gewesen. Im Dezember 2007, als im Nationalrat über die Novelle des B-VG abgestimmt wurde, wurde der Satz allerdings verschärft. SPÖ und ÖVP brachten einen weiteren Abänderungsantrag zur „inhaltlichen Präzisierung“ ein. „Durch Bundesgesetz werden die näheren Regelungen über ihre Bindung an die Weisungen der ihnen vorgesetzten Organe getroffen“, hieß es darin.

Berger möchte aber nicht missverstanden werden. Weisungen und Berichte können durchaus Maßnahmen zur Qualitätssicherung darstellen. Allerdings steht bei einer ministeriellen Weisung immer der Verdacht im Raum, dass diese politisch motiviert sei. Mit einem Generalstaatsanwalt könnte man dieses Problem lösen. Dieser wurde auch schon Jahre zuvor beim „Österreich-Konvent“ zur Staats- und Verfassungsreform thematisiert. Auf einen Textvorschlag des heutigen Richters am Verfassungsgerichtshof, Johannes Schnizer, konnten sich die Politiker und Experten nicht einigen. Sie gingen im Dissens auseinander.