Artillerie am Montmatre
Musées Carnavalet
Paris 1871

Der Mythos der Kommune

Am 18. März 1871 ist aus der konfliktgeladenen Situation des belagerten Paris im Deutsch-Französischen Krieg die Pariser Kommune entstanden. Bald von Friedrich Engels als erste „Diktatur des Proletariats“ stilisiert, diente sie der Nachwelt als Modell, Mythos und Projektionsfläche. 72 Tage dauerte die Selbstverwaltung. Dass es überhaupt zur Kommune kommen konnte, hatte viel mit der Unzufriedenheit in ganz unterschiedlichen Lagern zu tun.

Die Vorgeschichte der Pariser Kommune beginnt mit dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, als der Norddeutsche Bund unter der Führung Preußens das Französische Kaiserreich unter Napoleon III. militärisch mattsetzte. Napoleon III., Neffe von Napoleon Bonaparte, musste sich am 1. September 1870 nach der Schlacht von Sedan ergeben und wurde in Kassel unter Arrest gestellt.

Als Kaiser wurde er abgesetzt. Es kam zur Ausrufung der dritten Republik durch eine Regierung der „nationalen Verteidigung“. Diese begann, neben dem spärlichen Rest der Armee auch Bataillone der Nationalgarden aufzubauen. Neben Bürgern meldeten sich wegen des beträchtlichen Lohns auch zahlreiche Arbeiter für die Verteidigung von Paris, das bald von den deutschen Truppen belagert wurde.

Napoléon III. vor und nach der Schlacht von Sedan
Bibliothèque nationale de France
Napoleon III. in einer zeitgenössischen Karikatur – vor und nach der Schlacht von Sedan

Neben diesem einen Strang politischer Ereignisse gab es aber noch eine weitere tiefgreifende Änderung, die die Bildung der Pariser Kommune begünstigte, wie Werner T. Bauer, Kurator der Schau „Vive la Commune. Die erste ‚Diktatur des Proletariats‘“ im Waschsalon des Wiener-Karl-Marx-Hofs erklärt: „Der radikale Umbau von Paris durch Georges-Eugene Haussman, der unter Napoleon III. die Altstadt niederreißen und prachtvolle Boulevards errichten ließ, hat die alten Strukturen in der Stadt aufgelöst. Davor lebten alle Schichten unter einem Dach, die Besitzenden in der Beletage und die Ärmeren weiter darüber.“

Zündfunken am Montmartre

Mit den Boulevards, die mit strategischem Hintergedanken angelegt wurden, lebten die Proletarier erstmals getrennt in anderen Vierteln, unter anderem auch am Montmartre, wo sich die Pariser Kommune am 18. März 1871 spontan bildete. Im eingekesselten Paris gab es in diesen Tagen zahlreiche Demonstrationen und Plünderungen. Es herrschte in der Bevölkerung große „Unzufriedenheit mit der neugewählten Nationalversammlung, die sich nach Versailles zurückgezogen hatte und in der die Monarchisten den Ton angaben“, so Bauer.

Ausstellungshinweis

„Vive la Commune. Die erste ‚Diktatur des Proletariats‘“, von 11. März 2021 bis 27. Februar 2022 im Waschsalon des Karl-Marx-Hofs in Wien, donnerstags 13.00 bis 18.00 Uhr, sonntags 12.00 bis 16.00 Uhr.

Die französische Armee versuchte, den in Paris verbliebenen proletarischen Nationalgarden – bewaffnet, aber militärisch nicht ausgebildet – Kanonen zu entreißen, die diese sich angeeignet hatten. Das war der „Zündfunken, der die Situation explodieren ließ“. Die Kommune, die durch gewählte Abgeordnete aus allen Arrondissements und im weiteren Verlauf den Wohlfahrtsauschuss geleitet wurde, vereinigte Oppositionelle und Revolutionäre unterschiedlichster Richtungen. Die spontane Verwaltung war „chaotisch und dilettantisch“, wie Bauer betont.

Artillerie am Montmatre
Musées Carnavalet
Der „Zündfunken“ des spontanen Aufstands, Kanonen für die Verteidigung von Paris am Montmartre

Dennoch markierte die Kommune einen kurzfristig erfolgreichen Aufstand in einer langen Pariser Tradition, die von der französischen Revolution bis zu den Aufständen von 1830 und 1848 reichte, von denen zahlreiche Veteranen zu Akteuren der Kommune wurden. Rasch versuchte man, per Dekret sozialreformerische Vorstellungen zu verordnen: beispielsweise die Rückforderung von Mieten, die Versorgung der Waisen der bei der Verteidigung von Paris gefallenen Nationalgardisten und eine neue laizistische und antiklerikale Ordnung.

„Projektionsfläche“ für spätere Revolutionsversuche

Der besondere Platz, den die „Herrschaft des Proletariats“ in der Geschichte linker Revolutionsversuche lange einnahm, hatte auch damit zu tun, dass sie in der „Blutwoche“ ein rasches und schreckliches Ende fand. Die Kommunarden verteidigten Paris gegen die regulären französischen Regierungstruppen, welche schließlich am 21. Mai in Paris eindrangen und sich Straßenschlachten mit den Kommunarden lieferten. In den Kämpfen und den nach dem Sieg der regierungstreuen französischen Truppen erfolgten Massenerschießungen wurden aufseiten der Kommune bis zu 30.000 Menschen getötet, darunter zahlreiche Zivilisten und Zivilistinnen, auch Kinder, die verdächtigt wurden, Anhänger der Kommune zu sein.

Dadurch, dass die Kommune ihre Ideale im Verlauf eines längeren Bestehens nicht verraten konnte, wie viele spätere erfolgreiche Revolutionen, bildete sie für die folgenden Generationen „eine Projektionsfläche, eine Art von Märtyrermythos. Das trifft ja zum Beispiel auch auf Rosa Luxemburg zu, die dieser Tage vor 150 Jahren geboren wurde. Man stelle sich vor, aus Rosa Luxemburg wäre eine Elena Ceausescu geworden!“, sagt Bauer.

Die Pariser Kommune eignete sich gerade aufgrund ihrer Niederschlagung zur Idealisierung, denn: „Das heldenhafte und tragische Scheitern begründet einen Mythos, an dem sich nachfolgende Generationen aufrichten können, um diese Ideale vielleicht auf friedliche Weise in die Tat umzusetzen“, so Bauer.

Fotostrecke mit 9 Bildern

Während der Pariser Kommune bauten die Kommunarden eine beeindruckende Festung, in der die Rue de Rivoli auf den Place de la Concorde traf.
Public Domain
Während der Pariser Kommune bauten die Kommunarden eine Festung, an dem Punkt, wo die Rue de Rivoli auf den Place de la Concorde traf
Nationalgarde in der Rue de Rivoli
Musées Carnavalet
Kommunarden in der Uniform der Nationalgarde in der Rue de Rivoli
Barrikade an der Ecke Boulevard Voltaire und Boulevard Richard-Lenoir während der Pariser Kommune von 1871
Public Domain
Barrikade an der Ecke Boulevard Voltaire und Boulevard Richard-Lenoir
Die gestürzte Vendome-Säule mit der Statue von Napoleon am 16.5.1871
picturedesk.com/akg-images
Die Vendome-Säule mit der Statue von Napoleon wurde am 16. Mai 1871 auf Betreiben des Malers Gustave Courbet gestürzt
Erschießung von Zivilisten, Alphonse Alexandre Leroy
Bibliothèque nationale de France
Bilder der „Blutwoche“: Die Erschießung von Zivilisten während der Niederschlagung der Kommune in einer Darstellung von Alphonse Alexandre Leroy
Die zerstörte Rue de Rivoli
Public Domain
Die zerstörte Rue de Rivoli nach der Niederschlagung der Kommune
Porträt von Louise Michel
Public Domain
Louise Michel wurde zur Ikone der Kommunardinnen
Porträtfoto von Victor Hugo
Public Domain
Victor Hugo nannte die Pariser Kommune „eine gute Sache, aber schlecht gemacht“. In der Folge unterstützte der Dichter die Kommunardin Louise Michel und schrieb ihr zu Ehren das Gedicht „Viro Major“.
Porträtaufnahme, um 1850, von Friedrich Engels
picturedesk.com/akg-images
Von Friedrich Engels stammt die Deutung der Kommune als „erste Diktatur des Proletariats“

Die Idealisierung gerade durch die Sozialdemokratie im Roten Wien, die die Ausstellung „Vive la Commune“ nachzeichnet, sei folgerichtig, so Bauer: „Die Sozialdemokratie war damals noch eine sehr junge Bewegung und hat versucht, sich an historisch wichtige Ereignisse anzuhängen, wie zum Beispiel an die Revolution von 1848 oder an die Pariser Kommune.“

Frauen auf den Barrikaden

Die Nachwirkung der Kommune verdankt sich neben der früh erfolgten Mythologisierung – einer der Ersten, der es verstand, den Aufstand in seinem Sinne zu deuten, war Friedrich Engels, der diese als erste „Diktatur des Proletariats“ verstand – einzelnen ikonischen Kommunardinnen und Kommunarden, die bis heute Teil des kollektiven Gedächtnisses geblieben sind. Eine von ihnen war die Lehrerin Louise Michel (1830–1905), die in den den Tagen der Kommune zur aktiven Revolutionärin und Kämpferin wurde, selbst auf den Barrikaden stand und ein Frauenbataillon leitete.

Lithographie de Lefman, La Barricade
Public Domain
Eine brandstiftende „Petroleuse“ aufseiten der Kommune

Besonders berüchtigt waren in der Endphase der Kommune die „Petroleuses“, Frauen, die während der Straßenkämpfe Feuer in strategisch wichtigen Gebäuden legten und, wie auf diversen historischen Darstellungen zu sehen, zum Schreckgespenst der Gegner wurden.

Geschichten der Kommunarden

Überhaupt war die Kommune bezüglich der Beteiligung von Frauen im Kampf eine Premiere, so Kurator Bauer: „Auf den Barrikaden gekämpft haben die Frauen erstmals 1871.“ Das schlug sich ebenfalls in den politischen Zielsetzungen nieder. Stellvertretend für viele Frauen erhoffte sich Michel von der Kommune nicht nur eine bessere Zukunft der Bevölkerung, sondern auch eine Gleichstellung der Geschlechter.

Buchcover von „Die Pariser Commune“ von Louise Michel
Mandelbaum Verlag
Louise Michel: Die Pariser Commune. Mandelbaum Verlag, 416 Seiten, 28,00 Euro.

Nach der Niederschlagung des Aufstandes machte man Michel den Prozess. „Ich übernehme die Verantwortung für alle meine Taten“, soll sie im Dezember 1871 vor dem Kriegsgericht ausgesagt haben. „Man wirft mir vor, Komplizin der Kommune gewesen zu sein. Selbstverständlich war ich das, denn die Kommune wollte vor allem die soziale Revolution, und die soziale Revolution ist, was ich mir am sehnlichsten wünsche.“

Nach 20 Monaten Gefängnis wurde sie in die Strafkolonie Neukaledonien deportiert. Dort war sie sofort wieder sozial engagiert, arbeitete als Lehrerin mit der indigenen Bevölkerung und gilt deshalb auch heute noch als frühe Kritikerin des Kolonialismus. 1880 konnte Michel nach einer Generalamnestie nach Europa zurückkehren. Einer ihrer Unterstützer war der Dramatiker und Romancier Victor Hugo (1802–1885), der Michel zu Ehren das Gedicht „Viro Major"(1871) schrieb.

Michels Erinnerungsbuch "Die Pariser Commune“ ist nun zum 150. Jahrestag der Kommune in einer neuen Ausgabe erschienen. Michel schrieb es 24 Jahre nach der Niederschlagung des Aufstands. „Michels Buch lässt uns sehr nahe an die Geschehnisse heran kommen, die der Commune vorangingen, und es lässt uns die Ereignisse hautnah miterleben, die sie formten und die zu ihrem Untergang führten“, schreibt Übersetzerin Veronika Berger in ihrem Vorwort.

Banksy-Rettungsboot „Louise Michel“
Reuters/Mv Louise Michel
Das von Banksy finanzierte Rettungsschiff erinnert an Louise Michel

Michel wolle „dem Vergessen entgegenwirken, vor allem will sie zukünftigen Generationen ein Vermächtnis hinterlassen, damit sie verstehen, lernen und manche Fehler nicht mehr machen müssen; aber auch damit sie glauben können: an den Fortschritt der Menschheit, an ihren Mut, an die Kraft, mit der Völker immer wieder aufgestanden sind, aufstehen und aufstehen werden, um gegen Unrecht zu kämpfen.“ Als Michel 1905 starb, wurde der Trauerzug von Hunderttausenden begleitet. Auch heute noch wirkt ihr Name nach. Das vom Streetart-Künstler Banksy finanzierte Rettungsschiff, das seit vergangenem Jahr in Seenot geratene Geflüchteten im Mittelmeer hilft, trägt ihren Namen.

Buchcover von „Gustave Courbet und der Blick der Verzweifelten“ von Bernd Schuchter
Braumüller Vertrag
Bernd Schuchter: Gustave Courbet und der Blick der Verzweifelten, Braumüller Verlag, 128 Seiten, 18,00 Euro.

Gustave Courbet und die Zerstörung der Siegessäule

Eine weitere Neuerscheinung ist dem Maler Gustave Courbet (1819–1877) gewidmet. Er ist heute noch durch sein Gemälde „Der Ursprung der Welt“ ein Begriff, das ein weibliches Geschlecht zeigt und 1866 einen Skandal auslöste. Courbet wurde als Bauernsohn in der Umgebung von Besancon geboren und in die revolutionären Geschehnisse rund um die Kommune hineingezogen. Die Siegessäule auf der Place Vendome, auf der Napoleon als Kaiser stilisiert in Bronze gegossen thronte, wurde angeblich auf sein Bestreben von den Kommunarden gestürzt. Die Zerstörung war einer der wichtigsten symbolischen Akte des Aufstandes.

Mit dem Denkmalsturz am 16. Mai 1871, beginnt auch „Gustave Courbet und der Blick der Verzweifelten“ des Tiroler Autors und Verlegers Bernd Schuchter. Er schildert in dem knappen Porträt die fiebrige Ungeduld des Künstlers im Streben nach Ruhm und Gerechtigkeit.

Seine Mitwirkung an der kurzen Diktatur des Proletariats musste der Maler bitter büßen: Er landete im Gefängnis und wurde dazu verurteilt, die Kosten für die Wiederherstellung der Säule zu tragen – eine enorme Summe, die Corbet nicht aufbringen konnte. Er starb, vereinsamt und verschuldet, im Alter von nur 58 Jahren im Schweizer Exil.