Eine Passantin mit Schutzmaske geht am Gebäude der EU-Kommission in Brüssel vorbei
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EU-Kommission zu Impfstoff

„Fehler in Brüssel und in Mitgliedsstaaten“

In der anhaltenden Debatte über die Bestellung und Verteilung von Impfstoffen in der EU hat sich nun auch die EU-Kommission zu Wort gemeldet. Vizepräsident Frans Timmermans sagte im Interview mit dem deutschen „Tagesspiegel“, dass bei der Bestellung „sowohl in Brüssel als auch in den Mitgliedsstaaten Fehler gemacht wurden“. Eine gemeinsame Strategie sei trotzdem im Interesse der EU gewesen. Auch Österreichs EU-Kommissar Johannes Hahn (ÖVP) wies Vorwürfe über einen „Impfbasar“ zurück.

Timmermans verwies auf die gemeinsamen Werte. Man müsse sich „vor Augen führen, was für eine Tragödie es ausgelöst hätte, wenn sich einige Mitgliedsstaaten die Vakzine hätten leisten können und andere nicht“. Hätten sich nur die reichsten Staaten Impfstoffe leisten können, „wäre das für alle ein Problem gewesen“. Das hätten auch die vermögenden Staaten begriffen. Eine Bilanz über die Fehler müsse man am Ende der Pandemie ziehen. In der jetzigen Situation gehe es aber erst einmal darum, „dass ganz Europa Impfstoff bekommt“.

Die EU-Kommission hat von den vier in der EU zugelassenen Impfstoffen insgesamt mindestens 1,4 Milliarden Dosen geordert – eigentlich mehr als genug für die rund 450 Millionen Europäer und Europäerinnen. Allerdings kommen die Impfstoffe nicht schnell genug bei den Menschen an – und steht die EU-Kommission seit Längerem in der Kritik, unter anderem weil ihr zögerliches Handeln und strategische Fehler bei der Bestellung vorgeworfen werden.

EU-Kommissionsvize Frans Timmermans
Reuters/Olivier Matthys
Timmermans verteidigte die EU, räumte aber auch Fehler ein

Debatte durch Kurz-Kritik angefacht

Die Debatte wurde Ende der Woche von Bundeskanzler Sebastian Kurz’ (ÖVP) Kritik an der Verteilung der Impfstoffe verstärkt. Kurz hatte gemeinsam mit den Spitzen von fünf anderen EU-Staaten die Bestellpolitik kritisiert und einen Gipfel über eine gerechtere Verteilung der Impfdosen verlangt. Er bemängelte, dass Impfdosen nicht anteilig auf die EU-Staaten aufgeteilt würden und es zusätzliche Lieferverträge durch nicht transparente Verhandlungen in einer EU-Steuerungsgruppe gebe.

Impfstoff-Debatte: EU meldet sich

Der Streit über die Coronavirus-Impfstoffbestellungen geht auch auf EU-Ebene weiter.

Die EU verwies darauf, dass es zu Verschiebungen kommen, könne, wenn nicht alle Länder gemäß ihrem Anteil bestellen. Nicht genutzte Kontingente könnten dann auf andere Mitgliedsstaaten aufgeteilt werden. Auch mehrere Staaten und das Gesundheitsministerium wiesen die von Kurz geäußerte Kritik zurück.

Hahn: Länder nutzten Kontingente nicht aus

Der Haltung der EU-Kommission schloss sich auch Österreichs EU-Kommissar Hahn an. Gegenüber den „Salzburger Nachrichten“ und „Oberösterreichische Nachrichten“ (Montag-Ausgaben) betonte Hahn, der Umstand, dass manche EU-Länder mehr als die ihnen nach der Bevölkerungszahl zustehende Quote an Impfstoffen erhalten hätten, sei „nicht auf einen Willkürakt Brüssels zurückzuführen“. Vielmehr ergebe sich das „aus der Tatsache, dass manche Länder, wie Malta oder Dänemark, ihr Kontingent voll ausgenützt haben, andere Länder, wie Österreich, nicht“. Die im Ausschuss vertretenen Mitgliedsstaaten hätten zudem „alle Beschlüsse mitgetragen.“

Hahn verwies auf die Probleme mit AstraZeneca: „Es ist leider auch so, dass Länder, die vorwiegend auf den wesentlich billigeren Impfstoff AstraZeneca gesetzt haben, nun von den Lieferschwierigkeiten des Herstellers betroffen sind.“ Zu diesen Ländern gehört auch Österreich. Hahn versprach „maximale Anstrengungen“ der EU-Kommission, den am stärksten betroffenen Hotspots in Europa zu helfen.

Kritik von mehreren Staaten

Die von Kurz geäußerte Kritik hatte auch am Sonntag Wellen geschlagen. Das derzeitige Bestellsystem würde „bis zum Sommer riesige Ungleichheiten unter Mitgliedsstaaten schaffen und vertiefen“, schrieben die Regierungschefs von Österreich, Bulgarien, Lettland, Slowenien und Tschechien laut dpa an den EU-Ratspräsidenten Charles Michel und die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Kroatien schloss sich dem Vorstoß am Samstag an. Auch der ungarische Premier Viktor Orban sagte im Radio, dass bei der Verteilung der Impfstoffe etwas nicht stimme. Auch würden die über Brüssel bestellen Impfstoffe gar nicht, in geringerer Menge oder verspätet eintreffen, kritisierte Orban. Ungarn setzt auch chinesischen Impfstoff ein.

Laut Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) „steht außer Frage, dass Fehler bei der EU-Impfstoffbeschaffung passiert sind“, wie sie am Sonntag in einer der APA übermittelten Stellungnahme festhielt. „Seit einem Jahr kämpft Europa gemeinsam gegen die Pandemie. Die Erforschung und gemeinschaftliche Beschaffung von Impfstoff war ein Schlüsselmoment in der Bekämpfung von Covid-19 und hat zweifellos gerade für kleine und mittlere Staaten wie Österreich Vorzüge gebracht. Die EU ist ein wichtiger Partner in der gemeinsamen Bekämpfung des Virus. Nichtsdestotrotz müssen wir stetig die Lehren aus der Krise ziehen“, so Edtstadler.

Konflikt in Koalition

Kurz’ Kritik zur Impfstoffbeschaffung wurde am Wochenende auch zum Gegenstand eines Koalitionskonflikts zwischen ÖVP und dem vom grünen Koalitionspartner geführten Gesundheitsministerium. Ines Stilling, Generalsekretärin im Gesundheitsministerium, hatte Samstagfrüh im Ö1-Morgenjournal betont, die Verhandlungen über die Verteilung in der EU seien „ausgewogen und transparent“ gelaufen. Alle Mitgliedsstaaten, also auch Österreich, hätten die Möglichkeit gehabt, freie Vakzinkontingente zu kaufen. Es gebe keine Basarmethoden, so Stilling. Die Impfstoffverteilung sei zudem laufend Thema im Ministerrat, sodass auch das Bundeskanzleramt laufend informiert sei.

ÖVP-Gesundheitssprecherin Gaby Schwarz verlangte daraufhin die Suspendierung Stillings und des schwarzen Spitzenbeamten Clemens Martin Auer. Dieser ist CoV-Sonderbeauftragter im Gesundheitsministerium und stellvertretender Vorsitzender im EU-Lenkungsgremium für die Impfstoffbeschaffung (EU-Steering-Board). Es sei aber laut in der EU für das Thema Zuständige auszuschließen, dass ein hoher Beamter wie Auer von sich aus ein Impfstoffgeschäft in dieser Größenordnung tätige, berichtete der „Standard“ am Samstag.

Es stelle sich insbesondere die Frage, so Schwarz, wie man Verträge habe abschließen können, die dazu geführt hätten, dass andere EU-Länder mehr Impfstoff bekommen würden, und warum die Vereinbarung der EU-Staats- und -Regierungschefs gebrochen worden sei. „Es ist kaum vorstellbar, dass (Gesundheitsminister Rudolf, Grüne Anm.) Anschober darüber im Detail Bescheid wusste. Es gilt aufzuklären, ob er von den zuständigen Beamten des Gesundheitsministeriums getäuscht wurde.“ Anschober ist derzeit krankheitsbedingt nicht im Einsatz. Er will Anfang kommender Woche seine Arbeit wieder voll aufnehmen.

Covid-Sonderbeauftragter Clemens Martin Auer und Gesundheitsminister Rudolf Anschober
APA/Robert Jäger
Die ÖVP fordert die Suspendierung des hochrangigen Beamten Auer (li.) im grün geführten Gesundheitsministerium

Nach Schwarz nahm Kurz via „Österreich“ selbst Stellung und forderte auch auf nationaler Ebene volle Transparenz über Vereinbarungen. „Ich fordere das Ministerium auf, jetzt zu prüfen, wie das passieren konnte. Ich hoffe sehr, dass sich die Beamten an die Vorgaben der Politik gehalten haben.“ Das Gesundheitsministerium müsse die Verträge und alle getätigten Bestellungen offenlegen, damit Klarheit besteht, „ob wir hier wirklich mehr Impfstoff hätten bestellen können“.

Opposition sieht Schuld bei Kurz

Die Rufe nach Suspendierungen sorgten in der Opposition für Irritation. SPÖ-Gesundheitssprecher Philip Kucher warf Kanzler Sebastian Kurz vor, für sein eigenes Impfchaos andere verantwortlich zu machen. Dabei zeige sich einmal mehr: „Wenn Sebastian Kurz mit dem Finger auf andere zeigt, hat er in aller Regel selbst was verbockt.“ Seit dem Sommer 2020 sei die Impfstoffbeschaffung nämlich mindestens neunmal Thema im Ministerrat gewesen, verwies Kucher auf die entsprechenden Protokolle.

Kucher äußerte zudem den Verdacht, das Finanzministerium von Minister Gernot Blümel (ÖVP) habe bei den Impfungen sparen wollen. Das wurde vom Ministerium zurückgewiesen. Im Ministerrat sei klar vereinbart gewesen, so viel Impfstoff wie möglich zu beschaffen, die budgetären Mittel dafür seien gestellt worden. Für 2020 und 2021 stehen laut Finanzressort zusammen 278 Mio. Euro zur Verfügung, davon habe das Gesundheitsressort erst knapp 53 Mio. Euro abgeholt.

Auch FPÖ-Klubchef Herbert Kickl übte entsprechende Kritik an der Regierung. Es sei nicht vorstellbar, dass Kurz nicht informiert gewesen sei. „Ausgerechnet Message-Control-Kanzler Kurz, der zudem von Anfang an in Sachen Corona an eine Art ‚Richtlinienkompetenz‘ für sich reklamiert hat, will nicht über die Beschaffungsvorgänge bei den Impfstoffen informiert gewesen sein? Unglaubwürdiger geht es nicht mehr“, meinte er und ortete einen Ablenkungsversuch.

AstraZeneca sorgt für Irritation

Zu Engpässen in einigen Ländern trägt auch die Verunsicherung wegen des Impfstoffs von AstraZeneca bei. Mehrere Staaten, zuletzt Irland, hatten die Verteilung als Vorsichtsmaßnahme ausgesetzt, nachdem es in einzelnen Fällen zu Blutgerinnseln gekommen war. Die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) erklärte allerdings, dass es keine auffällige Häufung von Thrombosen im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung gebe und dass der Nutzen der Impfung mit dem AstraZeneca-Mittel größer sei als die Risiken. Österreichische Fachleute pflichteten dem am Freitag bei, hierzulande wird das Vakzin auch weiter eingesetzt.

Krankenschwester nimmt eine Dose AstraZeneca
APA/AFP/Miguel Riopa
Die Probleme mit AstraZeneca vertiefen die Impfschwierigkeiten

Ein weiteres Problem ist die Lieferfähigkeit von AstraZeneca. Am Freitag hatte der Konzern erklärt, statt 220 Millionen nur 100 Millionen Dosen bis zur Jahresmitte an die EU-Staaten liefern zu können. Hinsichtlich der Lieferzusagen machte allerdings EU-Industriekommissar Thierry Breton Hoffnung. Breton sagte dem französischen Radiosender Europe 1: „Die gute Nachricht ist, dass, obwohl es Verzögerungen bei AstraZeneca gibt, wir mit unserem Impfprogramm im ersten Quartal nicht in Verzug kommen.“ Denn der Biontech-Partner Pfizer werde für Ausgleich sorgen, da er „viel mehr als geplant“ produzieren und an die EU liefern werde. Man wolle am Zeitplan festhalten.