Filmszene aus Hier bin ich Mensch
Christine Fenzl
71. Festival

Schmalspur-Berlinale mit großen Filmen

Am Freitag endet die Onlineausgabe der 71. Berlinale. Mit 16 Filmen war der auf Branche und Presse beschränkte Wettbewerb knapper besetzt als gewohnt, nicht aber weniger dicht und abwechslungsreich. Die Highlights: „Unorthodox“-Regisseurin Maria Schrader überzeugte mit einer cleveren Roboter-Liebeskomödie und Regieliebling Celine Sciamma mit einer zärtlich-fantastischen Zeitreise, ganz ohne Zeitmaschine.

Es gibt da diese atemberaubende Szene gleich zu Beginn der Komödie „Ich bin dein Mensch“ von Schrader. Eine Hand streift einen Vorhang beiseite. Dahinter tut sich eine vergessene Welt auf: tanzende Paare, lachende, flirtende Männer und Frauen, strahlende Augen, Menschen, die sich herausgeputzt haben, um einen Abend im Ballroom auf engstem Raum zu verbringen.

Die Szene wurde Anfang September 2020 gedreht, mitten in der Pandemie. Die Sehnsucht nach dem Atem anderer, nach der Gegenwart von vielen, wird fast körperlich spürbar. Vielleicht würde man die Situation in Wirklichkeit unangenehm finden, aber allein die Möglichkeit! „Es war ein lange nicht gesehenes Bild“, meinte auch Schrader beim virtuellen Premierengespräch. Sicherheitshalber habe man, so Schrader, die Szene erst am Ende der Dreharbeiten umgesetzt, weil sie hinsichtlich der Gesundheit der Schauspielcrew so riskant gewesen sei.

Zweigeteilte Berlinale

Die 71. Berlinale hat sich zweigeteilt: Am Freitag geht das „Industry Event“ zu Ende, ein Onlinebranchentreffen, bei dem allein internationale Pressevertreterinnen und -vertreter sowie die Mitglieder der verschiedenen Jurys zugelassen waren. Der Kinobesuch selbst war Letzteren vorbehalten, alle anderen mussten auf ihren Privat- oder Bürobildschirmen jene Filme und wenigen Serien sichten, die in den nächsten Monaten und Jahren das Kino mitprägen sollen. Erst beim zweiten Teil, der von 9. bis 20. Juni in Berlin über die Bühne geht, werden die Berlinale-Filme dann auch dem Publikum gezeigt.

Filmszene aus Hier bin ich Mensch
Christine Fenzl
Sandra Hüller und „Roboter“ Dan Stevens überzeugen in Maria Schraders Sci-Fi-Komödie „Ich bin dein Mensch“.

Roboter mit Liebespotenzial

Begonnen hat das Onlinefestival eben mit Schraders „Ich bin dein Mensch“, der von einer Zukunft handelt, die aussieht wie die Prä-Coronavirus-Gegenwart. Die Anthropologin Alma (Maren Eggert), die hauptberuflich mesopotamische Keilschriften erforscht, soll für ein Ethikkomitee einen Beziehungsroboter testen. Ihr Urteil entscheidet darüber mit, ob solche Roboter in Zukunft Rechte erhalten werden, vom eigenen Pass bis zur Möglichkeit zur Heirat.

Schrader, gefeiert für die Netflix-Serie „Unorthodox“ und vielfach ausgezeichnet für ihren Stefan-Zweig-Film „Vor der Morgenröte“ (2016), hält sich dabei nicht mit den technischen Aspekten künstlicher Intelligenz auf. Ihr Film erkundet die sozialen Funktionen von Liebe, Fürsorge und gegenseitigem Austausch. Was ist Liebe, wenn ihr Zweck nicht die Fortpflanzung ist? Und, vor allem: Wie lernt ein Roboter ein Verhalten, das seiner menschlichen Partnerin so sehr angepasst ist, dass ein Verlieben möglich wird?

Die emotionalen und algorithmischen Fallstricke dabei setzt Schrader mit ihrem fantastischen Schauspielensemble so humorvoll um, dass man selbst dann in Gelächter ausbricht, wenn man den Film allein auf der Couch sieht. „Ich bin dein Mensch“ ist eine erwachsene Komödie über das Menschsein und Beziehungen, ein Fest auf der Leinwand. Doch wann dieser Film nun ins Kino kommt – oder doch auf die Streamingplattform, ist ungewiss.

Wer die große Leinwand braucht

Von den 16 im Wettbewerb laufenden Filmen wären jedenfalls viele Filme dabei, die die große Leinwand unbedingt brauchen, darunter Dominik Grafs sperrige Erich-Kästner-Verfilmung „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ mit Tom Schilling und das ungarische Zweiter-Weltkrieg-Drama „Natural Light“ von Denes Nagy, dessen Hauptargument sorgfältig komponierte Szenerien sind, die an die Chiaroscuro-Malerei des Barocks erinnern.

Filmszene aus Looney Porn
Silviu Ghetie/Micro Film 2021
Satire „Bad Luck Banging or Loony Porn“: Moralisches Strafgericht oder Maskenball?

Andere Filme funktionieren gut auf dem Bildschirm, etwa die mexikanische Polizeidoku „A Cop Movie“, die von Netflix gekauft wurde, und Daniel Brühls Regiedebüt „Nebenan“ nach einem Drehbuch von Daniel Kehlmann. Im Zentrum dieser Geschichte steht ein eitler Schauspieler, der einen Ex-Stasi-Nachbarn gegen sich aufgebracht hat.

Gesellschaftssatire mit Mund-Nasen-Schutz

Ob es Radu Judes Gesellschaftssatire „Bad Luck Banging or Loony Porn“ in vielen Ländern ins Kino bringen wird, ist dagegen ohnehin fraglich. Der Film beginnt mit einer expliziten Sexszene. Die Handlung: Am Beispiel eines geleakten Sextapes einer Lehrerin geht es darum, die Verlogenheit der rumänischen Gesellschaft im historischen Kontext zu verhandeln.

Filmszene aus Memory Box
Haut et Court/Abbout Productions/Micro_Scope
„Memory Box“: Während des Libanon-Kriegs in den 80ern waren es Briefe, im Blizzard ist das Smartphone als einzige Verbindung zur Außenwelt

Den Witz von „Bad Luck Banging“ besteht nicht zuletzt darin, dass nicht nur die Filmcrew zum Mund-Nasen-Schutz verpflichtet war, sondern ihn auch alle Menschen vor der Kamera tragen – was ihn zum explizitesten, aber nicht einzigen Berlinale-Film macht, der formal oder inhaltlich von der Pandemie geprägt ist. Andere Filme im Wettbewerb sind überschaubare Kammerspiele mit wenig Personal, und auch das Motiv des zwangsweisen Daheimseins und der Distanzierung bekommt nach den Erfahrungen der letzten Monate neue Unmittelbarkeit.

Blizzard statt Coronavirus

Im Fall von Joana Hadjithomas und Khalil Joreiges dichtem Collagefilm „Memory Box“ ist es nicht die Pandemie, sondern ein Blizzard, der die Protagonistin in die Isolation zwingt: Eine junge Kanadierin, Tochter libanesischer Einwanderer, sitzt während des Sturms zu Hause fest und kann mit den Freundinnen nur über Chat kommunizieren. In den Stunden des bangen Wartens entdeckt sie schließlich in einer Schachtel die gesammelten Erinnerungen ihrer Mutter, die als Teenagerin Mitte der 80er Jahre in Beirut mit ihren Freundinnen den Kriegsausbruch miterlebte.

Filmszene aus Petite Maman
Lilies Films
„Petite Maman“: Ein Mädchen auf einer fantastischen Reise in die familiäre Vergangenheit

Und dann ist da noch der kleine, kostbare Film „Petite Maman“ von Sciamma, die mit „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ vor zwei Jahren einen weltweiten Überraschungserfolg hinlegte. Auch hier entdeckt eine Tochter ihre Mutter in neuem Licht. Die achtjährige Nelly, deren geliebte Oma soeben gestorben ist, räumt mit ihren Eltern Omas Haus aus. Beim Spielen im umgebenden Wald trifft sie auf ein anderes achtjähriges Mädchen, das ihr seltsam bekannt vorkommt.

Dieses andere kleine Mädchen hat denselben Vornamen wie Nellys Mama, und auch ihr Zuhause sieht so aus wie Omas altes Haus. Kann es sein, was Nelly und das Publikum schon kurz nach der ersten Begegnung ahnen, – nämlich dass dieses Mädchen Nellys Mama ist, und dass sich Vergangenheit und Gegenwart hier auf einen Nachmittagskakao treffen? Mit schlichten Mitteln gelingt Sciamma mit „Petite Maman“ ein wundervoller kleiner Zeitreisefilm, dessen fantastische Implikationen ausschließlich in den Köpfen der Zuschauerinnen und Zuschauer stattfinden.

Bekanntgabe der Preise per Livestream

Die Preisträgerinnen und Preisträger des Berlinale-Wettbewerbs werden Freitagmittag per Livestream bekanntgegeben. Die festliche Preisverleihung wurde hingegen auf Juni verschoben, wo der Publikumsteil der Berlinale mitsamt allen gewohnten Nebenschienen über die Bühne gehen soll, mit dem „Panorama“, der Retrospektive, der „Perspektive Deutsches Kino“, und den Kinder- und Jugendfilmen in „Generation“. Danach, so zumindest der Plan, sollen die Filme dann ihre Reise in die Kinos antreten.

Was wieder zurückführt zur Ballroom-Szene in „Ich bin dein Mensch“. Denn da sind, wie Alma beeindruckt feststellt, gar nicht alle Menschen wirklich echt. Manche von ihnen sind nur Hologramme, damit sich der Raum nicht so leer anfühlt. Humanoide Roboter als Lebenspartner – schön und gut. Aber Hologramme gegen die Einsamkeit beim Ausgehen? Bitte nein. Gemeinsam Freuen im Kino geht nur mit echten Menschen. Die Sehnsucht ist groß.