Überreste der zerstörten Synagoge am Judenplatz
Nafez Rerhuf
Wiener Gesera

Massenmord an Juden vor 600 Jahren

Vor 600 Jahren setzte Herzog Albrecht V. eine bis dahin beispiellose Judenverfolgung in Gang, bei der im März 1421 die letzten in Wien verbliebenen Vertreterinnen und Vertreter der damaligen jüdischen Gemeinde ermordet wurden. Heute sind diese „von der Normalität eines nahezu flächendeckenden Judenhasses“ gespeisten Ereignisse vielfach in Vergessenheit geraten und durch die Untaten des NS-Mordregimes überlagert, hieß es dazu bei einer Podiumsdiskussion samt der ernüchternden Erkenntnis: Die sich durch die Jahrhunderte ziehende Antisemitismusproblematik ist nach wie vor aktuell.

Bei der Wiener Gesera handelt es sich um die systematische und von oben angeordnete Vernichtung der jüdischen Gemeinden im Herzogtum Österreich: Dieses umfasste im Wesentlichen das heutige Wien sowie Nieder- und Oberösterreich. Betroffen waren neben Wien unter anderem jüdische Gemeinden in Klosterneuburg, Korneuburg, Krems, Herzogenburg, Langenlois, Linz, Ybbs, Steyr, Wels, Zistersdorf, Marchegg. Ausnahme war das Gebiet um Wiener Neustadt und Neunkirchen, das damals politisch zum Herzogtum Steiermark gehörte.

Hinter dem Namen des Pogroms steht eine mit „Gesera“ übertitelte Schrift, die aus jüdischer Sicht über die Katastrophe berichtet, wie etwa der Historiker und Gründungsdirektor des St. Pöltner Instituts für Jüdische Geschichte, Klaus Lohrmann, anlässlich einer neuen Dauerausstellung des Jüdischen Museums Wien festhielt. Allgemein bedeutet Gesera etwa Bestimmung, Urteil, Regelung – die aus dem Hebräischen stammende Bezeichnung wird vielfach aber im Sinne einer nachteiligen Entscheidung als judenfeindliches Gesetz interpretiert.

Wiener Judenplatz
Sonja Bachmayer
Der Wiener Judenplatz war bis 1421 Mittelpunkt des ersten jüdischen Viertels und Standort der Synagoge

In ruderlosen Booten auf Donau ausgesetzt

Ein solches steht mit dem am 23. Mai 1420 von Albrecht V. erlassenen Dekret auch am Anfang der Wiener Gesera. Was genau den mit den Wirren der Hussitenkriege und hohen Heiratskosten konfrontierten, aber auch vom Missionierungsgedanken getriebenen Herzog dazu bewog, ist bis heute umstritten. Bemerkenswert erscheint Albrechts Bruch mit der bisherigen Judenpolitik der Habsburger Herzöge allemal, da diese den jüdischen Gemeinden, wenn auch als Gegenleistung für hohe Steuern, an sich Schutz und freie Religionsausübung garantierten.

Was im Herzogtum Österreich auf Albrechts Befehl folgte, waren Misshandlungen, Folterungen, Erpressung von Wertgegenständen, Zwangstaufen und nach den Worten des israelischen Historikers Michael Toch ein „kalt organisierter Justizmord“. Die weniger Vermögenden wurden bei verweigerter Zwangstaufe vertrieben. „Sie mussten schwören, nicht nach Österreich zurückzukehren, und wurden dann in kleinen Booten ohne Ruder auf der Donau ausgesetzt, sie trieben bis Pressburg (Bratislava), das bereits zum Königreich Ungarn gehörte“, schreibt Eveline Brugger vom Institut für jüdische Geschichte Österreichs im Magazin „Dialog“ des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit.

Faksimile der „Wiener Gesera“ im Museum Judenplatz
ORF.at/Peter Prantner
Hebräische Handschrift aus dem 16. Jahrhundert über die Wiener Gesera (Museum Judenplatz)

Besitztümer konfisziert

Der gesamte bewegliche Besitz der Juden wurde konfisziert, deren Häuser entweder an Günstlinge des Herzogs verschenkt oder verkauft. Viele der weiterhin gefangenen Männer und Frauen starben an den Folgen der Folter, mit der sie neben der Taufe auch zur Preisgabe vermeintlich versteckter Besitztümer gezwungen werden sollten.

Aus der vom Theologen und Geschichtsschreiber Thomas Ebendorfer 1464 verfassten Chronica Austriae geht hervor, dass ein Teil der zur Taufe gedrängten Menschen den Freitod wählte. Daran erinnert auch eine Gedenktafel auf dem Wiener Judenplatz mit den Worten: „‚Kiddusch HaSchem‘ heißt ‚Heiligung Gottes‘. Mit diesem Bewußtsein wählten Juden Wiens in der Synagoge hier am Judenplatz — dem Zentrum einer bedeutenden jüdischen Gemeinde — zur Zeit der Verfolgung 1420/21 den Freitod, um einer von ihnen befürchteten Zwangstaufe zu entgehen“.

Papst droht mit Exkommunikation

Durch mehrere Quellen belegt sind die Verschleppung und die Zwangstaufe vieler jüdischer Kinder. Nach einer jüdischen Intervention bei Papst Martin V. erinnerte dieser Herzog Albrecht zwar an das bestehende kirchenrechtliche Verbot und drohte jenen Priestern, die Kinder unter zwölf Jahren gegen den Willen ihrer Eltern taufen wollten, mit der Exkommunikation.

Mit der Anfang 1421 übermittelten Bulle „Licet Iudaeorum omnium“ wurde möglicherweise aber auch das wenige Monate später ausgesprochene und auf dem Scheiterhaufen vollzogene Todesurteil der in Wien verbliebenen überlebenden Juden besiegelt. Dem „Dialog“-Artikel zufolge habe die päpstliche Kritik den Herzog erst dazu bewogen, zur Rechtfertigung seines Vorgehens gegen die Juden eine Hostienschändung zu erfinden.

Nach Silber und Gold suchende Schaulustige

Vollstreckt wurde das Todesurteil am 12. März 1421 auf der Erdberger Gänseweide und damit rund um die Weißgerberlände/Kegelgasse im heutigen dritten Wiener Gemeindebezirk. Während die „Klosterneuburger Chronik“ von 240 Menschen spricht, waren es laut „Gesera“ 92 Männer und 120 Frauen, die auf der berüchtigten Wiener Hinrichtungsstätte bei lebendigem Leib verbrannt wurden.

Illustration aus der Schedelschen Weltchronik von 1493
Public Domain
Eine Darstellung der auf dem Scheiterhaufen ermordeten Juden findet sich in der Weltchronik von Hartmann Schedel (1493)

Detailliert wird in den zur Verfügung stehenden Quellen auch beschrieben, „mit welcher Gier die christlichen Schaulustigen in der Asche nach Silber und Gold suchten“, merkte die Leiterin des Instituts für Jüdische Geschichte, Marta Keil, in einem Beitrag für die Wochenzeitung „Furche“ an. „Quasi zur Untermauerung“ des nachgereichten und „angeblich Jahre zurückliegenden und erstaunlicherweise bis dahin nicht bekannten Vorwurfs des Hostienfrevels“ wurde am 16. April 1421 auch jene Ennser Mesnerin, die Hostien an Juden verkauft haben soll, vermutlich ebenfalls auf der Gänseweide verbrannt.

Das unterstellte Delikt der Hostienschändung diente neben dem Vorwurf des Wuchers, mutmaßlichen Brunnenvergiftungen und Ritualmordlegenden immer wieder als Vorwand und Begründung zur Judenverfolgung. Dazu kommt bei der Wiener Gesera von Anfang an der Vorwurf der Kollaboration mit dem hussitischen Feind, was Keils Ausführungen zufolge „allerdings mit Vertreibung und nicht mit Hinrichtung zu ahnden gewesen wäre“.

Theologische Fakultät als treibende Kraft

Die eigentlichen Gründe hinter der ersten von einem Landesfürsten initiierten Judenverfolgung werden in der Fachwelt bis heute kontrovers diskutiert. Etwaige finanzielle Beweggründe erscheinen mit Blick auf die teuren Kriegszüge gegen die Hussiten und die geplante Heirat mit Elisabeth von Luxemburg, der Tochter von König Sigismund, naheliegend.

3-D-Modell des ersten jüdischen Viertels von Wien um 1400
ORF.at/Peter Prantner
Im Museum Judenplatz befindet sich nun ein 3-D-Modell von Wien um 1400 – und damit vom ersten jüdischen Viertel der Stadt

Die von Albrecht V. forcierten Zwangstaufen und die Förderung von Konvertiten samt einiger aus der verwaisten Wiener Judenstadt an die „Neuchristen“ verschenkter Häuser legen allerdings auch religiöse Beweggründe nahe. Als treibende Kraft gilt hier die dem Herzog eng verbundene Theologische Fakultät.

In einem Beitrag der Wiener Universität ist von einer „wichtigen Instanz bei der Beurteilung von Häresien und der Argumentation gegen Glaubensfeinde“ die Rede. Bereits 1419 habe die Theologische Fakultät ein angebliches Bündnis von Juden, Hussiten und Waldensern in den Raum gestellt und damit einen zentralen Vorwurf hinter dem weitverbreiteten Judenhass befeuert.

Mit Steinen der Synagoge gebautes Universitätsgebäude

Die Wiener Universität war maßgeblich an der Stimmungsmache gegen die jüdische Bevölkerung beteiligt, heißt es dazu bei der Vorstellung der Ausstellung „Unser Mittelalter! Die erste jüdische Gemeinde in Wien“, bei der auch die Gesera einen zentralen Platz einnimmt. Mit der Eröffnung der neuen Dauerausstellung im Museum Judenplatz ist mit dem Fundament der mittelalterlichen Synagoge das wohl eindrucksvollste Zeugnis der Wiener Gesera wieder zugänglich.

Gedenktafel
ORF.at/Peter Prantner
In der Wiener Kegelgasse erinnert eine Gedenktafel an die dort vor 600 Jahren ermordeten Juden

Die Synagoge wurde wie der jüdische Friedhof abgerissen und die dabei gewonnenen Steine für christliche Bauwerke, darunter auch ein neues Universitätsgebäude, verwendet. Die von der Artistenfakultät damals gebaute Neue Schule ist Universitätsangaben zufolge 1623 durch die Verlängerung der Bäckerstraße wieder „vollkommen“ verschwunden.

Durch Europas Geschichte ziehendes Erbe von Judenhass

Welche Motive tatsächlich hinter der Aktion Herzog Albrechts standen, kann laut dem von der Universität Wien veröffentlichten Beitrag nicht mehr eindeutig geklärt werden. Angemerkt wird aber noch die im 15. Jahrhundert generelle Verschärfung antijüdischer Agitation durch die Kirche, die über Predigten weite Teile der Bevölkerung erreichte.

Inwieweit hier der Nährboden für den modernen Antisemitismus bereitet wurde, bleibt Inhalt laufender Debatten. Eine grundlegende Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart sei aber nicht von der Hand zu weisen, schreibt die Historikerin Nora Berend im neuen Katalog vom Museum Judenpatz.

Reflief auf Fassade von Jordanhaus am Wiener Judenplatz
ORF.at/Peter Prantner
Ein lange übersehenes – gleichzeitig weithin sichtbares – Erinnerungsmal an die Wiener Gesera findet sich in Form einer antisemitischen Inschrift an der Fassade vom Jordan-Haus und damit dem heute ältesten Gebäude am Wiener Judenplatz

Europas Erbe des Judenhasses habe vielfache ideologische, mediale und gewalttätige Ausprägungen, „bis hin zur beinahe vollbrachten Ausrottung alles Jüdischen durch das nationalsozialistische Deutsche Reich, dessen Nachfolgestaat auch Österreich ist“. Das sagte passend dazu die Historikerin Keil bei einer Anfang März vom Sir Peter Ustinov Institut veranstalteten Podiumsdiskussion zum Thema Antisemitismus „Von der Wiener Gesera 1421 bis zur Gegenwart“.

„Nein, das ist nicht der Fall“

Regina Polak vom Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien spannte zuvor in ihrer Eröffnungsrede ebenfalls einen Bogen vom mittelalterlichen Judenhass bis zum rassistischen Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts. „Man könnte meinen, dass nach der Schoah, nach der Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden, das Erschrecken über die Folgen dieses Judenhasses, dieser Judenfeindlichkeit so groß war, dass der Antisemitismus damit zu einem Ende hätte kommen können“, aber: „Nein, das ist nicht der Fall.“