Niederländischer Premierminister Mark Rutte
APA/AFP/Bart Maat
Niederlande-Wahl

Rutte voran, doch Karten neu gemischt

Bei der Parlamentswahl in den Niederlanden zeichnet sich ein Sieg von Premier Mark Rutte ab. Seine konservativ-liberale VVD führte am Mittwochabend laut Prognosen deutlich. Damit steuert Rutte seine vierte Amtszeit an. Für eine Überraschung sorgt aber der unvorhergesehen starke Koalitionspartner D66.

Ruttes Koalition von VVD, der christdemokratischen CDA, der linksliberalen D66 und der kleinen ChristenUnie war im Jänner zurückgetreten. Hintergrund war ein Skandal um zu Unrecht zurückgeforderte Kinderbeihilfen. Das hatte Tausende Familien in finanzielle Nöte getrieben.

Die Führung der VVD in Prognosen und Exit-Polls kam trotz des Skandals nicht überraschend. Politikwissenschaftler und -wissenschafterinnen waren davon ausgegangen, dass die Pandemie die Wählerschaft nicht zu einem Wechsel veranlassen würde. Das Coronavirus hatte auch Wahlkampf und Wahlthemen dominiert.

Laut ersten Prognosen im TV-Sender NOS führte Ruttes VVD am Mittwochabend mit etwa 23 Prozent und 36 Sitzen. Damit wurde sie mit Abstand stärkste Kraft in der Zweiten Kammer des Parlaments. Rutte könnte somit nach zehn Jahren zum vierten Mal Regierungschef werden.

Neue Mehrheiten möglich

Laut den Nachwahlbefragungen bekam der links-liberale und besonders europafreundliche Koalitionspartner D66 mit Spitzenkandidatin Sigrid Kaag überraschend 27 Sitze. Vor vier Jahren war D66 noch auf 19 der 150 Sitze gekommen. Die Partei verstößt damit den Rechtspopulisten Geert Wilders vom zweiten Rang. Er verlor drei Parlamentssitze und wird drittstärkste Kraft. Dafür gewann eine andere rechtspopulistische Partei, die FvD des Nationalisten Thierry Baudet, fünf Sitze dazu und hat nun insgesamt sieben. Ob Rutte erneut mit seinen bisherigen drei Partnern eine Mitte-rechts-Regierung bilden wird, ist nun keine ausgemachte Sache mehr. Auch eine Koalition mit linken Parteien könnte möglich werden.

Angetreten waren 37 Parteien – ein Rekord. Nach den Prognosen schafften 17 Parteien den Sprung ins Parlament, das gab es zuletzt 1918. Eine Fünfprozenthürde gibt es nicht. Insgesamt werden in der neuen Zweiten Kammer drei rechtsaußen stehende Parteien mit insgesamt 27 Mandaten vertreten sein. Das ist ein deutlicher Zuwachs im Vergleich zu 2017. Deutliche Verluste verbuchten auch die linken Parteien, Sozialdemokraten, Sozialisten und die Grünen. Auch die Christdemokraten verloren leicht.

Drive-Through-Wahllakol in Amsterdam
Reuters/Eva Plevier
Drive-in-Wahl: Um Ansammlungen zu vermeiden, ließen sich die Niederlande einiges einfallen

Schwierige Koalitionsbildung steht bevor

Koalitionsverhandlungen gestalten sich in den Niederlanden traditionell langwierig und kompliziert. Diesmal könnten daran sogar fünf Parteien beteiligt sein. Rutte drängte aber darauf, dass es diesmal schneller geht: „Ich hoffe, dass sich jeder durch Corona im Klaren darüber ist, dass wir schnell etwas haben müssen“, sagte er.

Die Wahl galt als Abstimmung über die CoV-Politik der Regierung und war gleichzeitig das erste große Votum über die Krisenpolitik einer europäischen Regierung. Zu Beginn der Pandemie hatten die Niederlande monatelang eine weniger strikte CoV-Politik verfolgt als die Nachbarländer. Mit der zweiten Welle wurden die Maßnahmen jedoch drastisch verschärft. Seit Ende Jänner gilt in den Niederlanden ein strenger Lockdown, unter anderem mit einer nächtlichen Ausgangssperre zwischen 21.00 und 4.30 Uhr. Nachdem diese verhängt wurde, kam es tagelang zu Ausschreitungen. Kurz vor der Parlamentswahl führte auch eine Protestaktion gegen die CoV-Maßnahmen in Den Haag wieder zu Unruhen.

Wählen nebst Kunst und König

Auch der Ablauf der Wahl stand ganz im Zeichen der Pandemie. Erstmals war die Briefwahl für im Land wohnende Bürger und Bürgerinnen ab 70 Jahren gestattet. Wegen der Versammlungsverbote konzentrierte sich der Wahlkampf auf Fernsehdebatten.

Die Wahllokale waren drei Tage lang geöffnet, um größere Ansammlungen zu vermeiden. Ältere und besonders Gefährdete sollten an den ersten beiden Tagen wählen gehen, der übrige Teil der Bevölkerung dann am Mittwoch. Wegen der Pandemie wählten die Menschen auch an ungewöhnlichen Orten – etwa in Kirchen, in einem ehemaligen Gefängnis und auf einem Friedhof. In Amsterdam wurde am Montag ein eigenes Wahllokal für Fahrradfahrer eröffnet.

Wahllokal in Rotterdamer Kirche
Reuters/Piroschka Van De Wouw
Politik und Religion: Am Wahltag wurde auch in Kirchen gewählt

Ein Wahllokal öffnete in der Neuen Kirche in Delft, in der sich die Gruft der Königsfamilie und das Grabmal des niederländischen Nationalhelden Wilhelm von Oranien (1533–1584) befinden. In Den Haag wählte etwa der grüne Spitzenkandidat Jesse Klaver im Kunstmuseum mit zentralen Werken des abstrakten Malers Piet Mondrian. In Utrecht gaben Wähler ihre Stimme in einem Friedhofsgebäude ab, in Arnheim in einem ehemaligen Gefängnis. Die neuen Optionen machten eine hohe Wahlbeteiligung möglich. Sie lag wie bei der letzten Parlamentswahl bei 82 Prozent.