„Von einem Moment auf den anderen wird uns die Fragilität unserer Existenz bewusst.“ Mit diesem Satz erklärt der Kulturwissenschaftler den Zustand, in den die Coronavirus-Pandemie die Gesellschaft katapultiert habe. Wir befänden uns auch ein Jahr nach Beginn der Pandemie immer noch in einem Zustand „durchgängiger Angst“, was eine Gesellschaft verunsichere. Die Wut und Aggression, die man im Moment erlebe, erklärt Domsich als Resultat einer Kränkung.
Bisher seien wir gewohnt, Kränkungen auf einer sehr persönlichen Ebene zu verarbeiten – „momentan erlebt aber die ganze Welt eine Kränkung“; und die Reaktionen darauf seien so stark wie vielfältig. Denn, so Domsich: „Wenn ein Kollektiv eine Kränkung erfährt, weiß man: Es kommt zu einer Reaktion und vor allem, dass diese Reaktion nicht homogen sein kann.“ Zudem liege die Kränkung darin begründet, dass eigentlich ein vergleichsweise simples Virus eine hochentwickelte Zivilisation lahmlege, und, so fügt er im Gespräch mit ORF.at hinzu: „Die Institutionen, die den Bestand der Gesellschaft garantieren, kommen an ihre Grenzen.“

Kränkung und Ohnmacht
Zur Kränkung, so Domsich, komme aber auch ein Gefühl der Ohnmacht: „Wir wissen nicht mehr, wie wir mit der Ohnmacht umgehen können, weil es keine Perspektive gibt.“ Auch der Staat könne die Fiktion nicht mehr aufrechterhalten, alles im Griff zu haben. In einer Demokratie tue sich ein Staat mit massiven Schritten auch schwer. Eigentlich wisse man ja, so Domsich, dass Systeme, wenn sie überfordert sind, autoritär reagierten. „Das spaltet die Gesellschaft“, so Domsich.
Eigentlich, stößt Domsich in ein ähnliches Horn wie die Therapeutin Kast (sie sprach von der Vitalität, die man bei der Wut immer noch antreffe), sei die Wut ja etwas Kreatives: „Das Problem ist nur: Wir lernen, dass Wut gesellschaftlich und familiär nicht akzeptiert ist. Die westliche Kultur hat uns den Umgang mit der Wut abtrainiert. Wir wurden darauf konditioniert, die Wut zu unterdrücken. Und das in der Kombination damit, dass Menschen auf sich selbst zurückgeworfen sind, schafft Verunsicherung.“
„Wut, Hass oder Zorn werden vielmehr unterdrückt, gesellschaftlich geächtet. Sie sind unerwünscht, abstoßend und beklemmend, der Reflex, sie zu verbieten, sie zu sanktionieren, ist vorerst verständlich“, schreibt Domsich auch in einem neuen Beitrag für „Das Österreichische Jahrbuch für Politik“.
Ja zur Wut mit einigen Abers
Domsich rät, sich der Wut zu stellen. Womit er aber eines nicht zum Ausdruck bringen wolle: „Ziel ist es nicht, zu sagen: Es ist okay, dass ich wütend bin. Gesucht und benannt sollten die Ursachen für die Wut werden.“ Denn „die Wut werden wir nicht wegarchivieren können“. Keinesfalls könne die Wut auch zur Legitimation von Taten oder Grenzüberschreitungen herangezogen werden, die in keinerlei Konnex zu dieser Wut stehen.
Dass die Wut etwas Vitales habe wie zuletzt von der Psychoanalytikerin Verena Kast gegenüber ORF.at betont, erkennt Domsich auch. Aber er wolle auch an den Umstand des autoaggressiven Charakters der Wut erinnern: „Zorn ist immer zielgerichtet, die Wut ist eine diffuse Kraft.“ Im Moment gehe es darum anzuerkennen, dass viele Kränkungen erfahren mussten. „Wir haben in unserer Ich-AG-Kultur verlernt, zu verlieren und Niederlagen zuzulassen“, so Domsich. Alles sollte nach vorne gehen, alles schmerzbefreit sein.

„Das Leben ist kein Jump-and-run-Spiel“
In der Ich-AG-Welt seien viele im Modus eines „Jump and run“-Spieles unterwegs, bei dem man drei Leben habe – „doch wir haben nur ein Leben“, so Domsich: „Und daran werden wir sehr unbarmherzig erinnert.“
Angst, Desorientierung und Verletzlichkeit seien der Ersten Welt ein halbes Jahrhundert erspart geblieben, schreibt Domsich auch in seinem Text „Hass im Netz“: „Das Morgen war eine Utopie, positiv und euphorisch herbeigewünscht. Was Sorgen bereitete, wurde ausgelagert, delegiert, beispielsweise an die Politik, die Schule, die Wissenschaft. Ansonsten blieb Konsum, man verhielt sich wie im Schlaraffenland und verglichen mit der Dritten Welt, Entwicklungsländern oder dem Ostblock lebte man ja auch in einem solchen.“
„Nach der Pandemie werden wir alle mehr oder minder traumatisiert sein“, so Domsich: „Die angesprochenen Verletzungen werden wir alle mit uns tragen.“
Gesellschaft soll sich ihren Kränkungen stellen
Die Chance bestehe im Moment darin, all das anzuerkennen, was man in den vergangenen Jahrzehnten schubladisiert habe: das Verlieren, sich Ängsten oder auch Schmerzen zu stellen.
Strukturell müsse man vieles auf neue Beine stellen, Domsich rät zu einem sehr grundsätzlichen Umgang mit der Pandemie. Bildung fürs Leben dürfe dabei nicht eine Leerformel sein: „Bildung, Ausbildung, Arbeit muss man neu aufstellen und denken“, so Domsich, der vor einem überfürsorglichen Staat warnt. „Wenn Menschen nicht lernen, mit negativen Erfahrungen produktiv umzugehen, werden wir aus Situationen wie der jetzigen nicht rauskommen“, so Domsich, der sich etwa gewiss ist, dass Hilfen des Staates in einer Krise nur „Hilfestellungen zur Selbsthilfe“ sein dürften. „Ich bereite dich so weit vor, dass du dir selbst helfen kannst“, sollte das Motto des Staates in der jetzigen Situation sein.
Klarere Ziele, raus aus der Hauruck-Kommunikation
Dringend sei, so Domsich, eine andere, klarere Kommunikation: „Raus aus dieser Hauruck-Kommunikation.“ „Es braucht klare Ziele“, formuliert Domsich einen Grundsatz, auf den zuletzt auch der Gesundheitsökonom Thomas Czypionka vom IHF hingewiesen hat. Czypionka hatte in der ZIB2 dringend geraten, klare Ziele zu formulieren, wenn man ein Bekenntnis der Bevölkerung zur Pandemiebekämpfung erreichen wolle.
Domsich rät für den Weg aus der Krise zu einer grundsätzlicheren Selbstkritik. Dazu gehöre auch, sich vom Bild des dauernd selbstoptimierten Menschen zu verabschieden. Jede Datingplattform werde vom Glauben befeuert, „dass immer noch etwas Bessere auf uns wartet“. „Ich will nicht, dass die Leute sagen, es ist okay, wenn ich wütend bin – sondern dass sie anschauen, wo es herkommt“, so Domsichs Intention.