Schrank mit alten Büchern in den vatikanischen Archiven
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Vatikanisches Archiv

Die Legende vom „Giftschrank“

Man kennt es aus Dan Browns Büchern: das vatikanische Archiv – eine Fundgrube, von den Prozessakten Galileo Galileis bis zum Brief Marie Antoinettes aus der Todeszelle. Vor einem Jahr wurde zudem eine Abteilung geöffnet, deren Erforschung neues Licht auf die Rolle des Vatikans während des Zweiten Weltkriegs werfen soll. Eine langjährige Mitarbeiterin erklärt den „Giftschrank“-Mythos des Archivs.

Im Archiv findet sich der verzweifelte Hilferuf eines jüdischen Flüchtlings, der in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft mit seiner Familie von Berlin über Polen nach Frankreich fliehen musste. Die Schweizer Behörden verweigerten der Familie ein Visum. Also schrieb Martin Wachskerz Papst Pius XII.: „Es ist aus höchster Not und Verzweiflung, in der ich mich an seine Exzellenz wende. Retten Sie uns. Haben Sie Erbarmen.“

Der Bittbrief um Intervention erreichte den Vatikan, und ein Gesandter suchte das Gespräch mit der Schweiz – jedoch ohne Erfolg. Der Kirchenhistoriker Hubert Wolf fand das Schreiben aus dem Jahr 1942 nun im Vatikanischen Archiv. Von rund 20.000 solcher Bittbriefe geht Wolf aus, wie er kürzlich dem Schweizer Rundfunk (SRF) erzählte.

Vatikanisches Archiv: Mythos und Realität

Viele Mythen ranken sich um das Vatikanische Archiv als „Giftschrank“. Vor einem Jahr wurde eine Abteilung geöffnet, die Licht auf die Rolle des Vatikans im Zweiten Weltkrieg werfen soll.

Der Mythos vom „Giftschrank“

Was mit der Familie und vielen anderen Hilfesuchenden geschah, will der Historiker nun erforschen. Die Briefe sind Teil der Aktenbestände aus dem Pontifikat von Papst Pius XII. (1939–1958), die vor einem Jahr geöffnet wurden. Forscherinnen und Forscher erhoffen sich nach langem Warten neue Einblicke in die Rolle des Vatikans und des Papstes im Zweiten Weltkrieg.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt forschen im Vatikanischen Archiv und machen ihre Funde öffentlich. Dennoch eignet sich das Archiv – mit Beständen, die teilweise unter der Erde lagern – hervorragend für Legenden und Mythen. Der Gedanke, die Kirche verberge etwas, gewissermaßen in einem „Giftschrank“, sei aber komplett falsch, erzählt Christine Maria Grafinger, Historikerin und ehemalige Leiterin der Handschriftenabteilung in der Vatikanischen Bibliothek, gegenüber ORF.at.

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Bücher im Vatikanischen Archiv
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Zusammen nehmen die Dokumente im Vatikanischen Archiv eine Länge von 85 Kilometern ein
Brief von Heinrich VIII. an den Papst mit der Bitte um Annullierung seiner Ehe
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Die Bitte von Heinrich VIII. um Annullierung seiner Ehe an den Papst – vor einigen Jahren bei einer Ausstellung in Rom zu sehen
Prozessakten von Galileo Galilei im Vatikanischen Archiv
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Auch die Prozessakten von Galileo Galilei befinden sich im Vatikanischen Archiv
Schriftrollen mit Befragungen des Templerordens im Vatikanischen Archiv
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Die Befragungen des Templerordens auf einer 60 Meter langen Rolle
Gänge mir Ordnern im Vatikanischen Archiv
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Zugang in die Magazine haben nur wenige Menschen
Papst Pius XII an einer Schreibmaschine
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Die Akten aus dem Pontifikat von Papst Pius XII. wurden vergangenes Jahr geöffnet

Verhör über „sodomitische Gepflogenheiten“

Der Mythos sei aber auch hausgemacht. Er rühre von einer schlechten Übersetzung des lateinischen Begriffs „secretum“ her. Was eigentlich ein Verweis auf das „private“ Archiv des Papstes gewesen sei, sei zum geheimen Archiv umgedeutet worden, sagt Grafinger. Gerüchte und Verschwörungstheorien über Dokumente, die im Verborgenen bleiben sollen, waren programmiert. Lange verborgen, aber nicht versteckt blieb allerdings das Protokoll eines Verhörs des Großmeisters des Templerordens durch päpstliche Gesandte aus dem Jahr 1312.

Es wurde erst 2001 von einer italienischen Forscherin entdeckt – ein spektakulärer Überraschungsfund aus der jüngeren Zeit, sagt Grafinger. Im Protokoll des Verhörs sei „wortwörtlich“ nachzulesen, wie sich der Großmeister etwa gegen den abstrusen Vorwurf wehrte, die Templer hätten „sodomitische Gepflogenheiten“ bei der Aufnahme von Neukandidaten – zum Beispiel, dass der neue Kandidat das „Hinterteil des Obersten“ küssen sollte, so Grafinger. In diesem Zusammenhang bedeutete sodomitisch nicht Verkehr mit Tieren, sondern anale Sexpraktiken. Die Vorwürfe seien erhoben worden, weil sich der französische König Philipp der Schöne „das Geld der Templer aneignen wollte“ und sie daher in den berüchtigten Templerprozessen verfolgte.

Maria Grafinger (Vatikanisches Archiv)
ORF
Maria Grafinger war 33 Jahre lang in der Vatikanischen Bibliothek tätig und kennt auch das Vatikanische Archiv gut

Templer doch keine Ketzer

Hunderte Jahre war man davon ausgegangen, die Tempelritter seien in den Augen der Kirche Ketzer gewesen, weil Papst Clemens V. den vom König verfolgten Orden aufgelöst hatte. Doch das Dokument zeigt: Der Papst erteilte den Templern die Absolution. Sie hatten den Vorwurf der Ketzerei also widerlegen können. Die umfangreichen Prozessakten gegen die Templer finden sich auch im Vatikanischen Archiv auf einer aufsehenerregenden Pergamentrolle: Sie ist 60 Meter lang.

Auf die Spur der verbotenen Bücher können sich Forschende im Archiv der Glaubenskongregation machen, das erst 1998 unter ihrem damaligen Präfekten Josef Ratzinger geöffnet wurde. Die Dokumente dort zeichnen die konkreten Prozesse nach, die zur Indizierung eines Buches führten – etwa Gutachten, in denen genau herausgearbeitet wurde, „was an dem Buch eine Irrlehre ist, welche These, welcher Satz“, erklärt Grafinger. Nach der Öffnung habe es „einen großen Run“ auf die Akten gegeben.

Auf der Liste der verbotenen Bücher fand sich auch der italienische Gelehrte Galileo Galilei wegen seines Buches „Dialog“ über das ptolemäische und das kopernikanische Weltsystem.

Brief von Frankreichs Königin Marie Antoinette
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Frankreichs Königin Marie Antoinette schrieb dem Papst aus der Todeszelle

Galileo und die Inquisition

Die römische Inquisition warf Galilei 1632/33 vor, er lehre das kopernikanischen Weltsystem, also dass sich die Erde um die Sonne dreht. Galilei musste erklären, er „schwöre ab“, „verfluche und verwünsche mit aufrichtigem Herzen und ungeheucheltem Glauben besagte Irrtümer und Ketzereien“.

Im Vatikanischen Archiv „kann man diese ganzen Befragungen, die Korrespondenz, die Galilei mit der Kongregation geführt hat, nachlesen“, so Grafinger. Galilei wurde zu Kerkerhaft verurteilt, die aber in Hausarrest umgewandelt wurde. Erst 1992 wurde der Gelehrte offiziell von der katholischen Kirche rehabilitiert.

Briefe wortwörtlich abgeschrieben

Das 1612 von Papst Paul V. gegründete Vatikanische Archiv ist eines der größten Archive der Welt. Briefe, Handschriften, kirchliche Gerichtsurteile, Bannbullen und Konzilsschriften – zusammen bringen sie es auf rund 85 Kilometer Länge und dokumentieren Hunderte Jahre Religions-, Kultur- und Politikgeschichte. Die ältesten Dokumente stammen aus dem 8. Jahrhundert.

Im Archiv befinden sich „sämtliche Schreiben, die die Kurie verlassen haben, bzw. Schreiben, die an die Kurie gerichtet worden sind“, sagt Grafinger. Die Kirche erwies sich als vorausschauend, so habe man im Mittelalter „jedes Dokument, dass die Kanzlei verlassen hat, wortwörtlich abgeschrieben.“

Briefe von Dschingis Khan und Heinrich VIII.

Daher könne man heute noch „die Geschichte rekonstruieren“, obwohl der Großteil der Dokumente beim Empfänger „durch Brände oder Kriege“ verloren ging. Ohne die Aufzeichnung des Vatikans wüsste man zum Beispiel gar nicht, dass Papst Leo X. von Martin Luther gefordert hatte, 41 seiner 95 Thesen zu widerrufen. Luther habe diese Schreiben ja „angeblich verbrannt“, so Grafinger.

Seit 1881 ist das Archiv für Forscherinnen und Forscher geöffnet. Sie haben damit Zugang zu Briefen von Persönlichkeiten wie Dschingis Khan, Voltaire und Abraham Lincoln. Auch der Brief mit der Bitte um die Annullierung der Ehe von Heinrich VIII. und Katharina von Aragon, damit der König Anne Boleyn heiraten konnte, unterschrieben von allen 83 Parlamentsabgeordneten Englands, befindet sich im Vatikanischen Archiv.

Da der Papst sich weigerte, der Bitte nachzukommen, spaltete Heinrich VIII. sich von der Kirche ab und gründete die anglikanische Kirche. Lange währte die Liebe zu Boleyn aber nicht. Nur wenige Jahre später ließ er seine neue Frau hinrichten.

Schreiben von Todgeweihten

In der Geschichte wandten sich immer wieder Menschen im Angesicht des Todes an den Papst. Im Jahr 1586, wenige Monate bevor die katholische Maria Stuart von ihrer Rivalin, der anglikanischen Elizabeth I. hingerichtet wurde, schrieb sie Papst Sixtus V. einen herzzerreißenden Brief, in dem sie ihm mitteilte, dass sie bald sterben werde. Ein Brief aus der Todeszelle erreichte den Vatikan auch von Frankreichs Königin Marie Antoinette. Sie richtete, ihre baldige öffentliche Hinrichtung erwartend, ein Bittschreiben um Sündenerlass an den Papst.