Gebrauchte Covid-19-Impfstofffläschchen
Reuters/Lisi Niesner
Impfstreit

ÖVP für Entlassungen im Gesundheitsressort

Die Kritik von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) an der Verteilung von Impfstoffen unter den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union droht zu einer Belastungsprobe für die Koalition zu werden. Die ÖVP fordert nun personelle Konsequenzen im Gesundheitsministerium.

Nachdem Ines Stilling, Generalsekretärin des grün geführten Gesundheitsministeriums, der am Freitag geäußerten Kritik von Kurz am Samstag widersprochen hatte, forderte ÖVP-Gesundheitssprecherin Gaby Schwarz die sofortige Suspendierung Stillings, aber auch des Spitzenbeamten Clemens Martin Auer. Das sei unvermeidbar, so Schwarz.

Es stelle sich insbesondere die Frage, wie man Verträge abschließen konnte, die dazu geführt hätten, dass andere EU-Länder mehr Impfstoff bekommen und warum die Vereinbarung der EU-Staats- und -Regierungschefs gebrochen wurde. „Es ist kaum vorstellbar, dass (Gesundheitsminister Rudolf, Anm.) Anschober darüber im Detail Bescheid wusste. Es gilt aufzuklären, ob er von den zuständigen Beamten des Gesundheitsministeriums getäuscht wurde.“ Anschober ist derzeit krankheitsbedingt außer Gefecht. Er will Anfang kommender Woche seine Arbeit wieder voll aufnehmen.

Kurz verlangt Offenlegungen von Ministerium

Nach ÖVP-Gesundheitssprecherin Schwarz nahm Kurz selbst am Samstag das Gesundheitsministerium ins Visier. Es sei ausgemacht gewesen, dass alle gleich viele Impfdosen pro Kopf erhalten, das sei aber nicht passiert, sagte er gegenüber der Tageszeitung „Österreich“. Kurz verlangte auch auf nationaler Ebene volle Transparenz über Vereinbarungen.

„Ich fordere das Ministerium auf, jetzt zu prüfen, wie das passieren konnte. Ich hoffe sehr, dass sich die Beamten an die Vorgaben der Politik gehalten haben“, so der Bundeskanzler: „Das Gesundheitsministerium muss die Verträge und alle getätigten Bestellungen offenlegen, damit Klarheit besteht, ob wir hier wirklich mehr Impfstoff hätten bestellen können.“

Gesundheitsministerium: Inzwischen 31 Mio. Impfdosen bestellt

Aus dem Gesundheitsministerium hieß es am Samstag, man habe vergangenen Juli 24 Millionen Dosen Impfstoff für Österreich bestellt, eine Menge für nahezu drei Impfungen für jeden in Österreich. Die Einigung darüber, dass alle EU-Mitgliedsstaaten gleich viel Impfstoff pro Einwohner erhalten sollen, sei damals ein wichtiger Schritt gewesen. Alle EU-Mitgliedsstaaten müssen zugleich mit den gleichen Impfstoffmengen, relativ zur Anzahl der Bevölkerung, beliefert werden. Ein EU-Gipfel zu diesem Thema werde begrüßt.

„Zum Zeitpunkt der Vertragserstellung mit den damals sechs Herstellern gab es noch kein klares Bild zur Frage der Zulassung, zum genauen Zeitpunkt der Zulassung und zu den frühestmöglichen Lieferzeitpunkten. Nach damaligem Kenntnisstand galten AstraZeneca und Moderna als aussichtsreichste Kandidaten, weshalb von den Fachleuten des Gesundheitsministeriums wie von vielen anderen EU-Mitgliedsstaaten vorrangig dieses Kontingent voll ausgeschöpft wurde und bei Biontech/Pfizer nahezu ebenso – alles unter Einhaltung des damals von Nationalrat und Ministerrat verankerten Budgets für die Impfkampagne von 200 Millionen Euro“, fasste das Ministerium in einer Aussendung am Samstag die Ausgangslage zusammen.

Österreich habe derzeit rund 31 Millionen Impfdosen bestellt. Folglich sei die Vollimmunisierung für jeden Menschen, der in Österreich lebt, um das 2,85-Fache gesichert. Damit werde auch die Vorgabe der Bundesregierung erfüllt, dass jede und jeder in Österreich geimpft werden kann. Diese Liefermengen seien zudem in mehreren Ministerratsvorträgen verankert worden.

Unklarer Ablauf der Impfstoffbestellungen

Offen sei, wie die Impfstoffbestellungen und deren Bezahlung in Österreich abgelaufen sei, berichtete der „Standard“ am Samstag. Dem Bericht zufolge müsste das ÖVP-geführte Finanzministerium unter Minister Gernot Blümel (ÖVP) in die Impfstoffbeschaffung involviert gewesen sein. Denn laut Gesetz dürfe kein Ministerium Ausgaben von mehr als einer Million Euro tätigen ohne Zustimmung des Finanzministers. Es sei laut in der EU mit dem Thema Zuständigen auszuschließen, dass ein hoher Beamter wie Auer von sich aus ein Impfstoffgeschäft in dieser Größenordnung tätige, berichtete der „Standard“.

Aus dem Finanzministerium hieß es gegenüber der Zeitung aber, dass Blümel mit dem Inhalt der Kaufverträge nichts zu tun habe. Es sei nicht geprüft worden, welche Größenordnungen von Impfstoffen den Kaufverträgen zugrunde lagen. Die Zahlung für die Impfstoffe sei aus dem Budget des Gesundheitsministeriums erfolgt.

Verhandlungen „ausgewogen und transparent“

Zuvor hatte sich Stilling im Ö1-„Morgenjournal“ deutlich positioniert. Die Verhandlungen über die Verteilung seien „ausgewogen und transparent“ gelaufen. Alle Mitgliedsstaaten, also auch Österreich, hätten die Möglichkeit gehabt, freie Vakzinkontingente zu kaufen. Es gebe keine Basarmethoden, sagte sie in Richtung Kurz, der solche am Freitag angeprangert hatte. Die Impfstoffverteilung sei zudem laufend Thema im Ministerrat, sodass auch das Bundeskanzleramt laufend informiert sei. Seit Jänner gebe es in Österreich sogar einen eigenen Steuerungsausschuss zu Beschaffung und Lieferplänen unter Einbeziehung des Bundeskanzleramts, ergänzte Stilling.

Nach Stillings Interview hatte man sich im Gesundheitsministerium noch um eine Glättung der Wogen bemüht. Es sei „unser gemeinsames Ziel“, möglichst rasch und im europäischen Gleichklang zu impfen. Die Impfkampagne sei von Anfang ein gemeinsames Projekt der Bundesregierung gewesen. „Ziel muss in dieser entscheidenden Phase eine gerechte gleichberechtigte Aufteilung der Impfstoffe innerhalb der EU für die Sicherstellung einer gleichzeitigen Impftätigkeit sein“, wurde betont.

Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) forderte wiederum, die „undurchsichtigen Vorgänge“ müssten umgehend aufgeklärt und die Verträge zur Impfstoffverteilung zur Gänze offengelegt werden.

Opposition sieht Suche nach Sündenböcken

Die Opposition sparte nicht mit Kritik an der ÖVP – der Kanzler würde nur nach Sündenböcken suchen. SPÖ-Bundesgeschäftsführer Christian Deutsch: „Jetzt sind es die eigenen Regierungsbeamten, die dafür herhalten müssen, dass Kurz sich nicht um verfügbare zusätzliche Kontingente bemüht hat.“ Der Kanzler selbst trage aber die politische Verantwortung. Dass er sich an den Beamten des Gesundheitsministeriums abputze, während mit Anschober deren Chef erkrankt sei und nicht Stellung nehmen könne, sei „besonders schäbig“.

Auch NEOS-Gesundheitssprecher Gerald Loacker zeigte sich irritiert. „Die Politik darf sich nicht an den Beamten abputzen. Schon gar nicht, wenn sie diese zuvor selbst bestellt, ihnen ein Verhandlungspouvoir erteilt und ein klares Budget gegeben hat“, erklärte er. Kurz habe die Schuld der EU entdeckt, sagte FPÖ-Klubchef Herbert Kickl: „Diese Botschaft ist dem Kanzler so wichtig, dass er dafür sogar bereit ist, seinen eigenen ÖVP-Parteikollegen, den Sonderbeauftragten für Gesundheit Clemens Martin Auer, schwer zu beschädigen.“

Brief von Kurz und Kollegen

Bundeskanzler Kurz hat unterdessen in einem gemeinsamen Brief mit vier Amtskollegen einen EU-Gipfel zum Thema Impfstoffverteilung gefordert. Damit alle EU-Staaten ihre Impfziele für das zweite Quartal erreichen, solle EU-Ratspräsident Charles Michel „so bald wie möglich“ einen Gipfel abhalten, heißt es in dem am Samstag veröffentlichen Schreiben der Regierungschefs von Österreich, Tschechien, Slowenien, Bulgarien und Lettland an die EU-Spitze. Kroatien schloss sich dem Vorstoß am Samstag an.

Forderung nach EU-Gipfel zu Impfstoffverteilung

Österreich, Tschechien, Slowenien Bulgarien und Lettland fordern im Streit um die Verteilung der Impfstoffe nun ein EU-Gipfeltreffen. Der Streit wird durch die angekündigten Kürzungen der Lieferungen von AstraZeneca noch angefacht werden.

Das Schreiben an Michel und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wiederholt im Wesentlichen die von Kurz am Freitag in einer Pressekonferenz gemachten Aussagen. Kurz und seine Amtskollegen Andrej Babis (Tschechien), Janez Jansa (Slowenien), Bojko Borissow (Bulgarien) und Krisjanis Karins (Lettland) berichten, sie hätten „in den vergangenen Tagen entdeckt“, dass die Lieferungen der Impfstoffdosen durch die Pharmafirmen nicht entsprechend dem Bevölkerungsschlüssel erfolgen.

Warnung vor „riesigen Ungleichheiten“

„Wenn dieses System so weitergeht, würde das bis zum Sommer riesige Ungleichheiten unter den Mitgliedsstaaten schaffen und vertiefen. So würden einige in wenigen Wochen die Herdenimmunität erreichen können, während andere weit zurückblieben“, beklagten die fünf Regierungschefs. „Aus unserer Sicht widerspricht das nicht nur unserer Vereinbarung, sondern auch dem Geist der europäischen Solidarität.“

Die Premiers verwiesen darauf, dass die EU-Staaten Ende Dezember ihre Impfkampagnen gleichzeitig gestartet hätten und die Kommission zu Recht gemeinsame Impfziele für das zweite Quartal 2021 gesetzt habe. „Wir müssen nun sicherstellen, dass alle Mitgliedsstaaten die gleiche Chance haben, diese Ziele zu erreichen. Aus diesem Grund rufen wir Dich, Charles, auf, so bald wie möglich eine Gipfeldiskussion über diese wichtige Frage abzuhalten.“

ZIB-Korrespondent Peter Fritz aus Brüssel

Peter Fritz analysiert die Gründe, warum es zu unterschiedlichen Verteilungen kommt

Niederlande und Malta weisen Vorwürfe zurück

Von den ursprünglich fünf Unterzeichnern des Schreibens – Kroatien stieß erst am Samstag dazu – sind drei (Bulgarien, Tschechien und Lettland) bisher schlechter ausgestiegen als bei einer konsequenten Verteilung der Impfdosen nach der Bevölkerung. Slowenien und Österreich haben so viele Dosen erhalten, wie es ihrer Bevölkerungsanzahl entspricht. Laut Kurz hätten Staaten wie beispielsweise Dänemark und die Niederlande Zugang zu wesentlich mehr Impfstoff pro Kopf als Länder wie Bulgarien und Kroatien.

Kroatien, das in der bisherigen Bilanz mit minus 27 Prozent an drittletzter Stelle liegt, schloss sich dem Schreiben erst am Samstag an. Der kroatische Premier Andrej Plenkovic äußerte am Freitag bei einem Besuch in Brüssel sogar noch Unverständnis für den Vorstoß des Kanzlers. Es komme ganz einfach darauf an, welches Land bei welchem Hersteller bestellt habe, sagte Plenkovic. Diese Meinung dürfte er am Samstag geändert haben.

Die Niederlande und Malta wiesen indes die Vorwürfe aus Wien vehement zurück. Maltas Gesundheitsminister Chris Fearne sagte, die Impfstoffe für Malta seien über den EU-Mechanismus beschafft worden. Das niederländische Gesundheitsministerium erklärte: „Wir halten uns an die Absprachen.“ Die Niederlande nutzten den Spielraum aber „maximal“ aus und übernähmen ein Kontingent, wenn ein anderes Land darauf verzichte. Die Niederlande hatten als letztes EU-Land die Impfkampagne begonnen, holen aber inzwischen auf.

Brüssel bestätigt Erhalt

Deutschland ließ zu Kurz’ Kritik wissen, dass vereinbart sei, die Impfstoffkontingente zwischen Mitgliedstaaten grundsätzlich nach dem Bevölkerungsanteil zu verteilen: „Für den Fall, dass Mitgliedsstaaten die ihnen zustehenden Mengen nicht vollumfänglich abnehmen, wurde ein Verfahren etabliert, das anderen Mitgliedsstaaten den ‚Aufkauf‘ dieser nicht abgenommenen Dosen ermöglicht“, so ein Regierungssprecher in Berlin. Auch dabei würden die Bestellungen nach demselben Verfahren verteilt. „Wenn ein Mitgliedsstaat dabei keine Dosen bestellt, erhält er auch nichts.“

Brüssel reagierte zurückhaltend auf den Vorstoß der sechs Länder. Ein EU-Vertreter bestätigte am Samstag den Eingang des Briefes und erklärte: „Wir beobachten die Lage genau.“ Er verwies zudem auf den Plan für einen EU-Gipfel am 25. und 26. März. Bei dieser Gipfelkonferenz werde auch die Koordinierung der Strategie gegen die Pandemie zur Sprache kommen.

Aus dem Kanzleramt hieß es am Samstag, Kurz habe in der Sache auch mit dem portugiesischen Ministerpräsidenten Antonio Costa gesprochen und „ersucht, eine gemeinsame europäische Lösung zu finden“. Portugal hat derzeit die EU-Ratspräsidentschaft inne.