Demo von Sexarbeiterinnen in den Niederlanden
ORF/Wout Kichler
Niederlande

Prostituierte auf den Barrikaden

Mit Bildern von schweren Krawallen bei Coronavirus-Protesten sind die Niederlande zuletzt in die Schlagzeilen geraten. Der Mythos vom liberalen Musterland wankt. Vor allem die Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter fühlen sich benachteiligt. Während Tattoo-Studios, Friseur- und Massagesalons Kunden empfangen dürfen, müssen sie weiterhin pausieren.

In Den Haag versammelten sich Anfang März Dutzende Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter vor dem niederländischen Parlament. Im vergangenen Jahr durften sie vorübergehend arbeiten, als die Infektionszahlen zurückgingen. Im Winter verschlechterte sich jedoch die Lage. Seither ist Sexarbeit wieder verboten – im Gegensatz zu allen anderen körpernahen Dienstleistungen.

Ein Großteil der Prostituierten bekommt keine staatliche Unterstützung. Nur die Selbstständigen in der Branche haben Anspruch auf Nothilfe. Insbesondere jene, die illegal im Sexgewerbe arbeiten, fallen durch das soziale Sicherheitsnetz und geraten in finanzielle Schwierigkeiten. Auch wer in Sexclubs oder Bordellen arbeitet, erhält in der Regel nichts.

Niederlande: Prostitution in Bedrängnis

In den Niederlanden geraten zahlreiche Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter in Bedrängnis – vor allem, aber nicht nur wegen der Coronavirus-Krise.

Wachsendes Unverständnis

Die Betroffenen führen die Benachteiligung gegenüber anderen Berufsgruppen auf einen Rückgang der Liberalität in den Niederlanden zurück. Die 30-jährige Moira Mona etwa arbeitete vor ihrer Ausbildung zur Domina mehr als 40 Stunden pro Woche in einem großen Technologieunternehmen. Ihren alten Job vermisst sie nicht, hat aber als Domina täglich mit Vorurteilen zu kämpfen. Ihre Freunde verstünden nicht, warum sie den gut bezahlten Bürojob aufgegeben habe, sagt sie.

TV-Hinweis

Eine längere Reportage zum Thema und mehr rund um die Niederlande-Wahl am Mittwochabend um 22.30 Uhr in ORF2 im „Weltjournal“

Ständig erhalte sie gut gemeinte Ratschläge: „Wenn ich meinen Freunden erzähle, dass ich einen schlechten Tag in der Arbeit hatte, dann fragen sie, warum ich nicht den Job wechsle.“ Früher sei das noch anders gewesen, erzählt eine ältere Kollegin: „In den 70ern konnte man auf einer Geburtstagsparty erzählen, dass man hinter den Fenstern arbeitet. Dann hieß es: ‚Oh wow, spannend‘. Das wäre heute undenkbar.“

Hoch besteuertes Gewerbe

Prostitution ist in den Niederlanden seit mehr als 20 Jahren legal und hoch besteuert. Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter müssen Einkommenssteuer bezahlen und sich bei der Handelskammer registrieren. Rund 25.000 Menschen sollen in den Niederlanden im Rotlichtgewerbe tätig sein. Drei Viertel von ihnen kommen aus Ländern mit niedrigen Gehältern, besonders aus Osteuropa.

In den Niederlanden gilt eine Abstandsregel von 1,5 Metern – verboten sind die Umarmung zur Begrüßung, das Händeschütteln, das gewohnte Dicht-an-Dicht in vollen Bars. Für die Sexarbeiter und Sexarbeiterinnen, die auf Körperkontakt mit Fremden angewiesen sind, ist die Regel besonders heikel.

Fotostrecke mit 6 Bildern

Demo von Sexarbeiterinnen in den Niederlanden
ORF/Wout Kichler
Protest – auch gegen den schlechten Ruf in der Gesellschaft
Demo von Sexarbeiterinnen in den Niederlanden
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Auch Feministinnen solidarisieren sich mit den Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern
Demo von Sexarbeiterinnen in den Niederlanden
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Mit Humor wird gegen die unterschiedliche Bewertung der körpernahen Dienste protestiert
Demo von Sexarbeiterinnen in den Niederlanden
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Die Proteste werden in den Niederländischen Medien breit berichtet und diskutiert
Leere Touristenmeile in Amsterdam
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Die sonst vollen Touristenstraßen sind menschenleer
Demo von Sexarbeiterinnen in den Niederlanden
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Spezielle Unterstützung aufgrund der Coronaviruskrise gibt es nur für offiziell angemeldete, selbständige Prostituierte.

„Spezielle Art des Jobs“

Der liberale Ministerpräsident Mark Rutte, der sonst für möglichst geringe Einmischungen des Staates plädiert, erklärte die Entscheidung, Sexarbeit weiterhin zu verbieten, mit der „speziellen Art des Jobs“. Die angebotene Dienstleistung würde „engen Körperkontakt und die Möglichkeit zur Virusübertragung“ begünstigen. Die Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter sind jedoch der Meinung, dass sie sich mindestens so gut schützen können wie Angestellte im Friseurgewerbe.

Moira Mona: „Ich habe etwa einen Wollpullover-Fetischisten, aber auch Medizinfetische sind sehr beliebt. Das Tragen von Masken ist also überhaupt kein Problem.“ Andere Betroffene haben ihre Dienste ins Internet verlegt. „Göttin Melissa“: „Die Webcam-Arbeit macht keinen Spaß, aber ich kann zumindest die Miete bezahlen.“ Sie hoffe aber, dennoch schon bald wieder regulär arbeiten zu dürfen.

Volles Rotlichtviertel in Amsterdam
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Letzten Sommer herrschte – zwischen den Lockdowns – in Amsterdam noch Trubel, und Prostituierte durften ihre Dienste anbieten

Aus für altes Rotlichtviertel?

Das Amsterdamer Viertel De Wallen, der Rotlichtbezirk, ist weltberühmt und eine Touristenattraktion, aber seit Monaten fast menschenleer. Normalerweise bieten dort die Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter hinter den berühmten, rot beleuchteten Fenstern ihre Dienste an. Vor der Coronavirus-Krise besuchten das Viertel rund 35.000 Besucherinnen und Besucher pro Tag. Geht es nach den Anrainern, sollen die Straßen aber auch nach der Krise leer bleiben. Sie sind die Touristenmassen leid.

Unterstützung erhält die Bewohnerschaft von De Wallen von der grünen Bürgermeisterin Femke Halsema. Sie will das Rotlichtviertel an den Stadtrand übersiedeln. Ein neu zu errichtendes Gebäude soll den Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern mehr Sicherheit bieten und die Bedürfnisse der Lokalbevölkerung befriedigen. Die rund 300 Rotlichtfenster in der Innenstadt sollen nach und nach geschlossen werden.

Coffeeshops stehen zur Debatte

Gleichzeitig will die Bürgermeisterin einen Großteil der berühmten Coffeeshops verbieten, in denen Cannabis legal gekauft und konsumiert werden darf. Künftig soll dieses Privileg nur noch Einheimischen erlaubt sein. Touristen sollen der Museen und des schönen Stadtbilds wegen kommen, nicht für Partys und Sex. Im vergangenen Jahr präsentierte Bürgermeisterin Halsema eine Studie, laut der ohnehin nur 33 Prozent der Befragen Amsterdam aufgrund der Coffeeshops besuchen.

Tolerantes Image

Die Niederlande stehen nach wir vor in dem Ruf, toleranter zu sein als ihre europäischen Nachbarn. Daran kann auch die coronavirusbedingte Einschränkung von Sexarbeit und das geplante Marihuana-Verbot für Touristen nichts ändern. Während in vielen Ländern noch darüber gestritten wird, ob homosexuelle Paare heiraten dürfen oder nicht, erlauben die Niederlande Ehen zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren seit 20 Jahren.

97 Prozent der Niederländer sind der Meinung, dass Schwule, Lesben und bisexuelle Menschen die gleichen Rechte wie Heterosexuelle haben sollten. In Österreich liegt dieser Wert bei 70 Prozent. Sogar die rechtspopulistische und ausländerfeindliche Partei für die Freiheit (PVV) von Geert Wilders ist für eine Gleichstellung.

Liberales Erbe

Der Grund dafür liegt wohl im liberalen Erbe des Landes. Bereits seit den 1960ern entwickelten sich die Niederlande zu einer Gesellschaft mit liberalen sozialen Normen. Während in den Nachbarländern Deutschland und Belgien protestantische, katholische, sozialdemokratische oder konservative Eliten als wichtige Säulen der Gesellschaft galten, setzten die Niederlande auf eine starke Individualisierung, einhergehend mit einem Zurückdrängen des Einflusses der Kirche.

Neben der Gleichstellung homosexueller Paare und der teilweisen Legalisierung weicher Drogen zeigt sich das etwa beim Abtreibungsrecht. Lange fuhren Ausländerinnen in die Niederlande, weil Abtreibungen in ihren Herkunftsländern nicht möglich waren. Auch waren die Niederlande das erste Land weltweit, in dem aktive Sterbehilfe erlaubt wurde. Vieles, was in den Niederlanden seit den 1960er Jahren eingeführt wurde, haben andere Staaten, darunter auch Österreich, übernommen.