„Demokratischer Widerstand“ in Berlin gegen die Corona-Maßnahmen
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Pfeif drauf!

Pandemie und Ungehorsam

„Pfeif drauf“ – unter dieses Motto fällt mittlerweile auch wohl so mancher Umgang mit der Coronavirus-Krise im nun zweiten Jahr der Pandemie. Die Politik steht unter Druck, weil die Bürgerinnen und Bürger vielerorts nicht mehr mitwollen und -können. Die Wirtschaft wird rund um die Impfdosenauslieferung nervös, will man doch zumindest im Sommer wieder normaleren Alltag und Geschäfte. Und die Frage, wie lange die Menschen noch gehorchen, steht immer mehr im Raum. Ziviler Ungehorsam, Trotz und Grant mischen sich und verlangen insgesamt nach einer Perspektive, wenn es so was wie „Gehorsam“ zu den Pandemiemaßnahmen noch geben soll.

„Aus Gehorchen und Folgen entspringen alle Tugenden“, hält der französische Edelmann Michel de Montaigne im berühmten zwölften Stück seiner „Essais“, der „Apologie de Raimond Sebond“, fest und rollt damit schon im 16. Jahrhundert den Teppich aus für ein Paradigma, das zwischen der Aufklärung und der Pädagogik des frühen 19. Jahrhunderts große Geltungskraft erlangen sollte: dass der Gehorsam die Grundbedingung für das Heranwachsen eines Kindes zum selbstständigen Menschen sei. „Schwarze Pädagogik“ wird das die Essayistin Katharina Rutschky nennen und etwa in der Psychoanalytikerin Alice Miller eine Sekundantin gegen diesen Ansatz finden.

Georg Friedrich Wilhelm Hegel hielt das Sich-Einordnen in seinen frühen „Nürnberger Schulschriften“ so fest: „Ursprünglich folgt der Mensch seinen natürlichen Neigungen ohne Überlegung oder mit noch einseitigen (…), unter der Herrschaft der Sinnlichkeit stehenden Reflexionen. In diesem Zustand muss er gehorchen lernen, weil sein Wille noch nicht der vernünftige ist.“ Erst durch das Gehorchen verzichte der Mensch darauf, auf die sinnlichen Begierden zu hören, und gelange damit zur Selbstständigkeit.

Mit dem Aufstieg des Bürgertums als neuer herrschender Klasse, erinnert etwa die Bochumer Erziehungswissenschaftlerin Carola Kuhlmann, habe sich eine neue Variante der Gehorsamkeitserziehung durchgesetzt: „Diese Form der Disziplinierung richtete ihr Augenmerk nun vorrangig auf die Beherrschung der Triebe. Anders als im Pietismus war dabei aber das Ziel nicht die sündenfreie Existenz, sondern die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung.“ Die Erziehungsziele des Bürgertums zielten laut Kuhlmann auf Ordnungsliebe, Pflichtbewusstsein, Pünktlichkeit, Fleiß und Gehorsam gegenüber Vorgesetzten ab – „und dies sollte vor allem durch die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung erreicht werden“.

Ausschnitt aus dem Bordeaux-Exemplar von Montaignes Essais
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Bis heute unverstandener Zentraltext zur Vernunftkritik am Beginn der Neuzeit: Montaignes Essay II/12, die „Apologie de Raimond Sebond“, hier in der von Montaigne selbst kommentierten zweiten Auflage seiner „Essais“

Zu wenig Ungehorsam gelernt?

Die Reformpädagogik der 1970er Jahre stellt dafür den Ungehorsam bzw. das Streben nach Autonomie und die Übereinstimmung von Handeln und Gefühlshaushalt in den Mittelpunkt der Überlegungen. „Gehorsam meint, dass man das eigene Selbst nicht wirklich entwickeln kann“, schreibt der Psychoanalytiker und Pädagoge Arno Gruen in einem späten Werk. Dass wir keine Verhaltensmuster erlernt hätten, unsinnigen Befehlen und Autoritäten zu widerstehen, hatten schon US-Verhaltensforscher mit ihrem „Stanford Prison Experiment“ 1971 festgehalten.

Dass Politik momentan so unter Druck steht und gerade auf die zeitnahe Umsetzung von Impfprogrammen drängt, hat neben wirtschaftlichen Erwägungen auch diese Triebfeder: Die Stimmung ist am Kippen – und wie zahlreiche Umfragen belegen, sind Menschen müde geworden, die Pandemiemaßnahmen konsequent umzusetzen.

Was ist das „Wohl des Volkes“ in der Pandemie?

Das Wohl des Volkes sei ja das oberste Gesetz, erinnerte der in Linz lehrende Philosoph Thomas Mohrs in einem Philosophischen Salon der Kepler-Universität im Dezember des Vorjahres, und ergänzte diese Erinnerung mit einem Gedanken: Was das Wohl des Volkes sei, unterliege gerade in Zeiten gesellschaftlicher Ausnahmezustände unterschiedlicher Einschätzungen.

Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung in Wien
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Demonstration gegen die Anti-Covid-Maßnahmen der Regierung am Samstag in Wien

„Der Staat hat in unserem Wohnzimmer nichts verloren“, kritisierte etwa der Experimentalmusiker und mittlerweile auch Elternvertreter Peter Androsch gegenüber dem „profil“ bereits im April 2020 das Vordringen der Pädagogik in die privaten vier Wände. „Wer in einer demokratischen Gesellschaft mit einer Verordnung und einem Gesetz nicht einverstanden ist, der hat die Möglichkeit, dagegen aktiv Gegenposition zu beziehen“, erinnert Mohrs. So wurde ja gegen eine Vielzahl von Verordnungen Einspruch erhoben – und in sehr vielen Fällen wurde diesen Einsprüchen auch recht gegeben.

Bücher zum Thema

  • Michel de Montaigne: Essais. Diogenes
  • G. W. F. Hegel: Werke in 20 Bänden. Bd. 4, Suhrkamp
  • Carola Kuhlmann: Erziehung und Bildung. Springer
  • Michel Foucault: Die Strafgesellschaft. Suhrkamp
  • Arno Gruen: Wider den Gehorsam. Klett-Cotta

Spielarten des Ungehorsams

Allerdings, so erinnert Mohrs auch an den zivilen Ungehorsam, das Coronavirus zu leugnen gehöre da nicht dazu, ein Aufbegehren gegen bestimmte Maßnahmen und Verordnungen zur Bewältigung der Pandemie könne aber sehr wohl darunter fallen. Ziviler Ungehorsam zeichne sich durch eine bewusst kalkulierte Regelverletzung aus. Als Begründung gegen diese Regelverletzung werden nicht selten moralische Bedenken ins Treffen geführt, weil man Maßnahmen für naturrechtswidrig oder unvernünftig halte. „Die Verweigerung gegenüber einzelnen Normen passiert unter der Akzeptanz eines gesamten Rechtssystems“, so Mohrs. Die, die die Regel verletzen, rechneten auch mit Strafe, ja zögen diese ins Kalkül, weil sie vom moralischen Antrieb aus ihrer Sicht eine Verbesserung erstrebten.

„Recht und Moral sind voneinander unterschieden“, hält auch Hegel im §23 seiner Nürnberger Schulschriften in der Unterweisung der Unterklassen (gemeint die Schulstufen, nicht die sozialen Schichten) fest. Es könne dem Recht nach etwas erlaubt sein, was die Moral verbiete. Und auch umgekehrt: „Es kann scheinen, dass die Moral vieles erlaubt, was das Recht nicht erlaubt.“ Und wem das zu banal erscheint, für den hat Hegel natürlich auch einen Nachdenksatz in diesem Zusammenhang parat: „Alleine, die Moral fordert nicht nur die Beachtung des Rechts gegen andere, sondern setzt zum Recht vielmehr die Gesinnung hinzu, das Recht um des Rechts willen zu respektieren“, kurz: Die Moral fordere zunächst, dass das Recht beachtet werde, und nehme für sich in Anspruch, genau da zu gelten, wo das Recht nicht mehr hinreicht.

Cover der Hegelschen Schriften aus Nürnberg
ORF.at/Suhrkamp
Hl. Hegel, hilf! Für den Schuldienst in Nürnberg schreibt Hegel einen ersten großen Rundblick, wie das spekulative Denken zu funktionieren habe. „Unterklasse“ meint dabei keine soziale Schicht, sondern die Zielgruppe der Schüler, die in Denken, Recht und Moral unterwiesen werden sollen.

Zwischen Legalität und Legitimität

Genau die Beschränktheit des Rechts, der Normen und Verordnungen mag die einen antreiben, dagegen zu opponieren. Die anderen mögen es, wie schon in den letzten Wochen auf ORF.at gezeigt, aus Gründen von Wut und Trotz tun, also mit durchaus anarchistischer Energie gegen als vernünftig gedachte oder argumentierte Maßnahmen anzutreten, weil diese individuell nicht mehr einleuchten. Das ganze Spannungsfeld der jetzigen Proteste, so könnte man auch die Ausführungen des Philosophen Mohrs deuten, spielen sich im Bereich von „Legalität und Legitimität“ ab. Das eine berührt das Recht, das andere die Frage der Gerechtigkeit. In Zeiten des Coronavirus könnte man auch sagen: zur Sinnhaftigkeit oder Überzeugungskraft der Maßnahmen.

Das Nichteinhalten von Maßnahmen zieht wiederum Strafen nach sich, die letztlich auch viel mit dem Zustand der Gesellschaft zu tun haben, wie der Historiker Michel Foucault im Rahmen seiner Vorlesungen am College de France sagte: „Jede Gesellschaft muss die Skala der Strafen ihren eigenen Bedürfnissen anpassen. Da sich die Strafe nicht aus dem Vergehen, sondern aus dem der Gesellschaft zugefügten Unrecht oder der Gefahr ableitet, der sie ausgesetzt ist, muss sich eine Gesellschaft umso stärker schützen und als umso strenger erweisen, je schwächer sie ist.“