Friederike Mayröcker
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1924–2021

Friederike Mayröcker ist tot

Kohlrabenschwarzes Haar und eine zettelübersäte Schreibwohnung: Nicht zuletzt im Bildgedächtnis der Literatur war Friederike Mayröcker eine Legende. Bis ins hohe Alter schrieb die wohl bedeutendste deutschsprachige Dichterin der Gegenwart ihr Lebenswerk fort, das Surrealismus, Sprachexperiment und Alltagsbeobachtung auf kunstvollste Weise verband. Am Freitag verstarb Mayröcker mit 96 Jahren, wie ihr Verlag via Twitter bekanntgab.

Hermetisch und rätselhaft, anarchisch und sprachfantastisch, betörend schön und von eigenwilliger Unzugänglichkeit: Mit diesen Vokabeln hat die Literaturkritik versucht, die sprachschöpferischen Kunstwerke Mayröckers zu beschreiben. Mit, wie sie selbst formulierte, „äuszerster Phantasie“ gelang es ihr, Lebens- und Welterfahrungen zu verdichten und ein ganz eigenes Sprachbewusstsein zu entwickeln, das Alltag, Natur, Träume, Erinnerungen, körperliche Gebrechen, Philosophisches und Fantastisches genauso umfasste wie den „gerissenen faden der/modernen Narration“ – mehr zum Werk Mayröckers auch in oe1.ORF.at.

Mayröcker war, wie man gerne sagte, „bekannt, aber nicht gekannt“. In der Fachwelt genoss sie höchstes Ansehen und erhielt unzählige Auszeichnungen, etwa den Großen österreichischen Staatspreis 1982, den Büchner-Preis 2001 und, als bereits 91-jährige Autorin, den Österreichischen Buchpreis 2016 für den Gedichtband „fleurs“. Vor allem eine eingeschworene Lesergemeinde folgte ihr bis in die letzten Facetten des Werks. Die klassisch lineare Erzählung war nie das ihre.

Autorin Friederike Mayröcker
APA/Herbert Neubauer
Mayröcker schrieb und veröffentlichte bis zuletzt: Hier bei einer Lesung im August 2020 aus „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“

Mayröcker zu lesen, das sei ein wenig wie Free Jazz zu hören, schrieb der „Tagesspiegel“ einmal treffend. Ihre Texte variierten Ideen und Assoziationen mit einer großen „Lust des Worte-Erkennens, Worte-Aufleuchtens, des Einfangens der Worte mit dem Schmetterlingsnetz der Inspiration (in welchem Zustand ja ALLES MÖGLICH ist)“, wie sie selbst einmal festhielt.

Anfänge im Umfeld der Wiener Gruppe

Mayröcker, 1924 in Wien geboren, war Tochter eines Lehrers und einer Modistin. Mit 15 schrieb sie die ersten Texte, ab 1954 veröffentlichte sie in Literaturzeitschriften. Nach anfänglichen, als „zart“ beschriebenen Gedichten wurde ihr das Etikett „mädchenfrische Dichterin“ verpasst, was Mayröcker aber bald, im Umfeld der Wiener Gruppe rund um H. C. Artmann, Andreas Okopenko und Konrad Bayer, zu widerlegen wusste.

Friederike Mayröcker verstorben

Bis ins hohe Alter schrieb die wohl bedeutendste deutschsprachige Dichterin der Gegenwart ihr Lebenswerk fort, das Surrealismus, Sprachexperiment und Alltagsbeobachtung auf kunstvollste Weise verband. Am Freitag verstarb Mayröcker mit 96 Jahren.

Während die Avantgarde sie schon früh mit offenen Armen empfing, war das Nachkriegsösterreich zunächst nur wenig aufgeschlossen gegenüber ihren Sprachexperimenten. Nach zehn Jahren unermüdlicher Schreibarbeit gelang ihr 1966 mit dem Lyrikband „Tod durch Musen“ aber schließlich der Durchbruch. Drei Jahre später konnte sie sich dann von ihrem ungeliebten Brotberuf als Lehrerin an verschiedenen Wiener Hauptschulen verabschieden, um sich ganz der Literatur zuzuwenden.

Über 80 Bücher, Lyrik, große Prosawerke, Erzählungen, Kinderbücher, Hörspiele und Bühnentexte hat Mayröcker während ihrer 65-jährigen Laufbahn verfasst, darunter „Larifari“ und „Heiligenanstalt“, „Magische Blätter“ und „Reise durch die Nacht“, „Das Herzzerreißende der Dinge“ und „Lection“. Der letzte als Lyrik ausgewiesene Band erschien 2012 mit „Von den Umarmungen“, die zuletzt erschienenen Werke – darunter die Trilogie „etudes“ (2013), „Cahier“ (2014) und „fleurs“ (2016) – betitelte der Suhrkamp-Verlag als „prosaische Gedichte und lyrische Prosastücke“.

„Das Gedichte Schreiben ist so eine Art Aquarellieren, das Prosa Schreiben ist eine harte Kunst wie eine Skulptur Anfertigen“, schilderte Mayröcker, deren zweite Liebe der bildenden Kunst gehört, einmal in einem APA-Interview. „Es sind zwei wirklich ganz verschiedene Zugehensweisen, und ich fühle das auch im Körper ganz anders.“

Wohnung als legendäre „Zettelhöhle“

Die Arbeit als Schriftstellerin war für Mayröcker stets eng verbunden mit ihrer geliebten Schreibmaschine, der Hermes Baby. Der Ort, von dem aus sie bis zuletzt mit großer Neugier auf die Welt blickte, war ihre legendäre, oft beschriebene „Zettelhöhle“. Die vollgestopfte Wohnung mit den Bücherstapeln, Manuskripten, Schachteln und mit Notizen gefüllten Wäschekörben erschien Außenstehenden schlicht als katastrophales Chaos. Für Mayröcker war das hochkomplexe Gebilde jedoch Inspiration.

Friederike Mayröcker, Ernst Jandl und Franz Sonntag
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Ernst Jandl und Mayröcker waren ein Dream-Team der österreichischen Literatur nach 1945: Hier bei der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden 1968 für ihr gemeinsames Hörspiel „Fünf Mann Menschen“

Die „Zettelhöhle“ diente ihr immer wieder auch als Fundgrube, aus der sie surreale und geheimnisvolle „Einstreusel“ schöpfte, mit denen sie ihrer Lyrik den letzten Schliff verpasste. Das Schreiben „macht einen erst zum Menschen“, sagte Mayröcker, die fast manisch arbeitete, einmal. Erst letztes Jahr, mit 95, veröffentlichte sie mit „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“ (2020) einen Lyrikband, der für den heurigen Buchpreis der Leipziger Buchmesse nominiert war und der die Kritik einhellig begeisterte.

Sneakers und Sensenmann

Das als „kühne Dichtung“ mit „jugendlichen Ekstasen“ gelobte Buch verbindet Einlassungen zur Gegenwart – Instagram wie die eigenen Sneakers finden darin Erwähnung – mit vertrauten Motiven und Figuren. Ungeschönt und unsentimental beschreibt Mayröcker darin, was ihr Spätwerk insgesamt auszeichnet – Krankheit und körperlichen Verfall, den Todeshauch und den Sensenmann und nicht zuletzt auch die Erinnerungen an ihren geliebten Partner Ernst Jandl.

Die Autorin Friederike Mayröcker
APA/Hans Klaus Techt
Mayröcker in ihrer berühmten „Zettelhöhle“, der Wohnung in der Wiener Zentagasse

Mayröcker hatte Jandl 1954 kennengelernt und war mit ihrem „Lebens- und Liebesfreund“ über 46 Jahre hinweg, bis zu Jandls Tod im Jahr 2000, eng verbunden gewesen. Die beiden, die stets auf getrennten Wohnungen bestanden, galten als eines der berühmtesten symbiotischen Künstlerpaare der deutschsprachigen Literatur – mit ganz unterschiedlichen Zugängen. Im Gegensatz zu Mayröckers assoziativ-wucherndem Stil war Jandls konkrete Poesie deutlich formalistischer angelegt.

TV Hinweis

ORF2 zeigt im KulturMontag um 23.15 Uhr die Doku „Friederike Mayröcker: Wilder, nicht milder“

„Überwältigt von Schönheit und Sprachkraft“

„Überwältigt durch Schönheit und Sprachkraft ist Friederike Mayröckers komplexem Werk nicht sehr viel an die Seite zu stellen, das in der zweiten Jahrhunderthälfte hervorgegangen ist aus der deutschen Sprache“, so beschrieb der Lyriker Thomas Kling im Nachwort ihrer „Gesammelten Prosa“ (1989) einmal ihr Werk.

In „Pathos und Schwalbe“ (2018) zeichnete Mayröcker ein Bild von Freiheit und Lebensfreude, das nun durch ihr Ableben in Erinnerung gerufen wird: „flitze mit offenem Schnabel als Schwalbe in seligem Schauer dem Himmel entgegen“.