Frauenrechtsexpertin Sabine Mandl
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Frauenrechtsexpertin Mandl

„Viele Gründe“, warum es Frauentag braucht

Sabine Mandl forscht zu Frauenrechten und Rechten von Menschen mit Behinderungen am Ludwig Boltzmann Institut für Grund- und Menschenrechte. Im Interview mit ORF.at erzählt sie, warum es 2021 noch einen Weltfrauentag braucht, was Länder wie Schweden bei der Gleichstellung richtig machen und wieso eine Krise nicht nur Brandbeschleuniger, sondern auch eine Chance sein kann.

ORF.at: Warum müssen wir im Jahr 2021 immer noch über Frauenrechte reden? Und wieso braucht es überhaupt einen Weltfrauentag?

Mandl: Da fallen mir viele Gründe ein, Frauen sind weltweit in vielen gesellschaftlichen Bereichen noch immer nicht gleichberechtigt, sie verdienen weniger als Männer, auch für den gleichen Job, sind auf Führungsebenen, sei in der Wirtschaft oder Politik, nur marginal vertreten, sind häufiger von (Alters-)Armut betroffen und tragen die Hauptlast der unbezahlten Care-Arbeit. Diese strukturelle Diskriminierung und die damit einhergehende Abwertung von Frauen erhöht wiederum ihr Risiko, von Gewalt betroffen zu werden.

ORF.at: Wo stehen wir derzeit?

Mandl: Es hat sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten zwar viel getan, man denke an Gleichstellungs- und Gewaltschutzgesetze, Frauenförderprogramme, Gender-Mainstreaming, Gender-Budgeting. Aber gerade in Zeiten, in denen rechtspopulistische Regierungen und Politike im Mainstream angekommen sind, wie wir es weltweit beobachten können, werden bislang garantierte Frauenrechte wieder infrage gestellt, wie das Beispiel Polen mit den verschärften Abtreibungsgesetzen zeigt. Es gibt weltweit kein einziges Land, das Geschlechtergerechtigkeit erreicht hat.

Demonstration in Buenos Aires
Reuters/Agustin Marcarian
Laut Frauenrechtsexpertin Mandl hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zwar viel getan, dennoch gibt es weltweit kein einziges Land, das Geschlechtergleichstellung bereits erreicht hat

ORF.at: Sie bezeichnen Frauenrechte als „Querschnittsmaterie“. Was bedeutet das?

Mandl: Das übergeordnete Ziel ist die Gleichstellung von Frauen und Männern in allen gesellschaftlichen Bereichen, das ist zum Beispiel in der UN-Frauenrechtskonvention, die mittlerweile von fast allen Staaten der Welt (189) ratifiziert wurde, verankert. Auch die EU (Europäische Kommission und das Europäische Parlament) verfolgen seit Jahren dieses Ziel mit Hilfe von Richtlinien, Strategien und Aktionsplänen.

Vergangenes Jahr wurde zum Beispiel der 3. Aktionsplan zur Geschlechtergleichstellung von 2021 bis 2015 (gültig für ihre externen Beziehungen) verabschiedet, der etwa vorsieht, Gewalt gegen Frauen, Mädchen, Burschen und Männer zu eliminieren, volle Gewährleistung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit, Erfüllung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte, Verminderung der Armut, Einbeziehung von Frauen und Mädchen in der Bekämpfung des Klimawandels und im Bereich der Digitalisierung.

ORF.at: Was braucht es, um dieses Ziel zu erreichen?

Mandl: Zur Erreichung der Gleichstellung braucht es verschiedene Ansätze, wie zum Beispiel Gender-Mainstreaming, das bereits 1995 als neues Instrument der Weltfrauenrechtskonferenz in Peking vorgestellt und 1997 im Vertrag von Amsterdam der Europäischen Union aufgenommen wurde. Gender-Mainstreaming verfolgt ein duales Prinzip, zum einen werden Regierungen und Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen aufgefordert, bei allen Maßnahmen, Programmen und Strategien zu analysieren, wie Frauen und Männer davon betroffen sind, um gegebenenfalls Diskriminierung und Ungleichbehandlung entgegensteuern zu können.

Leider wird Gender-Mainstreaming in der Politik häufig noch immer nicht systematisch und in allen Bereichen angewendet, weshalb sich Strukturen und letztlich die Lebenssituationen von Frauen nur sehr langsam verändern. Da gibt es nur wenige Ausnahmen, Schweden wäre zum Beispiel eine davon.

ORF.at: Was machen Länder wie Schweden, Norwegen, Island, Finnland bei Geschlechtergerechtigkeit richtig beziehungsweise anders als andere?

Mandl: Ja, diese Länder sind schon seit Jahren „on the top“, was Geschlechtergleichstellung betrifft. Sie zeichnen sich zum Beispiel durch eine geschlossenere Lohnschere zwischen Frauen und Männern im Vergleich zu Österreich und Deutschland, eine höhere Väterbeteiligung bei der Karenz und einen größeren Anteil an weiblicher politischer Repräsentanz aus. Was die meisten Länder eint, ist eine stabile wirtschaftliche und politische Lage, ein hohes Bildungsniveau und ein fortgeschrittener Zugang zu neuen Technologien. Deshalb sind diese Staaten mit hoher Wirtschaftskraft eher in der Lage, für ein gut funktionierendes Gesundheits- und Bildungssystem zu sorgen, und investieren öffentliche Gelder in Programme zur Gleichstellung.

Was aber diese Länder zudem besonders macht, ist der gesellschaftlich akzeptierte, aber auch institutionell verankerte Gedanke der gendergerechten Aufteilung von Macht und Ressourcen. Mehr als die Hälfte der Schweden und Schwedinnen bezeichnet sich selbst als Feministen und Feministinnen, was von einer sehr hohen gesellschaftlichen Akzeptanz spricht. Das wäre meiner Meinung nach in Österreich schwer vorstellbar.

ORF.at: Sie forschen am Ludwig Boltzmann Institut für Grund- und Menschenrechte. Inwiefern sind Frauenrechte immer auch Menschenrechte?

Mandl: Die Universalität der Menschenrechte besagt ja, dass alle Menschenrechte überall für alle Menschen gelten sollen. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 gibt es zwar eine Diskriminierungsklausel, die sich auf einige Merkmale bezieht, wie Alter, Geschlecht und ethnische Herkunft. Im Laufe der Jahrzehnte hat man jedoch erkannt, dass es Bevölkerungsgruppen gibt, die nach wie vor sozial benachteiligt, diskriminiert und gesellschaftlich ausgegrenzt werden und die von ihren Rechten de facto nicht Gebrauch machen können.

Insbesondere die zweite Frauenbewegung zu Beginn der 60er Jahre hat darauf aufmerksam gemacht, dass Frauen weltweit unterdrückt und diskriminiert werden. Mit Hilfe des Engagements von nationalen, regionalen und internationalen Frauenrechtsorganisationen wurde 1979 die UN-Frauenrechtskonvention verabschiedet. Es entstanden auch weitere UN-Konventionen, wie die Kinderrechtskonvention oder die Behindertenrechtskonvention. Ziel ist es, dass alle Menschen unabhängig von sozialen Merkmalen ihre Rechte voll ausüben können.

ORF.at: Wie wirkt sich die Coronavirus-Krise auf die Geschlechtergerechtigkeit aus?

Mandl: Die Covid-19-Krise zeigt bereits deutlich, dass Frauen und Männer unterschiedlich von den Auswirkungen betroffen sind. Durch Homeoffice und Homeschooling sind vermehrt Frauen und Mütter von unbezahlter Care-Arbeit betroffen und traditionelle Geschlechterrollen verhärten sich. Erhebungen der ILO (Internationalen Arbeitsorganisation) zufolge leisten weltweit drei Viertel aller Frauen die unbezahlte Pflegearbeit. Diese Mehrfachbelastung bedingt durch Beruf und Betreuungspflichten betreffen mehrheitlich Frauen. Auch gibt es signifikante Hinweise darauf, dass häusliche Gewalt im letzten Jahr gestiegen ist.

Homeschooling stellt Mädchen wie Buben vor vielen Herausforderungen, global gesehen, sind es jedoch vor allem Mädchen, die im Haushalt mithelfen und zum Einkommen beitragen müssen. In Zeiten von Covid-19 sind vor allem sie einem erhöhten Risiko ausgesetzt, dass sie ihre Schullaufbahn abbrechen müssen und ihnen Bildung verwehrt wird. Dies wiederum kann zur wirtschaftlichen Abhängigkeit aus Mangel an Berufsmöglichkeiten führen und Armut begünstigen. Es ist nicht davon auszugehen, dass sich die verfestigte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung nach Abklingen der Covid-19-Pandemie schnell verändern wird.

Demonstration in Buenos Aires
Reuters/Flor Guzzetti
Seit jeher gehen Frauen für ihre Rechte auf die Straßen. „Frauen machen circa die Hälfte der Weltbevölkerung aus, also müssen sie auch die entsprechende Macht haben, bei der Gestaltung unseres Zusammenlebens mitentscheiden zu können“, sagt Mandl.

ORF.at: Sind Krisen automatisch immer ein „Brandbeschleuniger“? Oder könnten sie auch als „Turning Point“ dienen?

Mandl: Ich glaube, dass in Krisen immer beide Ansätze stecken. Zum einen gibt es die Gefahr, dass sich traditionelle Rollenbilder verhärten und konservative sowie (rechts-)populistische Politiken Aufwind bekommen, aber zum anderen zeigen sich auch immer wieder „windows of opportunities", also neue Chancen für Frauen, was historisch auch belegbar ist. Beispiele dafür sind bewaffnete Konflikte, wo sich Gender-Ordnungen und Strukturen neu zusammensetzen können und manchmal auch nachhaltig wirken.

Vor 25 Jahren herrschte in Ruanda Krieg, und die Medien berichteten über Hunderttausende Vergewaltigungen. Nach dem Krieg haben jedoch vor allem Frauen das Land wiederaufgebaut. Heute liegt der Frauenanteil im Parlament bei 60 Prozent, die Gleichstellung von Frauen und Männern ist in der Verfassung verankert, und auch wirtschaftlich haben Frauen immens aufgeholt.

ORF.at: Ein Ziel der UNO ist es, bis 2030 Geschlechtergleichstellung erreicht zu haben. Wie realistisch schätzen Sie dieses Ziel ein?

Mandl: Ich glaube, die Erhöhung des Frauenanteils in Führungs- und Entscheidungspositionen ist ein ganz wesentlicher Ansatz aus gleichstellungspolitischer Sicht. Frauen machen circa die Hälfte der Weltbevölkerung aus, also müssen sie auch die entsprechende Macht haben, bei der Gestaltung unseres Zusammenlebens mitentscheiden zu können. Dahin ist es aber noch ein langer Weg, wenn man bedenkt, dass aktuell nur rund ein Viertel aller Parlamentarier und Parlamentarierinnen Frauen sind. Noch ernüchternder ist der Blick auf weibliche CEOs in den 500 größten US-Firmen, ihr Anteil liegt nur bei rund fünf Prozent. Dieser Anteil ist jedoch auch in vielen anderen Ländern weltweit nicht höher.

Dennoch ist es mir wichtig zu betonen, dass ein erhöhter Frauenanteil in Führungspositionen nicht automatisch zu mehr Geschlechtergerechtigkeit führen muss. Da nach wie vor die Strukturen, Netzwerke und Allianzen mehrheitlich von Männern dominiert sind, müssen sich Frauen oft deren Gesetzmäßigkeiten bedienen, um an der „Macht“ bleiben zu können. Erst ab einem gewissen Anteil von Frauen (zwischen 30 und 40 Prozent) erhöht sich die Chance auf Systemänderung und echter Transformation in Richtung Gleichstellung. Echte Gleichstellung erfordert aber eine Politik, die darauf abzielt, gleiche Chancen und Teilhabemöglichkeit für alle Menschen zu schaffen, unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Behinderung, Alter etc.

Der letzte Gender Gap Report (2020) des Weltwirtschaftsforums, der den Gender-Index in über 160 Länder der Welt misst, stellt in Aussicht, dass wir noch mindestens 100 Jahre auf Gendergleichheit warten müssen. Ich teile diese eher negative Einschätzung und glaube, dass es dazwischen auch Rückschritte geben wird und wir gefordert sind, unsere Errungenschaften immer wieder von Neuem zu verteidigen.