Das Gemälde „Exodus aus Messolongi“ von Theodoros Vryzakis
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200 Jahre Revolution

Die Wiedererfindung Griechenlands

Vor 200 Jahren hat der griechische Befreiungskrieg begonnen, der wie kein anderer die europäische Öffentlichkeit bewegte und dieser als „Wiedererwachen der Hellenen“ eine ideale Projektionsfläche bot. Den Griechen selbst war die Idee der Kontinuität zur Antike ebenso abstrakt wie die Idee einer Nation auf dem heutigen Staatsgebiet. Sie hatten ganz andere Vorstellungen einer post-osmanischen Existenz.

In die Griechen projizierte das selbstbewusste Bürgertum nicht nur das eigene, von den neoabsolutistischen Regierungen geknebelte Freiheitsstreben. Konservative und Progressive verband die feste Überzeugung, dass diese Revolutionäre einen Sonderstatus besaßen, denn es handelte sich nicht um republikanische oder jakobinische Aufwiegler, sondern um die Nachfahren der antiken Griechen, die sich gegen den Sultan erhoben.

Tausende internationale Brigadisten – idealistische ex-napoleonische Offiziere, überwiegend aber deutsche Romantiker, Republikaner und Nationalisten – machten sich auf, um den Griechen in ihrem Freiheitskampf beizustehen. Auf dem geheiligten Boden Homers und Perikles’ dann der Kulturschock: Nichts war so, wie es sich diese Philhellenen erwartet hatten. Sie gerieten in Chaos, Anarchie, Abweisung, Hunger und Gräuel.

Ölgemälde von Lord Byron in griechischer Tracht
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Der berühmteste philhellenische Brigadist war Lord Byron

Illusion und Wirklichkeit

Weder fanden sie das Bewusstsein einer gemeinsamen Sache vor noch eine funktionierende Armee, sondern Freischärlerbanden, die, wie der Historiker Ioannis Zelepos in seiner „Kleinen Geschichte Griechenlands“ schreibt, „keiner zentralen Leitung unterstanden und deren einziger Zusammenhalt auf der persönlichen und dementsprechend wechselhaften Loyalität der Mannschaft gegenüber ihrem jeweiligen Anführer (…) beruhte, dessen Loyalität gegenüber dem Aufstand in einigen Fällen ebenfalls wechselhaft war“.

Diese im Westen wie vom griechischen Volk romantisierten „Kleften“ (Diebe) glichen weniger Freiheitskämpfern, eher glichen sie „den Warlords im heutigen Somalia, die mit ihren bewaffneten Banden in Pickups von Dorf zu Dorf fahren, um deren Bewohner zu terrorisieren und ihnen Abgaben abzupressen“, so der Wiener Schriftsteller und Kulturwissenschaftler Richard Schuberth, der mit „Lord Byrons letzte Fahrt“ pünktlich zum 200. Jahrestag die erste deutschsprachige Monografie zu diesem historischen Ereignis vorlegt – eine Monografie so spannend wie ein Abenteuerroman.

„Romioi“, „Hellenen“ und „Türken“

Dass etwa ein Fünftel der Bevölkerung Albanisch sprach, ebenso wie viele der „Kleften“, und dass die gebildeten nordgriechischen Händler und Produzenten in den griechischen Communitys Wiens, Leipzigs, Odessas und Livornos größtenteils balkanromanische Aromunen waren, war für die Aufständischen irrelevant, denn diese nannten sich nicht Griechen, sondern „Romioi“ (Römer), was, wie Zelepos betont, „auf die oströmische Kirche zurückverwies und im populären Sprachgebrauch noch bis weit ins 20. Jahrhundert verbreitet war“.

Manto Mavrogenous (Kommandantin des griechischen Unabhängigkeitskrieges)
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Auch Frauen wie die „Seeheldin“ Manto Mavrogenou wirkten am Aufstand mit

Der Historiker Roderick Beaton spricht sogar von einer noch immer vorherrschenden Doppelidentität von „Hellenen“ und „Romioi“: Mit ihrer hellenischen Seite hätten Griechen Anteil an westeuropäischer Kultur, doch die „romäische“ sei die vertrautere, intimere, ältere Seite ihrer Identität, welche sie mit dem Balkan und dem Vorderen Orient verbinde. Ein orthodoxer Albaner oder Bulgare um 1820 war griechischen Orthodoxen Schuberth zufolge sogar „ethnisch“ näher als die griechischen Katholiken der Inseln Syros, Tinos und Chios.

Als „Türken“ wurden alle Muslime bezeichnet, auch wenn sie Griechisch, Albanisch oder Slawisch sprachen. Tatsächlich verstanden Zelepos zufolge viele der aufständischen Griechen ihren Kampf als Glaubenskrieg zwischen Christen und Muslimen. Das sichtbarste Symbol dafür war die Festlegung des Kreuzes als Zeichen des Aufstands, woraus später das Staatswappen und die Staatsflagge Griechenlands hervorgingen. Unter den Osmanen selbst galt „Türke“ als Schimpfwort für anatolische Bauern.

Fehlstart in Rumänien

So planten die Aktivisten der in Odessa gegründeten Geheimgesellschaft „Filiki Eteria“ und ihr Anführer Alexandros Ypsilantis nichts weniger als ein orthodoxes Großreich mit Konstantinopel als Hauptstadt. Ende Februar 1821 wollten sie mit einem Feldzug in die Fürstentümer Moldau und die Walachei im heutigen Rumänien, die sie als griechische Gebiete betrachteten, eine allgemeine Erhebung gegen das „türkische Joch“ entfachen.

Der erhoffte Zulauf blieb jedoch aus. Denn die orthodoxen Bauern hatten dort ihr Lebtag kein türkisches Joch gespürt, sehr wohl aber das der Fanarioten, zu denen auch Ypsilantis gehörte, der griechischen Elite von Konstantinopel, die 150 Jahre lang als osmanische Gouverneure die rumänischen Provinzen ausgebeutet hatten.​ Der Einmarsch der Griechen scheiterte schnell.

Eskalation der Gewalt

Im Gebiet des späteren griechischen Staates hatte der Aufstand am 25. März 1821 – heute griechischer Nationalfeiertag – auf der Peloponnes begonnen. Ihm fielen innerhalb eines halben Jahres 30.000 Juden und Muslime zum Opfer, ein Gewaltausbruch, der mit der Härte der osmanischen Unterdrückung erklärt wurde. Doch gerade auf der Peloponnes lag die Verwaltung am Vorabend des Aufstandes größtenteils in den Händen der christlichen Großgrundbesitzer („Kotzabasides“), und ein allen Griechen gängiges Sprichwort besagte, dass diese am meisten „unter dem Kotzabasis, dem Priester und dem Türken litten, und zwar immer in dieser Reihenfolge“.

Karte zeigt Königreich Griechenland 1832
Grafik: APA/ORF.at

Eine der schlimmsten osmanischen Vergeltungsmaßnahmen erfolgte im April 1822 mit der Ermordung und Versklavung der Einwohner der Insel Chios. Dichter wie Victor Hugo und Adalbert von Chamisso verarbeiteten das Ereignis literarisch, Eugene Delacroix schuf sein bekanntes Gemälde dazu. Chios steht „richtungsweisend für die Entwicklung des griechischen Unabhängigkeitskrieges zu einem europäischen Medienereignis“, schreibt Zelepos.

Anerkennung nur aus Haiti

Eine kleine Schicht westlich gebildeter Intellektueller, für die ein anderer Fanariotenprinz, Alexandros Mavrokordatos, steht, optierten für einen modernen, liberalen Staat, setzten eine der modernsten Verfassungen ihrer Zeit auf und konnten acht Jahre lang, nicht ohne Unterstützung der Händlerkapitäne der Inseln Spetses und Hydra, welche die Marine bildeten, gegen innere Anfechtungen eine provisorische Revolutionsregierung aufrechterhalten.

Außer Haiti erkannte aber kein einziger Staat diese Regierung an. Für die Kabinette des restaurativen Europas, allen voran der Habsburger unter Fürst Metternich, bedeutete der griechische Aufstand wie die italienischen und spanischen liberalen Bewegungen nichts als eine Revolte gegen einen gottgegebenen Souverän, auch wenn dieser im konkreten Fall keinen christlichen Gott hinter sich hatte. Hier zeigte sich sogar der Zar solidarisch mit seinem Erzfeind, Sultan Mahmut II., und hielt sich bei der Unterstützung der Griechen zurück.

Ein Gemälde von Ambroise Garneray zeigt die Seeschlacht von Navarina im Jahr 1827
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Die Seeschlacht von Navarino brachte die Entscheidung

Dividenden der Freiheit

Gar keine schlechte Figur machte der berühmteste philhellenische Brigadist: Lord Byron, erster Popstar der britischen Literatur. Eigentlich als Kommissar eines englischen Kredits nach Griechenland gekommen, versuchte ihn Mavrokordatos auch mit militärischen Aufgaben PR-mäßig in Szene zu setzen. Die mit der osmanischen Besatzung von Lepanto vereinbarte Eroberung der Festung (inklusive Scheingefecht) scheiterte am schlechten Wetter, dem schließlich auch Byron im Mai 1824 erlag. Als die Nachricht seines Todes die Londoner Börse erreichte, fiel der Wert der Griechenland-Anleihe auf 54 Prozent.

Ohnehin hatte aber nur ein Bruchteil des Kredits Griechenland erreicht, das mit dem befreiten Boden dafür haftete, denn einige Aktivisten des London Greek Committee belohnten sich selbst mit fürstlichen Provisionen. „Es geht hier weder um Philanthropie noch um Patriotismus noch um die Unabhängigkeit, es geht ums Interesse der Anleger“, drückte es der Hauptprofiteur des Kredits, John Bowring, aus, der Jahre später mit der Bombardierung Nankings den Zweiten Opiumkrieg vom Zaun brechen sollte. Die griechische Regierung musste den Schuldendienst für die Anleihe schließlich einstellen – der Staat war noch vor seiner eigenen Unabhängigkeit bankrott.

Universitätsgebäude in der griechischen Hauptstadt Athen
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König Otto I. ließ Athen zur Residenzstadt mit klassizistischem Erscheinungsbild ausbauen (Bild: Universität)

Militärische Wendepunkte

Im Februar 1825 errichtete ein ägyptisch-osmanisches Expeditionskorps einen Brückenkopf bei der Bucht von Navarino im Südwesten der Peloponnes und machte sich an die Rückeroberung der Halbinsel. Ihm hatten die Griechen kaum etwas entgegenzusetzen. Nach dem Fall der Stadt Messolongi, bei dem ein Großteil der griechischen Verteidiger bei einem aussichtslosen Gegenangriff auf die Belagerer ums Leben oder in die Sklaverei kam und sich der Rest selbst in die Luft sprengte, war das befreite Gebiet in wenigen Jahren auf einen kleinen Landstrich zwischen Korinth und der damaligen griechischen Hauptstadt Nafplion zusammengeschrumpft.

Cover des Buches „Lord Byrons letzte Fahrt“ von Richard Schuberth
Wallenstein Verlag

Buchhinweise

  • Richard Schuberth: Lord Byrons letzte Fahrt. Wallstein, 448 Seiten, 30,80 Euro.
  • Ioannis Zelepos: Kleine Geschichte Griechenlands. C. H. Beck, 256 Seiten, 15,40 Euro.
  • Roderick Beaton: Greece: Biography of a Modern Nation. Penguin, 600 Seiten, 14,99 Euro.

Die Sache schien verloren, doch 1828 wendete sich unverhofft das Blatt. Vor Navarino kreuzte die alliierte englisch-französisch-russische Mittelmeer-Flotte, die das Mandat neutraler Mediation hatte, vergleichbar einer UNO-Mission. Ein Schiff der ägyptisch-osmanischen Flotte eröffnete das Feuer und löste damit die letzte mit Segelschiffen gefochtene Seeschlacht der Geschichte aus. Nach wenigen Stunden war sie vernichtet. Russland erklärte dem Sultan den Krieg. Dieser musste einlenken und die griechische Unabhängigkeit akzeptieren, die Griechen ihrerseits einen König aus einem europäischen Fürstenhaus akzeptieren.

München in Athen

Dem glühenden bayrischen Philhellenen Ludwig I. gelang es, seinen minderjährigen Sohn Otto auf den griechischen Thron zu hieven. Während seiner Regentschaft stellte sich Otto zunächst taub gegenüber dem Ruf nach einer Verfassung und wurde zum Spielball oligarchischer Interessen. Korruption, die Unterwanderung von Heer und Staat durch „Warlords“ sowie Armut und Unterdrückung aber verschwanden zumindest in der neu ernannten Hauptstadt Athen, das damals bloß ein spärlich besiedeltes Nest war, hinter einer neoklassizistischen Fassade.

Es waren neben westlich gebildeten Griechen die Bayern, die den am antiken Erbe desinteressierten „Romioi“ das Hellenentum aufdrängten. Hatte sich Ottos Vater mit Hilfe namhafter Architekten bemüht, ein „Athen an der Isar“ zu schaffen, so versuchte Otto, das neo-antike München nach Athen zu transplantieren. Es dauerte noch gute 100 Jahre, bis aus „Romioi“ Griechen wurden.

„Die Geburt der griechischen Nation“, resümiert Schuberth, „war ein Kaiserschnitt ohne Baby. An dessen Stelle barg man eine antike Statue, die in München angefertigt wurde, und vergaß die blutige Wunde zu vernähen.“