Mostar im Winter
Reuters/Dado Ruvic
Biden und Schmidt

Chance und Gefahr für Bosnien-Herzegowina

Bosnien-Herzegowina ist historisch, aufgrund der Diaspora und wirtschaftlich eng mit Österreich verflochten. Das Potenzial ist groß, doch das kleine Land leidet auch 25 Jahre nach Ende des Bosnien-Kriegs weiter unter zahlreichen Problemen. In den nächsten Monaten könnten sich aufgrund geänderter internationaler Konstellationen neue Chancen für das Land auftun, so Majda Ruge, Expertin von der Denkfabrik European Council of Foreign Relations (ECFR), im Interview mit ORF.at. Sie warnt aber zugleich vor einer drohenden Verschlechterung.

Bosnien-Herzegowina (BIH) wird von den ethno-nationalistischen Parteien der drei Volksgruppen – Bosniaken, Kroaten und Serben – beherrscht. Kritiker sprechen von einem mafiös-kleptokratischen System. Das Dayton-Friedensabkommen schuf 1995 eines der kompliziertesten politischen Systeme weltweit, das die Nationalisten vor allem zur gegenseitigen Blockade nützen. Die Bevölkerung – 3,3 Millionen Menschen – ist in dem System, das bis ins Kleinste möglichst alles ethnisch trennt, gefangen. Für die EU ist es mitten in der Südflanke Europas – vor allem neben dem Kosovo-Streit – ein geopolitischer Schwachpunkt.

Nach Jahren weitgehenden Stillstands, in denen die EU und die USA nicht an einem gemeinsamen Strang zogen, um bei der Bewältigung der drängendsten Probleme des Landes zu helfen, haben sich die Voraussetzungen geändert. Mit Joe Biden gibt es nun nicht nur einen US-Präsidenten, der Bosnien-Herzegowina persönlich sehr gut kennt. Bidens Regierung sei vor allem auch daran interessiert, Kleptokratie zu bekämpfen und Rechtsstaatlichkeit und Institutionen wieder zu stärken, so die „gute Nachricht“, betonte Ruge. Die schlechte Nachricht sei, dass Biden ganz andere Prioritäten habe, „dass Bosnien nicht einmal ansatzweise jene Aufmerksamkeit bekommt, die nötig wäre“.

Positiv sei hingegen, dass nun mit Samantha Power und hochrangigen Ex-Mitarbeitern von Richard Holbrooke, der das Dayton-Abkommen aushandelte, „Veteranen des Bosnien-Konflikts“ wieder in der US-Regierung tätig seien.

Unterzeichnung des Dayton Agreements 1995 in Paris
Gemeinfrei
Das Dayton-Abkommen wurde in Paris unterzeichnet. Es beendete den Bosnien-Krieg, die damals fixierten Regeln behindern aber das Funktionieren des Staates.

Deutschland zeigt auf

Zugleich habe Deutschland mit der Nominierung des Ex-Agrarministers Christian Schmidt (CSU) für den Posten des Hohen Repräsentanten, der über die Umsetzung und Einhaltung des Dayton-Abkommens wacht, gezeigt, dass man dem Thema wieder mehr Bedeutung beimessen wolle. Schmidt soll den Österreicher Valentin Inzko ablösen, der seit elf Jahren die Funktion innehat. Beides zusammen eröffne „die Chance für Fortschritte“ in Bosnien-Herzegowina. Ruge blieb freilich vorsichtig: Man müsse die nächsten Monate abwarten, dann sehe man vermutlich klarer, ob Bewegung in die Sache kommt.

Majda Ruge
Majda Ruge
ECFR-Expertin Majda Ruge

Zentrale Positionen nicht besetzt

Die Expertin verwies etwa darauf, dass die für die Region direkt zuständigen Positionen im US-Außenministerium bisher nicht besetzt wurden und man daher nicht sagen könne, welche Positionen mit wie viel Umsetzungswillen die Biden-Regierung einnehmen werde. Und bei Deutschland müsse man abwarten, ob der Einsatz nur der Ernennung des deutschen Kandidaten zum Hohen Repräsentanten gelte, oder es auch nachher entsprechend starke Unterstützung aus Berlin in der Sache gebe.

Österreichs Außenministerium attestierte Schmidt gegenüber ORF.at „gute Voraussetzungen“ und verwies auf das für die Bestellung zuständige Gremium (Vertreter von 55 Staaten und internationalen Organisationen im Friedensimplementierungsrat, kurz PIC). Zugleich lobte das Außenministerium Inzkos Amtszeit als „hervorragend“. In Bosnien wurde Inzko dagegen für seine zurückhaltende Art – er hätte eigentlich weitgehende, freilich ebenfalls umstrittene, Durchgriffsrechte – immer wieder scharf kritisiert. Uneinigkeit und fehlende Entschlossenheit des Westens engten aber jedenfalls Inzkos Spielraum ein, wie auch Ruge betonte.

Das Amt des Hohen Repräsentanten habe in den letzten zehn Jahren mehr wie ein „Whistleblower“ agiert, aber das sei durchaus relevant gewesen, so Ruge. Sollte Schmidt wieder stärker den Takt vorgeben wollen, so habe sie einen „Erziehungstipp“ parat: Das sei nur sinnvoll, wenn er auch die nötigen Möglichkeiten haben, ein Zuwiderhandeln zu bestrafen. Denn die Grenzen würden jedenfalls ausgetestet werden – das sei so wie bei Kindern, so Ruge.

Büro des Hohen Vertreters in Bosnien
Der Sitz des Hohen Repräsentanten in Sarajewo. Allein ist Bosnien noch nicht lebensfähig.

Ohne USA geht nichts

Klar ist aus Ruges Sicht, dass ein Zurückdrängen der Korruption und der absoluten Macht der nationalistischen Ethno-Parteien in allen Volksgruppen nur gelingen kann, wenn EU und USA eng zusammenarbeiten. Die EU habe historisch betrachtet alleine nie etwas auf dem Balkan bewegen können, sondern nur mit entsprechender US-Rückendeckung, Militäreinsätze inklusive. Und es brauche die Androhung und Verhängung echter Sanktionen – das Einfrieren von Vermögen im Ausland und Einreise- und Visumsbeschränkungen, um mittel- und langfristig mafiöse Strukturen und Korruption in der Politik einzudämmen.

Auch ohne Russland, das aus europäischer Sicht den Balkan dazu nützt, um die Union geopolitisch zu schwächen, ist laut Ruge ein Fortschritt möglich. Man müsse Moskau nicht an Bord holen, müsse aber sicherstellen, dass Moskau die internationalen Missionen in Bosnien nicht im UNO-Sicherheitsrat blockiere. Abzuwarten bleibt, ob hier Bosnien-Herzegowina einer von mehreren Bällen im diplomatisch komplizierten Interessenabgleich des Westens mit Russland sein wird.

Wahlrechtsreform als mögliche Gefahr

Ruge warnte zugleich vor einer eklatanten Verschlechterung angesichts von Plänen für eine vor allem von der kroatisch-nationalistischen HDZ angepeilten Wahlrechtsreform. Im Oktober nächsten Jahres stehen landesweite Wahlen an. Die EU verhandelt laut Ruge mit den nationalistischen Parteien bereits über eine mögliche Wahlrechtsreform in deren Sinne. Die nationalistische Serben-Partei von Milorad Dodik unterstützt naturgemäß die HDZ in der Frage, da eine solche Reform den ohnehin extrem schwachen Zentralstaat noch dysfunktionaler machen würde.

Ruge warnt davor, dass damit der Fehler der Wahlrechtsreform in der bosnischen Stadt Mostar vom Vorjahr auf gesamtstaatlicher Ebene wiederholt werden würde – nämlich die Anpassung der Wahlbezirke an die ethnische Verteilung der Bevölkerung. Ergebnis sei gewesen, dass es nach mehr als einem Jahrzehnt im vergangenen Herbst zwar endlich eine Kommunalwahl gab – dabei aber die nationalistischen Parteien noch weiter gestärkt wurden. EU und USA hätten das zu einem Erfolg erklärt, obwohl es eigentlich zu Rückschritten führen könnte, „wenn die Stadt in kleinere Einheiten aufgeteilt wird, die von den nationalistischen Parteien kontrolliert würden“.

Gemeinsamer Appell von EU, USA und OSZE

Tatsächlich sprachen sich der österreichische EU-Botschafter Johann Sattler, der US-Botschafter Eric Nelson und die Leiterin der OSZE-Mission Kathleen Kavalec Mitte Februar in einem offenen Brief für eine Wahlrechtsreform aus. Explizit erwähnt sind darin allerdings nur Maßnahmen gegen Wahlbetrug. Veränderungen würden von der Bereitschaft der bosnischen Parteien, Verantwortung zu übernehmen,
abhängen, hieß es sehr allgemein weiters.

Menschen mit Maske in Sarajevo
APA/AFP/Elvis Barukcic
Bis heute sind in Bosnien, das von der CoV-Pandemie besonders getroffen ist, die Erinnerungen an den Krieg allgegenwärtig.

„Sehnsucht der EU, Erfolg zu verkünden“

Ruge wirft den USA und der EU vor, „den korrupten nationalistischen Eliten erlaubt zu haben, den Diskurs zu dominieren und die Agenda vorzugeben“. In der EU sei das wohl teils auf entsprechenden Einfluss der kroatischen Schwesterpartei im EU-Mitgliedsland Kroatien, der regierenden HDZ, zurückzuführen. Generell sei die EU aber vor allem „ein Opfer ihres sehr bürokratischen Entscheidungsfindungsprozesses und ihrer Sehnsucht, einen Erfolg zu verkünden, ungeachtet des Inhalts des Deals“.

Dabei wären die 14 Bedingungen der Europäischen Kommission der „perfekte Ansatz für die Verbesserung der Situation in Bosnien“, so Ruge. Aber die EU setze „weder die richtigen Prioritäten noch wirft sie ihr Gewicht in die Waagschale“, um deren Umsetzung einzufordern.

Die Änderungen sollen offenbar ohne Eingriffe in das Friedensabkommen von Dayton vorgenommen werden, da Änderungen der Verfassung derzeit kaum möglich sind. Dayton beendete Ende 1995 den dreieinhalbjährigen grausamen ethnischen Krieg zwischen Bosniaken, Serben und Kroaten in Bosnien-Herzegowina. Grausame Tiefpunkte des Kriegs waren die Belagerung von Sarajewo und ethnische Vertreibungen, allen voran das Massaker von Srebrenica. Das Ergebnis war eine De-facto-Teilung des Landes, mit mehr schlecht als recht funktionierenden übergreifenden Bundesinstitutionen.

Eines der kompliziertesten politischen Systeme

Das politische System gilt als eines der kompliziertesten weltweit. In einem Land mit einer Bevölkerung von rund 3,3 Millionen gibt es 13 Parlamente, 14 Regierungen und mehr als 130 Ministerposten – ethnisch und regional vielfach strikt getrennt. Das politische System verschlingt große Teile des Budgets. Das im Dayton-Abkommen geschaffene System war nie längerfristig gedacht – die nationalistischen Parteien, deren Macht es zementiert, verhinderten freilich bisher stets Änderungen. Und EU und USA haben seit Jahren ebenfalls keine echten Ambitionen erkennen lassen.

Der EU-Beitritt gilt – in der Theorie – als Antrieb für möglichen Wandel. Doch selbst ein Kandidatenstatus ist in weiter Ferne. Die Arbeitslosigkeit ist extrem hoch, bei den unter 25-Jährigen liegt sie weit jenseits der 30 Prozent. Vor allem junge Menschen verlassen deshalb das Land weiterhin in Scharen. Mehr als 40 Prozent der Bevölkerung leben laut Weltbank im Ausland. Allein zwischen den Bevölkerungszählungen 2013 und 2019 verließen mehr als 200.000 Menschen das Land.

„Korrupte Eliten als Teil des Problems sehen“

Viele Vertreterinnen und Vertreter der drei nationalistischen Parteien seien „hochkorrupt und hätten Verbindungen zum Organisierten Verbrechen“. Das Dayton-Abkommen habe es ihnen erlaubt, „das politische System so zu manipulieren, dass Parteien und Organisationen, die sich für Transparenz und Rechtsstaatlichkeit einsetzen“, keine Chance hätten.

Es sei daher ein „maßgeschneiderter, strategischer Anstoß von außen nötig“, um eine Änderung im politischen System Bosnien-Herzegowinas zu erreichen. Voraussetzung dafür ist nach Ansicht der Expertin aber, dass die EU und die USA „die Motive der korrupten Eliten verstehen – und dass sie diese Akteure als Teil des Problems und nicht als Teil der Lösung behandeln“.