Verhandlungssaal im VfGH in Wien
ORF.at/Christian Öser
VfGH-Sondervotum

Im Namen des Einzelnen

Für gewöhnlich beherrscht das endgültige Wort der Höchstrichter und Höchstrichterinnen die Schlagzeilen. Doch in den vergangenen Tagen wurde der Verfassungsgerichtshof (VfGH) selbst zum Thema. Denn neben den Ermittlungen gegen Mitglied Wolfgang Brandstetter wurde der VfGH auch mit einer Gesetzesänderung konfrontiert, nach der schon oft verlangt wurde – meist mit politischer Kritik an Entscheidungen gekoppelt.

Seit rund 100 Jahren existiert der VfGH. Im Lauf der Geschichte ließ der Gesetzgeber einiges am Höchstgericht ändern. Das nächste Kapitel bedeutet allerdings einen Paradigmenwechsel, der einerseits als notwendig begrüßt, andererseits als Angriff gewertet wird. Mit dem Informationsfreiheitspaket, das sich derzeit in Begutachtung befindet, will die Regierung den Staat „transparenter“ machen. Auf den VfGH kommt laut Entwurf das Sondervotum zu. Richterinnen und Richter, die eine von der Mehrheit abweichende Rechtsmeinung haben, sollen diese künftig auch veröffentlichen dürfen.

Zu unterscheiden ist dabei zwischen einer „Dissenting Opinion“ und einer „Concurring Opinion“. Im ersten Fall trägt ein Richter bzw. eine Richterin die Entscheidung der Mehrheit nicht mit und begründet das. Im zweiten Fall wird zwar das Ergebnis der Mehrheit unterstützt, aber aus anderen Gründen. In vielen Staaten – die USA gelten als Musterbeispiel der Sondervoten – existiert diese Möglichkeit schon lange, hierzulande wäre das ein Novum. Denn seit hundert Jahren tritt der VfGH als Kollektiv mit einer Stimme nach außen auf.

Nach den wochenlangen Beratungen wird das Erkenntnis der 14 Richterinnen und Richter „im Namen der Republik“ veröffentlicht und ausführlich begründet. Was in den Sessionen, die viermal jährlich zu je dreieinhalb Wochen stattfinden, besprochen wurde und wie welches Mitglied abgestimmt hat, dringt nicht an die Öffentlichkeit. Gemäß Geschäftsordnung des VfGH wird das Abstimmungsergebnis nur in einem „besonderen Beratungsprotokoll“ verzeichnet. Das Schweigen sichert laut Fachleuten die Unabhängigkeit des VfGH.

Alle Jahre wieder

Doch schon allein wegen des „parteipolitisch geprägten Auswahl- und Bestellmodus“ des VfGH-Gremiums seien die Richterinnen und Richter „Spekulationen über ihr Abstimmungsverhalten ausgesetzt“, schrieb die Politologin Tamara Ehs in einem 2020 erschienen Beitrag. So ist die Debatte über „Abweichler“ alles andere als neu. Alle paar Jahre wird nach dem Sondervotum verlangt, insbesondere dann, wenn der VfGH Entscheidungen fällt, die politisch Staub aufwirbeln. In der jüngeren Geschichte war das etwa 2016 der Fall: Damals hob das Höchstgericht die Bundespräsidentschaftswahl auf. Für die SPÖ war die Aufhebung keine „Sternstunde“ des VfGH, der Ruf aus der Partei nach Sondervoten wurde lauter. Der Koalitionspartner ÖVP war aber strikt dagegen.

Brigitte Bierlein als Richterin im Verfassungsgerichtshof 2016
ORF.at/Roland Winkler
Nach der Aufhebung der Bundespräsidentschaftswahl 2016 wurde der VfGH mit der Forderung nach Sondervoten konfrontiert

Nach dem Erkenntnis zu den zweisprachigen Ortstafeln in Kärnten im Jahr 2001 war es die FPÖ, die „mehr Transparenz“ im Höchstgericht verlangte. Der damalige Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider (FPÖ/BZÖ) interessierte sich 2006 besonders dafür, „welcher der Höchstrichter mit welcher Begründung gegen die Urteilsbildung in der Ortstafelfrage gestimmt hat“. Über Jahre hinweg wurde behauptet, dass die Entscheidung zu den Ortstafeln knapp ausgefallen sei. Damit wurde die Debatte über mögliche abweichende Meinungen erneut befeuert. Von einer gesetzlichen Verankerung war man weit entfernt. Auch 2004 beim „Österreich-Konvent“ wurde keine Einigung erzielt.

Viel früher, 1992, wurde unter Bundeskanzler Franz Vranitzky (SPÖ) ein erster Entwurf zu Sondervoten in Begutachtung geschickt. Die Begründung von damals ähnelt der heutigen: Die Mehrheit der Richterinnen und Richter könne durch die Möglichkeit, Sondervoten zu veröffentlichen, davon abgehalten werden, „gewichtige Argumente anderer Mitglieder“ zu übergehen. Es blieb jedoch beim Entwurf. Die ÖVP sah im Vorhaben nämlich den Versuch, den VfGH wegen seiner jüngsten Erkenntnisse (Familienbesteuerungserkenntnis, Anm.), die der SPÖ nicht gefielen, „an die Kandare zu nehmen“, wie Heinrich Neisser (ÖVP) sagte. Für den VfGH selbst war eine „sachliche und emotionsfreie Diskussion“ wegen dieser „Atmosphäre“ nicht möglich.

Sondervotum erst spät im Entwurf

Auch der aktuelle Vorstoß unter der ÖVP-Grünen-Regierung folgt in einer durchaus turbulenten Zeit. Zuletzt hatte das Höchstgericht einige Fälle entschieden, die gesellschaftspolitisch kontrovers diskutiert werden. Zum einen wurden einige Coronavirus-Maßnahmen als gesetzwidrig eingestuft, zum anderen hob der Verfassungsgerichtshof das Kopftuchverbot für Schülerinnen in der Volksschule auf und lockerte außerdem das Sterbehilfeverbot. 2019 wurden Teile des Sicherheitspakets gekippt und 2017 die Ehe für homosexuelle Paare „geöffnet“.

Dass gerade jetzt wieder nach Sondervoten verlangt wird, überrascht deshalb nicht. ORF.at-Informationen zufolge wurde zwar monatelang über das Informationsfreiheitspaket verhandelt, aber erst gegen Ende 2020 fand das Sondervotum Platz im Entwurf. Dem Vernehmen nach war es die ÖVP, die darauf drängte. Die Grünen hatten aber nichts dagegen, weil man sich in den vergangenen Jahren ohnehin für die Möglichkeit ausgesprochen hatte. Im ursprünglichen Entwurf sei die Veröffentlichung des numerischen Abstimmungsergebnisses vorgesehen gewesen, heißt es. Diese „Idee“ wurde aber verworfen.

Verwundert über den Entwurf, der aus dem Bundeskanzleramt stammt und mit dem Justizministerium akkordiert wurde, war das Höchstgericht selbst. Im Vorfeld hätten zwischen VfGH und Regierung keine Gespräche stattgefunden, wie mehrere Personen, die mit den Verhandlungen vertraut sind, gegenüber ORF.at sagten. VfGH-Präsident Christoph Grabenwarter sprach sich bereits offiziell gegen das Sondervotum aus. „Ich war immer schon skeptisch, und die Skepsis hat zugenommen“, sagte er.

Kernaufgabe des VfGH

Der Verfassungsgerichtshof wacht über die Einhaltung der Verfassung und schützt die Grundrechte des Einzelnen gegenüber Verwaltung und Gesetzgeber. Er prüft Rechtsvorschriften auf Verfassungs- bzw. Gesetzesmäßigkeit, schlichtet Kompetenzstreitigkeiten und überprüft Wahlen.

In der Vergangenheit hatten sich schon seine Vorgängerin Brigitte Bierlein und seine Vorgänger Gerhart Holzinger und Karl Korinek ähnlich dazu geäußert. Dem Ex-VfGH-Präsidenten Ludwig Adamovich wird die Aussage zugeschrieben: Als Verfassungsrechtler würde er ein Sondervotum begrüßen, als VfGH-Präsident lehnt er dieses aber ab. Damit sprach Adamovich indirekt das an, was sich viele Personen, die an heimischen Höchstgerichten beschäftigt waren, denken: Der VfGH betreibt keine Wissenschaft, sondern entscheidet Streitfälle.

Wissenschaft und ihr Verlangen

Die Rechtswissenschaft hat ein großes Interesse an der „Dissenting Opinion“. Das merkt man auch an den zahlreichen Befürwortern des Vorhabens. Viele von ihnen lehren oder lehrten an Universitäten. „Die Wissenschaft lebt vom Diskurs und von der Entwicklung der Judikatur. Das kann ich ja auch nachvollziehen“, sagt eine Person, die selbst seit Jahren an einem Höchstgericht tätig ist. Aber dass das „Verlangen der Wissenschaft“ auf den VfGH übertragen wird, sei eine „Fehleinschätzung“, sagt der Jurist. „Es ist nicht die Aufgabe des VfGH, verschiedene Meinungen zu entwickeln und Forschung zu betreiben.“

VfGH Beratungszimmer Freyung 2018
VfGH/Achim Bieniek
Nach Beratungen der Höchstrichter und -richterinnen wird das Erkenntnis bekanntgegeben

Das Höchstgericht müsse sich darauf konzentrieren, Entscheidungen zu fällen und mit Blick auf die Streitparteien zu begründen. „Wenn drei Mitglieder eine ‚Dissenting Opinion‘ abgeben, mag es vielleicht für die Rechtswissenschaft interessant sein. Für den Verfassungsgerichtshof bedeutet das aber nur, dass sein abschließendes Wort, das von der Mehrheit getragen wird, an Gewicht verlieren wird“, heißt es aus den Höchstgerichten. Nach außen hin könnte nämlich der Eindruck erweckt werden, dass es „keinen Schlusspfiff“ mehr gibt. Für Politikerinnen und Politiker wäre die „Dissenting Opinion“ eine Möglichkeit, das VfGH-Erkenntnis in Zweifel zu ziehen.

Die politische Argumentation für die Einführung des Sondervotums basiert hingegen hauptsächlich auf der Forderung nach „mehr Transparenz“. Dass das Sondervotum mit dem Schlagwort „Abschaffung des Amtsgeheimnisses“ geregelt wird, sei ein „guter Schachzug“, sagen Kritiker und Kritikerinnen, die ins Feld führen, dass kein anderes Staatsorgan seine Entscheidungen so ausführlich begründen würde, wie es die Richter und Richterinnen des VfGH tun. Die Forderung, man müsse die „Vorgänge des VfGH transparenter machen“, würden Parteien „immer wieder aus dem Köcher ziehen, wenn ihnen Entscheidungen nicht in den Kram passen“.

Erste Kritik „von innen“

Aus Regierungskreisen heißt es, dass das Sondervotum „im Rahmen der Transparenzdebatte“ sehr wohl sinnvoll sei. Außerdem hätten die Höchstgerichte in den USA und in europäischen Staaten, wo die Veröffentlichung von abweichenden Meinung seit Langem fester Bestandteil des Prozesses ist, auch nicht an Autorität eingebüßt. Von einer richterlichen Disziplinierung könne keine Rede sein. Durch offene Begründungen, die vom Erkenntnis der Mehrheit abweichen, wäre es sogar möglich, die im Nachhinein emotional geführten Debatten zu versachlichen.

So argumentierte jedenfalls der Rechtswissenschaftler Karl Stöger in einem 2007 erschienenen Beitrag, der auch im Gesetzesentwurf zitiert wird. „Wird ein Sondervotum veröffentlicht, so kommt gewissermaßen die erste Kritik an der Mehrheitsentscheidung ‚von innen‘, was durchaus zu einer Versachlichung der Diskussion führen kann“, so Stöger. Damit könnte „haltlosen Spekulationen ein Riegel“ vorgeschoben werden – mit Blick auf die Attacken gegen den VfGH nach dem Ortstafel-Erkenntnis. Der Druck auf die Mehrheit wachse hingegen nur dadurch, dass diese ihre Überlegungen überzeugender zu begründen hätte.

Diese Ansicht vertrat auch der frühere VfGH-Richter Rudolf Machacek. Ein Jahr nachdem er aus dem Höchstgericht ausgeschieden war, sagte er 1998 anlässlich einer parlamentarischen Enquete über die Einführung eines Sondervotums für den VfGH: Die „Dissenting Opinion“ sei bereits ein Baustein der internationalen Rechtskultur, und darauf solle man in Österreich nicht verzichten. Als Vorbild nannte er die USA, wo die „Dissenters“ dazu beigetragen hätten, dass sich das Recht fortentwickelt. Allerdings führte Machacek auch an, dass das Ansehen der Rechtsprechung in den USA nicht „Ausdruck der Autorität der Gerichte ist, sondern Ausdruck ihrer großen Richter“.

VfGH gespalten?

Die Frage, die sich daher viele stellen, lautet: Soll der einzelne Richter bzw. die einzelne Richterin im Mittelpunkt stehen oder weiterhin der VfGH als Kollegialorgan? Mit der Offenlegung von Sondervoten würden jedenfalls die „einzelnen VfGH-Mitglieder, die bislang nur einem kleinen Kreis bekannt sind, obwohl sie eine gewichtige politische Rolle im Gefüge der Republik spielen, aus der Anonymität geholt“ werden, schreibt Forscherin Ehs. Aber: „Autorität beruht nicht auf Anonymität.“ Kritiker sehen es anders: „Individualisten“ fordern Sondervoten, weil sie darunter leiden, sich im Kollektiv nicht verwirklichen zu können.

Es sei außerdem zu befürchten, dass der Rechtsfindungsprozess durch die Möglichkeit, Sondervoten zu veröffentlichen, gestört wird. „Wenn ein Richter bemerkt, dass die Beratung in eine Richtung geht, die er nicht vertreten kann, dann besteht die Gefahr, dass er sich nicht mehr in dem Maße an der Konsensfindung beteiligt, wie es derzeit der Fall ist“, sagt ein langjähriger Jurist. Viele Mitglieder arbeiten zudem nicht hauptberuflich am VfGH, sondern üben die Funktion neben ihrer Zivilarbeit aus. Vor dem Hintergrund, dass die Richter und Richterinnen zwar unabhängig sind, aber vom Parlament bzw. von der Regierung nominiert werden, könnten sie durch die Veröffentlichung einem entsprechenden Druck ausgesetzt werden.

Der „politische Draht“ zu einzelnen Richtern und Richterinnen werde nicht stärker, nur weil abweichende Rechtsansichten veröffentlicht werden, sagt ein ranghoher Beamter aus dem Bundeskanzleramt. Die Unabhängigkeit der Mitglieder sei abgesichert, weil sie bis zum Alter von 70 Jahren fix im Amt bleiben. Ein Kritiker meint hingegen, dass das Sondervotum eines Einzelnen sehr wohl Druck auf die anderen erzeugen könnte. „Man wird sich die Frage gefallen lassen müssen, warum man nicht eine ‚Dissenting Opinion‘ zu einem Thema verfasst hat. Es ist dabei völlig egal, ob die Frage vom Nachbarn oder von einer Partei kommt, wobei Letzteres heikler wäre.“