Staatsoper: Die „Traviata“ und der digitale Abgrund

Wenn in der jetzigen pandemischen Zeit Opernpremieren vorerst ausschließlich als Streaming eine Öffentlichkeit finden können, steht eine neue Formatfrage im Raum: Wie screentauglich ist eine Inszenierung? Simon Stones für die Opern Paris und Wien entwickelte Lesart von Giuseppe Verdis Klassiker „La Traviata“ lässt nach der gestrigen Premiere an der Staatsoper Abend die Vermutung zu: Hier leuchtet eine Opernform, die als Spiel mit großen Screens gerade der digitalen Wirklichkeit näher entgegenkommen könnte als die klassische Opernbühne.

Stone interpretiert die Figur der Violetta als Influencerin und die Liebesirrungen in dieser Oper als Effekte einer auf Selbstoptimierung getrimmten Gesellschaft. Auf der Bühne von Bob Cousins dreht sich ein nach hinten offener LED-Würfel, der vorne das Screengeschehen unserer Gesellschaft, quasi die polierte Oberfläche, als WhatsApp-Dauerfeuer generiert – dazwischen blickt man schlaglichtartig in Gesellschaftsszenen voller Schnelllebigkeit und Oberflächlichkeit.

„La Traviata“ in der Wiener Staatsoper
ORF.at/Gerald Heidegger
Noch einmal auf der Bühne statt Schlussapplaus

Ansingen gegen die Inszenierung

Gegen diese Konturierung singen Pretty Yende als Violetta und Juan Diego Florez als Alfredo Germont an. Ein wenig erdrückt wirken sie von den übergroßen Nachrichten auf den Displays. Dazwischen suggerieren Clips in Zeitlupe: Es geht um unser Antlitz und Abglanz, aber nicht den Menschen, der das Zentrum dieser Bilder sein könnte.

Und so findet die erste intime Szenen neben den Mistkübeln hinter der Dönerbude statt. Das ist drastisch, aber verträgt sich nicht immer mit dieser Oper, in der der frühe Verdi so ziemlich sein ganzes musikalisches Formen- und Einfallsrepertoire in Stellung bringt und die deshalb zu Recht den Status eines zeitlosen Klassikers einnimmt. Giacomo Sagripanti führt das Staatsopernorchester bei seinem Wien-Debüt präzise, aber doch ein wenig vorsichtig. Die Feierlichkeit, nicht der Schmiss, ist seine Sache.

„La Traviata“ in der Staatsoper

„La Traviata“ von Guiseppe Verdi hat Regisseur Simon Stone letztes Jahr an der Pariser Oper inszeniert. Jetzt kommt die aufsehenerregende Produktion an die Wiener Staatsoper.

Golovatenko als Katalysator

So braucht es schließlich den zweiten Akt und den Auftritt von Igor Golovatenko, der zuletzt als Marquis de Posa im „Don Carlos“ brillierte. Golovatenko bringt so viel stimmliche Präsenz auf die Bühne, dass die einen erwachen und die anderen auflockern. Yende wird an diesem Abend eine überzeugende Violetta präsentieren und wächst von Akt zu Akt.

Am Schluss darf man sich auch im Opernraum mit der Inszenierung anfreunden. Aus dem nüchternen weißen Krankenzimmer wird noch einmal der große, sich ewige drehende Screenwürfel. Violetta steigt am Ende durch die Projektionswände in einen grellen weißen Raum. Es gibt also doch eine Erlösung von der Scheinwelt des Digitalen, könnte man Stone deuten. Und vielleicht ist diese Lektion eine von der Abstinenz.

Vieles ist, das kann man beim Nachsehen der Oper in der Tvthek erleben, auf eine 16:9-Ästhetik hin optimiert. Mit 16:9 haben die Formate der Influencer freilich wenig zu tun. Diesen Schritt ist Stone vielleicht auch auf sympathische Weise noch hinterher. Denn wäre es eine Instagram-Oper, die Traviata wäre im Videoformat quadratisch und ohnedies nach fünf Minuten vorbei. Hashtag „OMG“.

Die ganze „Traviata“ zum Nachschauen in tvthek.ORF.at