Von „Faust“ über „Der Besuch der alten Dame“ bis hin zu „Wir töten Stella“ – das alles hat man jahrzehntelang in der Oberstufe gelesen. Das war einmal. Seit der Einführung der Zentralmatura 2015 wird die Kritik an der Marginalisierung der Literatur immer lauter. Das sehe man einerseits in der Reifeprüfung selbst, so Gerhard Ruiss von der IG Autorinnen Autoren. Nur eine von sechs Aufgaben der Deutschmatura bezieht sich da auf einen literarischen Text.
Andererseits zeige sich auch im Unterricht, dass das Erlernen von Textsorten, vom Leserbrief über den Kommentar bis zum Sachtext, dem Literarischen vorgezogen werde, so die wiederkehrende Kritik der IG Autorinnen Autoren – mit Langzeitfolgen für die Schülerinnen und Schüler. Braucht es also mehr – und gute – schulische Anreize für die Förderung der Lesebegeisterung?
Im Dialog mit Jugendlichen
„Ja“ – das würden wohl die Beteiligten des Programms „AG Germanistik – Literatur für Schüler*innen“ antworten. Seit genau dreißig Jahren engagiert sich der Wiener Kunstverein Alte Schmiede für den Austausch zwischen Jugendlichen und Autorinnen und Autoren. Vier- bis fünfmal jährlich findet der Dialog zu jeweils einem Werk – Roman, Lyrik, Theatertext oder Experimentelles – im Schmiede-Kellergewölbe in der Schönlaterngasse im ersten Wiener Gemeindebezirk statt. Und blickt man auf die Liste der bisherigen Vortragenden, liest sich das wie das Who’s who der österreichischen Schriftsteller.

Ilse Aichinger, Paulus Hochgatterer, Michael Köhlmeier, Marlene Streeruwitz, Robert Menasse, Arno Geiger, Barbara Frischmuth und auch Wolf Haas haben sich hier zur Diskussion eingefunden, und – ja tatsächlich – sogar Elfriede Jelinek. Die zurückgezogen lebende und als medienscheu bekannte Nobelpreisträgerin habe damals sogar aus ihrer eigenen Schulzeit berichtet, erzählt AHS-Professorin Martina Partilla, die seit über 20 Jahren am Programm mitwirkt, mit ein wenig Stolz.
Start im Jahr 1991
Gestartet wurde das Vermittlungsprogramm im Jahr 1991, zunächst aus dem Bedürfnis von Lehrerinnen und Lehrern, sich in Sachen zeitgenössischer Literatur weiterzubilden. Nach einigen Monaten ließ man den Jungen den Vortritt. Das jetzige Prozedere: Die Alte Schmiede schlägt circa 20 Texte vor, Schülerinnen und Schüler treffen gemeinsam mit ihren Professorinnen eine Auswahl, nach intensiver Lektüre und der Ausarbeitung von Fragen kommt es zum Treffen.
Wer teilnehmen kann? Grundsätzlich alle Deutsch-Oberstufenklassen. In der Praxis sind es aber meist die Deutsch-Wahlpflichtfachschülerinnen und -schüler einiger engagierter Lehrkräfte. Mit Aussendungen und etwa einer Facebook-Gruppe ist man seit einiger Zeit bemüht, weitere Schulen an Bord zu holen.
„Die Begeisterung springt über“
„Als ich ein junger Mensch war, gab es auch Dichterlesungen, die einen unglaublichen Eindruck auf mich gemacht haben. Sie haben mich animiert zu lesen und auch animiert zu schreiben“, erzählt Köhlmeier, warum er selbst zweimal am Programm teilnahm. „Vielleicht motiviert es ja den einen oder anderen, den Beruf des Schriftstellers ins Auge zu fassen, weil es doch ein schöner Beruf ist.“

„Wenn Literaturvermittlung gelingt, springt Begeisterung über und Leidenschaft“, stimmt seine Kollegin Birgit Birnbacher ein, die Bachmannpreisträgerin von 2019, die im letzten Jahr ihr viel gelobtes Debüt „Ich an meiner Seite“ veröffentlichte.
Direkt wahrnehmen konnte Birnbacher die Literaturbegeisterung ihrer Zuhörerschaft leider nicht, weil sie sich beim Jänner-Termin dieses Jahres bedingt durch die Coronavirus-Pandemie vor einer Videokamera für die Aufzeichnung wiederfand.
Unkonventionelle Fragen
Im Normalbetrieb sind es um die 100 Oberstufenschüler aus acht oder neun Schulen, die pro Termin in die Alten Schmiede kommen. Dort gibt es eine ganz wichtige Regel, nämlich Sprechverbot für Lehrerinnen und Lehrer, damit die Deutungshoheit beim jungen Publikum bleibt. „Sie fragen so unverblümt“, nennt Birnbacher den Unterschied zu ihren üblichen Lesungsterminen.
Veranstaltungshinweis
Der nächste Termin des Programms „AG Germanistik – Literatur für Schüler*innen“ findet am 22. Februar als geschlossene Veranstaltung statt, Andrea Grill: „Safari, innere Wildnis“ (Gedichte, Otto Müller Verlag).
„Unkonventionelle Fragen“, so fasst auch Köhlmeier die Besonderheit der Treffen zusammen. „Wie pflegt und erweitert ein Schriftsteller seinen Wortschatz?“, sei er beispielsweise gefragt worden, das habe ihn lange nachdenken lassen. „Ist es moralisch, das Leben anderer literarisch auszuschlachten?“, damit ist Birnbacher konfrontiert worden – und mit der Frage nach ihrem Einkommen: „Ich habe ehrlich geantwortet, und sie sind ziemlich erschrocken.“
Wie sich die Zentralmatura auf das Interesse ihrer Schülerinnen und Schüler an Literatur auswirkt? Die Lehrerinnen haben dazu unterschiedliche Einschätzungen: Partilla ortet einen Rückgang der Wahlpflichtfachschülerinnen und -schüler, die Beschäftigung mit Literatur brauche im engen Korsett des Lehrplans „zu viel Zeit“. Ihre Kollegin Barbara Slechta, seit 2012 im Programm engagiert, zeigt sich grundsätzlich weniger pessimistisch: Der Freiraum sei zum Glück groß, selbst bei der Vermittlung von Textsorten könne man Literatur einsetzen.
Lange Diskussionen über Kapitalismus und Umwelt
Spricht man über die Termine in der Alten Schmiede, kommen jedenfalls beide Lehrerinnen ins Schwärmen: Bei Philipp Weiss’ Theatertext „Der letzte Mensch“ wollten die Schüler „gar nicht mehr aufhören, über Kapitalismus, Umwelt und Zukunft zu diskutieren“, so Slechta. Auch der Vergleich zwischen dem Manuskript und der Umsetzung im später besuchten Theaterstück sei sehr interessant gewesen.
Partilla wiederum erinnert sich, wie die Schülerfragen selbst die Satiriker Christoph Grissemann und Dirk Stermann zum Nachdenken brachten. Oder wie Robert Menasse den Spieß umdrehte und die Jugendlichen über ihr Politikwissen befragte – mit der Folge, dass sie sich bewusst geworden seien, dass es „Aufholbedarf“ in Sachen politischer Bildung gibt.
Hinweis
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Bildung statt Ausbildung
Für die Wichtigkeit von Wissensvermittlung, die nicht auf den ersten Blick auf „Nützliches“ abzielt, plädiert jedenfalls Köhlmeier: Echte Bildung spiele „in einem ganz anderen Feld“ als die heute dominierende „Ausbildung“. „Beim ‚König Lear‘ gibt es eine schöne Stelle, wo es heißt: ‚Gib dem Menschen nur, was er braucht, und sein Leben ist nicht mehr das eines Tiers.‘“ „Wir brauchen“, so der Schriftsteller weiter, „zwar keine Literatur, aber die Würde entsteht genau dort, wo man über das Notwendigste hinaus noch etwas will“.
Wem das noch immer nicht genügt: Folgt man der einschlägigen Leseforschung, lässt sich selbst mit Nützlichkeitsargumenten für die schöne Literatur werben. Das „Deep Reading“, also das „tiefgehende“ und nicht das schnelle, oberflächliche Lesen, soll nicht nur klüger machen, es trainiert auch die Empathiefähigkeit – durch das Eintauchen in andere Welten.