Rückenansicht einer Frau im Trainingsgewand vor einem Fenster mit Bergpanoramablick
Milleetuneproductions
Frankreichs Missbrauchsdebatte

Film bringt Skisport in den Fokus

Der französische Film „Slalom“, letztes Jahr in der Auswahl des Filmfestivals Cannes, schlägt gerade jetzt in Frankreich hohe Wellen. Der Film bringt systematischen Missbrauch im Skisport in den Fokus. Darüber hinaus diskutiert Frankreich seit Wochen über Missbrauch innerhalb der Familie. Auslöser war das Buch von Camille Kouchner, der Tochter des ehemaligen Außenministers Bernard Kouchner.

Es sind bedrückende Szenen, die Favier in ihrem ersten Spielfilm umsetzt. Die 15-jährige Lyz (Noee Abita) verausgabt sich über ihre körperlichen und psychischen Grenzen hinaus, um den Ansprüchen ihres Skitrainers Fred (Jeremie Renier) zu genügen, der sie auf Olympianiveau im Slalom trainieren will. Fred, der zwischen öffentlicher Demütigung seines Schützlings vor den anderen Schülerinnen und Komplimenten und Aufmunterungen im Privaten hin und her wechselt, bereitet seine sexuellen Übergriffe auf Lyz von langer Hand vor.

Dabei seziert „Slalom“ die perfide Struktur eines Missbrauchsfalls: Lyz’ Mutter reibt sich als Alleinerziehende im Job auf und kann die Tochter nicht ausreichend bei ihren schulischen Aufgaben unterstützen. Da diese Leistungen aber Voraussetzung für das elitäre Training sind und sie im Sport Erfolge verzeichnet, bietet Fred an, dass Lyz bei ihm und seiner Partnerin einziehen soll.

Kraft und Mut dank „#MeToo“

Die Mischung aus einem Opfer, das vom Täter emotional und in seinen sportlichen Zielen vom Täter abhängig ist, und der versagenden Kontrolle jener, die Lyz eigentlich beschützen sollten, zielt ins Allgemeine. Favier, die wie sie im Interview mit der BBC sagte, selbst „in einem anderen Sport“ Übergriffe erfahren hat, trifft mit „Slalom“ einen wunden Punkt.

Mit den Entwürfen zum Drehbuch begann sie bereits 2014, gedreht wurde „Slalom“ schließlich erst 2019, als im Zuge von „#MeToo“ auch in Frankreich massenhaft Missbrauchsfälle publik gemacht wurden. „Als ich 2014 zu schreiben begann, sprach noch niemand darüber, ich wollte ein Tabu anprangern.“ Als sie schließlich zu drehen begann, habe „#MeToo“ ihr „Kraft und Mut gegeben, weil ich zu diesem Zeitpunkt Angst hatte, die Geschichte zu erzählen“.

Lyz’ Geschichte in „Slalom“, in der Favier keinen Spielraum für Ambivalenzen lässt, ist gerade auf britischen Streamingportalen angelaufen, hat aber noch keinen Vertrieb für den deutschsprachigen Raum gefunden und ist, wie so viele internationale Produktionen vorerst nur eingeschränkt zugänglich.

„Machtmissbrauch im System“

Der Missbrauch im Skisport hat und hatte, bedenkt man die gehäuften Aussagen ehemaliger Rennläuferinnen, System. Claudine Emonet, die bis in die 1990er im französischen Weltcup-Team aktiv war, berichtete im März 2020 von Missbräuchen in den 1980er Jahren durch einen Trainer: „Er benahm sich wie ein Guru, der seine Macht missbrauchte, uns bedrohte und misshandelte“, sagte sie gegenüber dem „Standard“. Der Täter wandte immer dieselbe Methode an und missbrauchte eine große Zahl minderjähriger oder gerade volljährig gewordener Rennläuferinnen.

„Die Hauptschuld trägt der Machtmissbrauch im System“, begründet die ehemalige Skiläuferin Nicola Werdenigg in ihrem Blog die Ursache für gehäufte Berichte über Missbrauch im Skisport. Werdenigg, österreichische Abfahrtsmeisterin von 1975, berichtete 2017 im „Standard“ über ein schockierendes Klima sexualisierter Gewalt und des Machtmissbrauchs: „Wer nicht mitspielen wollte, brachte seinen Startplatz in Gefahr. Und es hat Übergriffe gegeben, sexualisierte Gewalt. Von Trainern, von Betreuern, von Kollegen, von Serviceleuten.“

Die Rechercheplattform „Dossier“ diskutierte wenige Monate darauf eine Vielzahl von Fällen, die dem Österreichischen Skiverband (ÖSV) gemeldet wurden. In der Folge erhob Ende 2018 eine Zeugin im „Spiegel“ schwere Vorwürfe gegen Olympiasieger Toni Sailer. Er habe sie im Alter von 14 Jahren vergewaltigt.

Lange schwelende Debatte

Die Missbrauchsfälle im Skisport, die „Slalom“ analysiert, sind aber nur ein Ausschnitt aus einer großen Debatte, die seit einiger Zeit in Frankreich schwelt. Diese berührt, wie der Fall der ehemaligen Eiskunstläuferin Sarah Abitbol andere Bereiche des Spitzensports. Abitol veröffentlichte im Jänner 2020 das autobiografische Buch „Un si long silence“ („Ein so langes Schweigen“) in dem sie enthüllte, mit 15 von ihrem damaligen Trainer vergewaltigt worden zu sein.

Buchcover von „La familia grande“
Seuil Verlag
Camille Kouchner: La famiglia grande. Seuil-Verlag, 208 Seiten, 18 Euro.

In der Folge trat der Präsident des Eiskunstlaufverbands von seinem Amt zurück, da dem Verband etliche Übergriffe gemeldet worden waren, diesen aber nicht nachgegangen wurde. Dasselbe Muster wiederholt sich jetzt ein Jahr später mit größerer Wucht, seit die Juristin Camille Kouchner im Jänner den Roman „La Familia grande“ („Die große Familie“) veröffentlicht hat.

Sie ist die Tochter des ehemaligen Außenministers und Mitbegründers der NGO Ärzte ohne Grenzen, Bernard Kouchner. Im Roman wirft sie ihrem Stiefvater, dem bekannten Pariser Politologen Olivier Duhamel vor, vor drei Jahrzehnten ihren damals minderjährigen Zwillingsbruder sexuell missbraucht zu haben.

Duhamel ging zwar nicht direkt auf die Vorwürfe ein, legte aber nach deren Bekanntwerden seine Funktionen nieder. Ähnlich wie im Sport sollen auch in der Pariser Intellektuellenelite die Missbrauchsvorwürfe längst bekannt gewesen, aber über Jahre dezent ignoriert worden sein.

„#SciencesPorcs“ und Pädophilie in der Literaturszene

Es folgten weitere Rücktritte – zuletzt nahm der Direktor der Eliteuniversität Sciences Po, Frederic Mion, seinen Hut, nachdem er die Affäre zunächst einfach hatte aussitzen wollen. Doch am Ende war der Druck der Proteste, die sich unter den Studierenden zu regen begannen, zu groß. Mion hatte zuvor eingeräumt, dass er schon vor Jahren von Vorwürfen gegen Duhamel erfahren hatte.

Archivbild der französischen Eiskunstläuferin Sarah Abitbol aus dem Jahr 2003
APA/AFP/Jacques Demarthon
Die Eiskunstläuferin Sarah Abitbol machte Vergewaltigungsvorwürfe gegenüber ihrem ehemaligen Trainer publik

Studentinnen berichteten unter dem Hashtag #SciencesPorcs – ein Wortspiel mit dem französischen Wort für Schwein „porc“ – von ihren Erlebnissen mit sexualisierter Gewalt an der Elitehochschule. Die Science Po gilt in Frankreich als „Hochschule der Macht“. Präsident Emmanuel Macron gehört ebenso zu den Absolventen wie Topmanager der Wirtschaft.

Die Autorin und Verlegerin Vanessa Springora hatte bereits im vergangenen Jahr mit Vorwürfen gegen den gefeierten Schriftsteller Gabriel Matzneff Pädophilie in der Literatur- und Intellektuellenszene angeprangert. Diese habe Pädophilie über Jahre nicht nur geduldet, sondern zum Teil in den 1970er Jahren innerhalb des linken Kulturkampfs gar Straffreiheit gefordert, führte die „FAZ“ in einem Artikel zur Debatte aus. Der Schock nach Springoras Enthüllungen saß tief, Aktivistinnen schrieben an Pariser Hauswände: „Vanessa, wir glauben dir.“

„#MeTooInceste“

Im Netz teilten zuletzt zahlreiche Opfer unter dem Schlagwort „#MeTooInceste“ ihre Missbrauchserfahrungen innerhalb ihrer Familien – berichteten von Schuldgefühlen und Machtlosigkeit. Einer auf einer Umfrage basierenden Schätzung des Umfrageinstituts Ipsos zufolge waren oder sind zehn Prozent der Französinnen und Franzosen im Land Opfer von Inzest. Die Mehrheit der Opfer sind demnach Frauen. Die aktuellen Vorwürfe treffen bekannte Schauspieler genauso wie Politiker – und beschäftigen mittlerweile auch die Justiz.

Gesetzesantrag gebilligt

Im Fokus in der Debatte stand zuletzt eine gesetzliche Regelung, die es bisher möglich machte, dass Volljährige nach Sex mit Minderjährigen milde bestraft oder gar freigesprochen werden. Das war möglich, weil das Gesetz in Frankreich bei sexuellen Handlungen mit unter 15-Jährigen eine Zustimmung des Kindes als entlastenden Faktor berücksichtigt. Es obliegt den Gerichten zu beurteilen, ob der oder die Minderjährige in der Lage gewesen sei, in die sexuelle Beziehung einzuwilligen.

„Wir hören euch zu, wir glauben euch“, sagte Präsident Macron Ende Jänner in einer Videobotschaft an die Opfer. Nach dem Willen des Staatschefs soll nun endlich ein reguläres Schutzalter eingeführt werden, bis zu dem es keinen einvernehmlichen Sex mit einem Minderjährigen geben kann. Zwar gibt es auch in Frankreich viele Paragrafen zum Schutz von Minderjährigen, aber nach Ansicht von Kinderrechtsverbänden klafft eine Rechtslücke.

Laut dem Gesetzesantrag, welchen die Nationalversammlung am Donnerstag in erster Lesung annahm, soll das Schutzalter 15 Jahre betragen und bei Fällen von Inzest sogar bei 18 Jahren liegen. Auf die „sexuelle Penetration“ von Minderjährigen sowie Oralsex sollen demnach künftig 20 Jahre Haft stehen, bei Inzest zwischen Blutsverwandten sogar 30 Jahre.