Luftaufnahme des historischen Stonehenge
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Stonehenge Nummer zwei?

Ein Wunder für Wunsiedel

Es hat nicht erst die Erkenntnis gebraucht, dass das originale Stonehenge so etwas wie ein Riesenaltar war und als schweres Gepäck von Wales in den Süden Englands pilgerte. In einer mitteldeutschen Kreisstadt mit dem schönen Namen Wunsiedel wünscht sich ein Bürgermeister schon seit einiger Zeit den Nachbau des Originals. Was in Wiltshire steht, soll im Fichtelgebirge auch möglich sein, wenn auch aus Beton. Und weil Wunsiedel in der Region Franken liegt und die Bayern und Franken sich ohnedies nie ganz grün waren, blüht um Stonehenge Nummer zwei auch eine sanfte Medienposse.

Das oberfränkische Wunsiedel ist bisher durch zwei Persönlichkeiten bekannt geworden. Zunächst durch seinen vielleicht berühmtesten Sohn, den Schriftsteller Jean Paul, der als Johann Paul Friedrich Richter im Jahr 1763 in Wunsiedel zur Welt kam und spätestens mit seinem Großroman „Titan“ so etwas wie der Anti-Goethe der deutschen Klassik wurde. Und da ist dann auch noch die Person Rudolf Heß.

Adolf Hitlers früher Stellvertreter, der noch bei den Nürnberger Prozessen den Alliierten empfahl, sie mögen sich doch mit ihrem Prozess nicht in „innerdeutsche Angelegenheiten“ einmischen, wurde nach seinem fünften und schließlich geglückten Suizidversuch auf eigenen Wunsch im Grab seiner Eltern in Wunsiedel, obwohl er dort nie gelebt hatte, begraben. Über Jahrzehnte war Wunsiedel wegen des Heß-Grabes Pilgerort der rechtsextremen Szene (weswegen 2011 der Pachtvertrag für das Heß-Grab aufgekündigt wurde, man Heß exhumierte und, wie es heißt, „auf See“ bestattete).

Wunsiedel möchte wenn, dann an den Glanz der Jean-Paul-Zeit anschließen – und auch wenn Jean Paul die Hauptzeit seines Lebens nicht in Wunsiedel verbrachte, sondern meist in anderen fränkischen Kapitalen zwischen Coburg und Bayreuth, so wurde Wunsiedel auf kulturellem Gebiet bekannt durch die Luisenburger Freiluftspiele. Auch hier zeigte sich schon der Hang der Stadt, immer ein bisschen größer und über das Provinznest hinaus zu denken, und wenn es denn so wäre, dass Jean Paul die Welt vom Himmel beobachten könnte, so müsste er feststellen, dass den Wunsiedlern schon der Hang eigen scheint, die Jean Paul’sche Satire mit Realität zu überholen.

Bildkombo mit dem Dichter Jean Paul, Showmaster Thomas Gottschalk und der bayrische Ministerpräsident Markus Söder
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Die berühmtesten drei Franken: Jean Paul (Wunsiedel), Thomas Gottschalk (Bamberg), Markus Söder (Nürnberg)

Das innerbayrische Sich-Hänseln

In diesem Kontext zelebrieren überregionale bayrische Medien, allen voran die in München beheimatete „Süddeutsche Zeitung“, das Pasquill auf die Franken, diesmal am Beispiel Wunsiedel, weil man ja nicht ewig auf der Klaviatur des bayrischen Ministerpräsidenten Söder herumreiten kann, der als Franke nach Günther Beckstein nicht nur den südlichsten deutschen Freistaat regiert, sondern sich anschicken könnte, als Franke sogar in Berlin zu residieren (was Jean Paul übrigens auch schon geschafft hatte – sich dann aber wieder lieber Richtung Bayreuth, das damals noch keine Villa Wahnfried kannte, zurückzog).

Man brauche wieder „Frequenzbringer“, fasste der junge Bürgermeister die Idee des Projekts „Wunhenge“ auf dem Wunsiedler Katharinenberg zusammen. Schon jetzt ist der Hügel, auf dem sich Wunsiedel im 15. Jahrhundert im Zuge der Hussitenkriege verteidigt hatte, schon ein Ausflugsberg mit unterschiedlichen Attraktionen zwischen Kletterpark und Greifvogelkontakt. Wenn man in Wunsiedel nach der Pandemie wieder die Besucherzahlen in die Höhe treiben wolle, brauche es eine Attraktion. Die Idee zu „Wunhenge“ stammt jedenfalls aus der Zeit vor dem Coronavirus, wo man schon mit 100.000 Besuchern pro Jahr kalkulierte – ein wesentlicher Faktor für eine strukturschwache Region wie Oberfranken, wo man vor allem zusätzliche Nächtigungen erreichen mag.

Wunsiedel im Winter während der Coronavirus-Krise
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Wunsiedel im CoV-Winter. Für die Zeit nach der Pandemie sucht man in der strukturschwachen Region nach Publikumsmagneten.

Beton statt Granit

Aus Kostengründen will man bei „Wunhenge“ auf Beton statt Granit zurückgreifen. Man werde jedoch weder optisch noch haptisch einen Unterschied zum Original feststellen können, zitierte der Bayerische Rundfunk jüngst den Geschäftsführer des lokalen Unternehmens, der für die Fertigstellung verantwortlich ist. Ein neues Wahrzeichen für das Fichtelgebirge solle entstehen, ist man sich bei den Verantwortlichen sicher.

Doch die Losung des neuen Wahrzeichens im Nordosten Bayerns ließ dann der „Süddeutschen Zeitung“ in München doch keine Ruhe. Man müsse vielleicht über den Begriff des „Wahrzeichens“ neu nachdenken, wenn auch eine Reproduktion ein solches „wahres Zeichen“ sein könne: „Aber vielleicht ist diese Frage genauso naiv wie die Vorstellung, Wunhenge als neues Wahrzeichen des fränkischen Fichtelgebirges könne irgendwas mit einem wahren Zeichen zu tun haben in einer Zeit, die die Differenz zwischen dem Wahren, dem Wahn und der Ware so entschlossen abgeschafft hat wie zuvor die D-Mark-Scheine.“

Das „Wahre“, es höre sich in Zeiten alternativer Faktizität ohnedies nur noch an wie eine „Kostüm-Operette“. „Es gibt viel mehr Kopien als Originale.“ Übrig geblieben ist auf jeden Fall Walter Benjamins Schrift über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, auch wenn Benjamin eher keine Steine im Sinn hatte.

Beim Wunsiedler Traum von einer strahlenden Zukunft darf man sich jetzt schon in den Vorstellungen Jean Pauls betten, etwa wenn sein Armenadvokat Siebenkäs aus dem Reichsmarktflecken Kuhschnappel im „Zweiten Blumenstück“ wild halluziniert: „Mir träumte, ich sehe in der zweiten Welt: um mich war eine dunkelgrüne Aue, die in der Ferne in hellere Blumen überging und in hochrote Wälder und in durchsichtigere Berge voller Goldadern – hinter den krystallenen Gebirgen loderte Morgenrot, von perlenden Regenbogen umhangen – auf den glimmenden Waldungen lagen statt der Tautropfen niedergefallene Sonnen.“ Wo, wenn nicht dort, könnte, ja muss ein zweites Stonehenge stehen.