Skelett sitzt in einem Wiener Kaffeehaus
Tobias Steinmaurer / picturedesk.com
Pandemie und Grant

Wiener Raunzen gegen ein Virus

Ist der Wiener besser aufgestellt, durch die Pandemie zu kommen, weil er von der Welt nicht zu viel erwartet? Für die Bewältigung des Fatalismus, den die Pandemie der Gesellschaft aufzwingt, hat der Wiener den Grant als Antwort. Mit diesem kann man die Pandemie einerseits schweigend und schlecht gelaunt hinnehmen. Oder sie so knapp kommentieren, dass es nicht mehr wehtut. Wer grantig ist, wird nicht durch falsche Hoffnung in Enttäuschungen getrieben.

Eine Wuchtel gegen den Schmerz und die Zumutungen der Pandemie. Das etwa versammelt der Journalist Andreas Rainer auf seiner Website „Wiener Alltagspoeten“ und ist sich sicher, wie er zuletzt gegenüber der Ö1-Sendung „Leporello“ sagt: „Während die Italiener gegen die Pandemie angesungen haben, halten die Wiener dem Coronavirus ihre Garstigkeit entgegen.“ Das verhindert zwar nicht die Mutation beim Virus. Aber der Wiener bleibt sich in seinem Phlegma treu.

Andererseits schreibt Rainer im Vorwort zu seinem Alltagspoetenbuch, das gerade im Milena Verlag herausgekommen ist, dass Tragödie und Komik im Wienerischen eng nebeneinanderlägen. Wo das Tragische am Komischen kratzt und das Heitere leicht in den Abgrund fällt, braucht es den „Spruch“, also den Hang zur herberen Ausdrucksart, als Scharnier.

„Der Grant ist auch ein Schutzschild“, sagt der in Salzburg gebürtige, aber seit Ende der 1970er Jahre in Wien ansässige Kulturwissenschaftler Johannes Domsich: „Der Grant ist ein Schutz vor Euphorie, damit die Hoffnung nicht zu groß werden kann und um auch keine Enttäuschung zu erfahren.“ In der Jetzt-Wahrnehmung sei der typische und eingeübte Wiener disphorisch – „aber in der Vision vom Tod ist er glorios gestimmt“. Die Party, auf der man nicht dabei sei, sie werde in der Wiener Vorstellung großartig gedacht, so Domsich, der für sich Flankenschutz von Helmut Qualtinger beanspruchen kann: „In Wien muasst erst sterben, damit se di hochleben lassen. Oba dann lebst lang.“ Mit diesem Qualtinger-Satz beendete Andre Heller die Dokumentation über seinen künstlerischen Ziehvater.

Zitat zum Thema Grant aus dem Buch von Andreas Rainer
Milena Verlag
Was ist wirklich schlimm am Coronavirus? Eine Einschätzung aus dem Alltagspoetenband von Rainer

„Der Grant ist ohne Bühne nicht zu haben“

Wer den Tod nicht fürchtet, müsste also vor einem Virus keine Angst haben. Allerdings, so erinnert Domsich: Der Wiener Grant sei ja nicht ohne Bühne zu haben. Das grantige Schweigen zelebrierte man in Wien seit je gern im Kaffeehaus – und in Zeiten der Pandemie ist es ins unsichtbare Privatistische abgerutscht.

Zitierte Bücher

  • Andreas Rainer, Wiener Alltagspoeten. Milena Verlag
  • Franz Schuh, Schwere Vorwürfe, schmutzige Wäsche. Zsolnay bzw. dtv
  • Werner Kofler, Amok und Harmonie, Werke. Sonderzahl
  • Christine Nöstlinger, Iba de gaunz oamen Leit. Gedichte. Residenz Verlag
  • Andre Heller, Zum Weinen zu schön, zum Lachen zu bitter. Zsolnay

Insofern muss man die Auseinandersetzung mit dem Coronavirus auf der Straße suchen wie der Alltagspoet Rainer, der dann eine Reihe von Stilblüten einsammelt. „Wos i voa hob? Goa nix hob ich vuo! Des is ja des Problem“, hört er etwa eine ältere Frau in ihr Handy reinsprechen. Dort, wo sich der Grant zum sprachlichen Ausdruck formt, kommt er bekanntlich als Raunzen daher.

Die Funktion des Raunzens

Auch das bekannte Raunzen, also der zur wörtlichen Artikulation geformte Grant, sei ja, wie der Essayist Franz Schuh in seinem Text „Der dialektische Masochismus“ erinnert, zunächst „eine Antwort auf eine Ohnmacht“. Allerdings, so Schuh, liefere das Wort Raunzen schon in seiner klanglichen Gestalt, dass es sich „an die Sinne und an den Sinn“ richte: „Man hört aus dem Wort Raunzen eine Schwäche heraus, eine Schwäche, die allerdings außerordentlich viel Kraft hat, und zwar die Kraft, um sich die Schwäche mitzuteilen.“

Das Raunzen sei deshalb ein „dialektischer Masochismus“, weil es eine Kombination aus Gedanken und Gefühlen sei, „ die so aussieht, als quäle man sich selber, während man mit Sicherheit andere quält“.

„Do foans olle aufn Semmering“ …

Während man im Westen des Landes, wie Domsich erinnert, sage, „jemand solle seinen Grant nicht auf jemand anderem auslassen“, trage der Wiener den Grant mit sich herum. Der Wiener Grant habe eine bestimmte Poetik, er gedeihe in einem „eingeführten Soziotop“: Die durchgehende Verstimmung, die in Wien gern die Gestalt eines Wesenszuges annehme, attackiere eine Realität, die man nicht so akzeptieren wolle, wie sie sei, die man aber nun mal nicht ändern könne.

„Der Ottokar Lemberger vom Tisch Nummer 3 zum Beispiel stellt sich tot“, beschreibt Andre Heller in der Erzählung „K. u. K – Ein Monolog“ einen dieser stillen misanthropischen Hauptdarsteller auf der Weltbühne des Grants und des kargen Sarkasmus: „Jeden Abend sitzt er unbeweglich und starrt in die Wand. Mit einem FIngerschnippen bestellt er einen Fernet Branca. Nur beim Verabschieden spricht er: ‚Es war schön, nicht hier gewesen zu sein.‘“

„Dieses gemütsmörderische Wiener Granteln“

Eine integrative Kraft geht vom Wiener Granteln jedenfalls nicht aus, das mussten gerade jene Schriftsteller erfahren, die, endlich der Provinz entkommen, in Wien heimisch werden wollten. Da nutzte es auch wenig, wenn man selbst viel von jener negativistisch-misanthropischen Stimmung mitbrachte, die man sich in Wien als Grundtonus über die Jahrhunderte erarbeitet hat. „Bei mia seids olle im Oasch daham, im Oasch, da is eicha Adress“, reimten Qualtinger und Heller und bauten damit jene Hürde auf, die man nur mit Beharrlichkeit zu überspringen weiß (um dahinter erst recht kein goldenes Herz zu bekommen).

Wie solle einem diese Stadt gleichgültig sein, notiert der Exilkärntner Werner Kofler in „Amok und Harmonie“, „wenn ich all ihren Unflat anhören muss, den Verkehrslärm, das grauenvolle Glockengläuten abends um sieben, das unerträgliche Wienerisch überall, dieses gemütsmenschliche und gemütsmörderische singende Wienerisch, dieses fachmännische Granteln über geöffnete Kühlerhauben und schwere Motorräder herum“.

Kommen Wiener besser durch die Pandemie?

Kommt der Wiener also besser durch die Pandemie? Ja, sagt Domsich und weist darauf hin, dass man sich da natürlich schon mit dem Weltentwurf des Wiener Negativismus ausgestattet haben müsse und diesen zelebrieren wolle. Durch den Schutzschild des Grants entstünden keine übertriebenen Erwartungen. Es ergäben sich eher Bestätigungen für ein Weltbild. „Do foans olle wia de wahnsinnigen am Semmering – und dann sama a Wochn länga eigspeat. A Traum“, zitiert Rainer in diesem Kontext die Aussage eines Taxlers aus Wien-Neubau.

„Häulaund da Wöd“, heißt es in Christine Nöstlingers Gedichtsammlung „Iba de gaunz oamen Leit“: „I woa no nia a grossa Höd. Häulaund da Wöd, schdangasd ma Schmia?“ So jedenfalls könnte ein Wiener Schutzgebet gegen die Auswirkungen der CoV-Pandemie lauten – der Herrgott, er wäre dann eine Form von verständnisvollem Komplizen für die Art, wie man in Wien nun einmal die Welt wahrzunehmen habe: ohne große Erwartungen vor dem – gloriosen – Jenseits.