Würstelprater
Stille Stadt/Christopher Mavric
Lockdown-Rückschau

Faszination der „stillen Stadt“

„Begreifen und aufzeichnen“, das wollten der Stadtforscher Peter Payer und der Fotograf Christopher Mavric. Unter dem Titel „Stille Stadt“ legen die beiden eine erste Bestandsaufnahme von einem Jahr Coronavirus in Wien vor. Überzeugend sind nicht zuletzt die eindrücklichen Bilder, die die Stadt zwischen Schönheit und Härte, geometrischen Formen und kreativer Nutzung porträtieren.

In der Wiener Westbahnhof-Halle spiegelt sich plötzlich das Deckenmuster in der Verfliesung des Bodens, einfach weil niemand den Blick verstellt. Im sonst übervollen Schafbergbad im 18. Bezirk ragen blaue, große Kuben nackt aus dem wasserlosen Becken. Und die U-Bahn-Station, normalerweise ein funktionaler Transitort, macht unübersehbar und mit gespenstischem Anklang auf ihren 80er-Jahre-Look aufmerksam.

Das bauliche Umfeld wurde im Lockdown anders wahrgenommen, so fasst Payer im ORF.at-Gespräch eine zentrale Erfahrung des vergangenen Pandemiejahrs zusammen. Weil mit Bewegung, Fußgetrappel oder Autolärm alles Gewohnte gefehlt habe, sei die „pure Materialität“ von Oberflächen und Strukturen erst erfahrbar geworden.

Fotostrecke mit 10 Bildern

Schafbergbad
Stille Stadt/Christopher Mavric
24. April, Währing, Schafbergbad, normalerweise beginnt in Wien um diese Jahreszeit die Freibadsaison
Westbahnhof
Stille Stadt/Christopher Mavric
26. März, Westbahnhof, in der leeren Halle sieht man erst das rasterförmige Muster, das sich auf Decke und Boden spiegelt
Ubahn-Station
Stille Stadt/Christopher Mavric
20. März, die U-Bahn-Station Karlsplatz ist nicht nur nach Abfahrt des Zuges menschenleer
Freischwimmen am Kaiserwasser
Stille Stadt/Christopher Mavric
4. August, Kaiserwasser, Freischwimmen liegt wegen CoV wieder im Trend
Schüler der Young-Ung Kampfsportschule beim Freiluft-Training auf der Donauinsel
Stille Stadt/Christopher Mavric
8. Mai, Schüler der Young-Ung-Kampfsportschule beim Freilufttraining auf der Donauinsel
Uni-Wien Hauptgebäude
Stille Stadt/Christopher Mavric
30. April, die Uni Wien ist leergefegt, Kurse finden bis dato im Internet statt
Gottesdienst mit Kardinal Schönborn
Stille Stadt/Christopher Mavric
11. Juni, Kardinal Schönborn predigt zu Fronleichnam vor dem Stephansdom
Burgtheater
Stille Stadt/Christopher Mavric
27. Dezember, eine ungewöhnlich lange Schlange beim Wiener Eistraum auf dem Rathausplatz
Rathaus
Stille Stadt/Christopher Mavric
3. Dezember, der Weihnachtsmarkt auf dem Rathausplatz wird abgebaut, noch bevor er in Betrieb geht
Wiener Stadthalle
Stille Stadt/Christopher Mavric
3. Dezember, die Ästhetik einer Militarisierung: Massentestvorbereitung in der Stadthalle unter Beteiligung des Bundesheers

Von dieser „Einladung zur frischen Besichtigung“ – von Payer als „Bonuspunkt“ des Ausnahmezustands beschrieben – zeugen auch Mavrics Fotos. Pandemie und öffentlicher Raum, traum- und kulissengleich, „klar wie nie“, gespenstisch und schön – all das zeigt der Band „Stille Stadt“.

Eine Ästhetisierung der Krise?

Für diesen waren der Stadtforscher und Kurator des Technischen Museums und der „Falter“-Fotograf ein Jahr lang unabhängig voneinander auf Streifzug. Payer schrieb eine Chronik der Krise, eine Art wissenschaftlich erweitertes Stadttagebuch inklusive Medien- und Politikbeobachtungen, Mavric präsentiert parallel dazu 98 Fotos der Pandemiestadt.

Fallen diese Bilder schon unter Ästhetisierung der Krise? In gewisser Weise schon, weil es eben auch eine städtische „Ästhetik der Krise gebe“, so Payer. Die dunkelsten Erfahrungen hinter den verschlossenen Türen kommen im Band nicht vor, der Blick bleibt auf den öffentlichen Raum begrenzt.

Tangente Heubergstätten
Stille Stadt/Christopher Mavric
So leer wie seit 1962 nicht mehr: die Südosttangente am 26. März

Eine andere Stadt ist möglich

Was für den Stadtforscher die prägnanteste Erkenntnis war? „Die Grunderfahrung, dass eine andere Ordnung möglich ist“, so Payer. Im März letzten Jahres etwa wichen Fußgänger von den engen Gehsteigen auf die Straße aus, Pop-up-Radwege und temporäre Begegnungszonen waren die Antwort der Politik, die sogar eine Komplettsperre der Ringstraße angedacht hatte. Die Verschiebungen seien frappierend gewesen, meint Payer: Die U-Bahn-Passage beim Schottenring, die er selbst täglich frequentiert, war im März 2020 auf einmal menschenleer.

Am 30. März 2020 notiert er im Buch: „Eine Autobahnfahrt im Süden Wiens enthüllt eine nie gesehene Leere. So hat diese Strecke nur in den Jahren nach ihrer Eröffnung 1962 ausgesehen, das verraten historische Fotos.“ Anderswo hingegen ballt es sich: Am Donaukanal und im Grünen Prater tummeln sich so viele Menschen wie sonst nie.

Capeoeira Workshop
Stille Stadt/Christopher Mavric
26. Juli, Abstandhalten beim Impulstanz-Capoeira-Workshop auf der Wiese vor dem Goethehof im 22. Bezirk

Veränderte Klanglandschaften

Payer betreibt, das ist ihm wichtig, „Stadtforschung mit allen Sinnen“. In dieser Hinsicht war auch die „Neukalibrierung der gesamten Klanglandschaft“ zu beobachten, vom plötzlich hörbaren Surren der rotierenden Litfaßsäulen über das Gullyrauschen bis hin zum Vogelgezwitscher in den Bäumen, wie eine Studie aus San Franscisco belegt, die letzten Herbst die Runde machte. Die Vögel hatten im Lockdown ihr Gesangsrepertoire erweitert – endlich Stille rundherum.

Mehr Fußgänger und „offene Straßen“

Wie sich die Pandemie längerfristig auf das Stadtbild auswirken wird, dazu hat der Forscher keine Prognosen. Es gebe, so Payer, Untersuchungen, dass der Anteil der Fußgänger und Radfahrerinnen auch im Winter sehr hoch geblieben ist. „Das ist eine interessante Verschiebung, die Frage ist, hält sich das?“

Polizei auf der Kärntner Straße
Stille Stadt/Christopher Mavric
31. Dezember: Kein rammelvoller Silvesterpfad, sondern nur ein paar Polizisten, die sich auf dem Stephansplatz in die Arme fielen

Auch das Konzept der „offenen Straßen“ – also die Straßennutzung als Interaktions- und Bewegungs- anstatt als Verkehrsraum – erhält inzwischen mehr Aufmerksamkeit. Das Bewusstsein, dass es anders geht, ist gewachsen, jedoch mit ungewissem Ausgang.

Payer hält es mit dem französischen Historiker Marc Bloch: „Wir urteilen viel zu viel (…) und verstehen nie genug.“ „Es lassen sich noch keine Schlüsse ziehen“, meint Payer. „Stille Stadt“ will er auch als Plädoyer verstanden wissen, die Situation eben „erst einmal wirken zu lassen“.