In der Wiener Westbahnhof-Halle spiegelt sich plötzlich das Deckenmuster in der Verfliesung des Bodens, einfach weil niemand den Blick verstellt. Im sonst übervollen Schafbergbad im 18. Bezirk ragen blaue, große Kuben nackt aus dem wasserlosen Becken. Und die U-Bahn-Station, normalerweise ein funktionaler Transitort, macht unübersehbar und mit gespenstischem Anklang auf ihren 80er-Jahre-Look aufmerksam.
Das bauliche Umfeld wurde im Lockdown anders wahrgenommen, so fasst Payer im ORF.at-Gespräch eine zentrale Erfahrung des vergangenen Pandemiejahrs zusammen. Weil mit Bewegung, Fußgetrappel oder Autolärm alles Gewohnte gefehlt habe, sei die „pure Materialität“ von Oberflächen und Strukturen erst erfahrbar geworden.
Von dieser „Einladung zur frischen Besichtigung“ – von Payer als „Bonuspunkt“ des Ausnahmezustands beschrieben – zeugen auch Mavrics Fotos. Pandemie und öffentlicher Raum, traum- und kulissengleich, „klar wie nie“, gespenstisch und schön – all das zeigt der Band „Stille Stadt“.
Eine Ästhetisierung der Krise?
Für diesen waren der Stadtforscher und Kurator des Technischen Museums und der „Falter“-Fotograf ein Jahr lang unabhängig voneinander auf Streifzug. Payer schrieb eine Chronik der Krise, eine Art wissenschaftlich erweitertes Stadttagebuch inklusive Medien- und Politikbeobachtungen, Mavric präsentiert parallel dazu 98 Fotos der Pandemiestadt.
Fallen diese Bilder schon unter Ästhetisierung der Krise? In gewisser Weise schon, weil es eben auch eine städtische „Ästhetik der Krise gebe“, so Payer. Die dunkelsten Erfahrungen hinter den verschlossenen Türen kommen im Band nicht vor, der Blick bleibt auf den öffentlichen Raum begrenzt.

Eine andere Stadt ist möglich
Was für den Stadtforscher die prägnanteste Erkenntnis war? „Die Grunderfahrung, dass eine andere Ordnung möglich ist“, so Payer. Im März letzten Jahres etwa wichen Fußgänger von den engen Gehsteigen auf die Straße aus, Pop-up-Radwege und temporäre Begegnungszonen waren die Antwort der Politik, die sogar eine Komplettsperre der Ringstraße angedacht hatte. Die Verschiebungen seien frappierend gewesen, meint Payer: Die U-Bahn-Passage beim Schottenring, die er selbst täglich frequentiert, war im März 2020 auf einmal menschenleer.
Am 30. März 2020 notiert er im Buch: „Eine Autobahnfahrt im Süden Wiens enthüllt eine nie gesehene Leere. So hat diese Strecke nur in den Jahren nach ihrer Eröffnung 1962 ausgesehen, das verraten historische Fotos.“ Anderswo hingegen ballt es sich: Am Donaukanal und im Grünen Prater tummeln sich so viele Menschen wie sonst nie.

Veränderte Klanglandschaften
Payer betreibt, das ist ihm wichtig, „Stadtforschung mit allen Sinnen“. In dieser Hinsicht war auch die „Neukalibrierung der gesamten Klanglandschaft“ zu beobachten, vom plötzlich hörbaren Surren der rotierenden Litfaßsäulen über das Gullyrauschen bis hin zum Vogelgezwitscher in den Bäumen, wie eine Studie aus San Franscisco belegt, die letzten Herbst die Runde machte. Die Vögel hatten im Lockdown ihr Gesangsrepertoire erweitert – endlich Stille rundherum.
Mehr Fußgänger und „offene Straßen“
Wie sich die Pandemie längerfristig auf das Stadtbild auswirken wird, dazu hat der Forscher keine Prognosen. Es gebe, so Payer, Untersuchungen, dass der Anteil der Fußgänger und Radfahrerinnen auch im Winter sehr hoch geblieben ist. „Das ist eine interessante Verschiebung, die Frage ist, hält sich das?“

Auch das Konzept der „offenen Straßen“ – also die Straßennutzung als Interaktions- und Bewegungs- anstatt als Verkehrsraum – erhält inzwischen mehr Aufmerksamkeit. Das Bewusstsein, dass es anders geht, ist gewachsen, jedoch mit ungewissem Ausgang.
Payer hält es mit dem französischen Historiker Marc Bloch: „Wir urteilen viel zu viel (…) und verstehen nie genug.“ „Es lassen sich noch keine Schlüsse ziehen“, meint Payer. „Stille Stadt“ will er auch als Plädoyer verstanden wissen, die Situation eben „erst einmal wirken zu lassen“.