Der israelische Premierminister beim erhalten seiner COvid-19 Imfung.
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„Ken Bibi, lo Bibi“

„Abstiegskampf“ entscheidet Israel-Wahl

Bei der bereits vierten Knesset-Wahl innerhalb von zwei Jahren wird in Israel am Dienstag eine Klärung der komplizierten politischen Machtverhältnisse gesucht. Dass der Urnengang einem der beiden Lager eine klare Mehrheit liefert, ist aber fraglich. Platz eins ist Langzeitpremier Benjamin „Bibi“ Netanjahu wohl sicher. Entscheidend wird vielmehr der „Abstiegskampf“.

Die Umfragen zeigen erneut ein knappes Rennen zwischen dem Mitte-rechts- und Mitte-links-Lager. Laut dem israelischen Demokratie-Institut glaubt nicht einmal ein Drittel der Wählerschaft, dass das Patt aufgelöst wird. Daher wird auch ein fünfter Wahlgang im Herbst nicht mehr ausgeschlossen. Angesichts der zersplitterten Parteienlandschaft – 39 Parteien treten an, 13 Parteien haben reale Chancen in dem Land mit neun Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern – sind Wahlkämpfe immer Lagerwahlkämpfe. Vor allem geht es darum, ob man im Lager Netanjahus oder im gegnerischen Lager ist: „Ken Bibi, lo Bibi“ (Bibi ja, Bibi nein).

Das verleiht Kleinparteien oft ein überproportionales Gewicht, wenn sie die Mehrheitsbringer sind. Diesmal ist das besonders spannend, weil relativ viele Kleinparteien um den Einzug oder Wiedereinzug bangen müssen. In Summe hängen – je nach Umfrage – 16 bis 18 Mandate in der Luft. Schaffen eine oder mehrere dieser Parteien den Sprung über die 3,25-Prozent-Hürde nicht, würden diese den anderen Parteien zufallen. Konkret geht es um die Linkspartei Merez (Mut), die Zentrumspartei Kachol-Lavan (Blau-Weiß), die Rechtsaußenpartei HaZionut haDatit (Der religiöse Zionismus) und die Vereinigte Arabische Liste (Ra’am).

Die Beteiligung lag in den ersten Stunden leicht über jener beim letzten Mal. Eine hohe Beteiligung macht es für Kleinparteien schwieriger, die Eingangshürde zu überwinden. Weniger Kleinparteien wiederum könnten die Regierungsbildung erschweren.

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Vorbereitung von Wahlkarten in der Druckerei. BIld zeigt einen Mann mit einem Durckbogen.
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39 Parteien, darunter 13 mit realen Chancen, treten an. Die Partei wird in der Wahlkabine nicht angekreuzt, sondern man wählt aus einem Zettelkasten den der gewünschten Partei und steckt ihn in das Kuvert.
Mehrere Personen sitzen abends in einem Restaurant.
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In Israel ist die Wirtschaft dank Impfaktion wieder weitgehend offen. Lokale und Bars wie hier in Tel Avi, ja selbst Nachtclubs sind nun wieder geöffnet. Das könnte den Ausgang der Wahl beeinflussen.
Bild zeigt den Knesset in Jerusalem.
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120 Abgeordnete sitzen in der Knesset, Israels Parlament. Diesmal wird die 24. Knesset gewählt – es ist der vierte Urnengang innerhalb von zwei Jahren.
Ein Mann und sein Hund gehen an einem Wahlplakat des amtierenden Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu vorbei.
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Seit 2009 ist Benjamin Netanjahu in wechselnden Koalitionen durchgehend Regierungschef. Er wirbt vor allem mit der erfolgreichen Impfaktion und den entsprechenden Lockerungen: „Wir kehren zum Leben zurück!“
Bild zeigt ein Wahlplakat des Oppsotionsführers Benny Gantz.
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Benni Ganz ist an Netanjahus taktischer Schläue gescheitert. Er kämpft ums politische Überleben und wirbt ganz offen damit: Wenn seine Partei aus der Knesset fallen sollte, werde Netanjahu ihn sofort entlassen und „ewig“ weiterregieren.
Yair Lapid, Parteichef der „Yesh Ati“ hält eine Rede bei einer Wahlkampfveranstaltung.
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Nicht Ganz, sondern Jair Lapid ist diesmal der Gegenkandidat zu Netanjahu. So wie das Gros der Parteien war auch Lapid bereits mit Netanjahu in einer Koalition – damals als Finanzminister.
Die Parteichefin der „Ha Avoda“, Merav Michaeli.
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Die jahrzehntelang wichtigste Partei in Israel, die Arbeitspartei (HaAvoda), setzt auf die Ex-Journalistin Merav Michaeli. Seit rund 20 Jahren geht es mit der sozialdemokratischen Partei steil bergab. Sie könnte sich diesmal verdoppeln – von drei auf sechs Mandate.
Eine Gruppe Orthodoxe wartet auf den Bus.
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Wahlkampf in Israel ist immer Lagerwahlkampf – treueste Verbündete von Netanjahu sind die orthodoxen Parteien. In der CoV-Pandemie gab es oft Konflikte mit orthodoxen Gemeinschaften, die oft gegen die Auflagen verstießen.
Bild zeigt Protestierende bei der wöchentlichen Demonstration gegen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in Jerusalem.
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Auch für das Mitte-links-Lager ist Netanjahu der wichtigste Motivationsfaktor: Seit Monaten finden jedes Wochenende vor seiner Residenz und landesweit an Kreuzungen und Brücken Proteste gegen Netanjahu statt. Für seine Gegner ist er korrupt und untergräbt die Demokratie, ähnlich wie Ex-US-Präsident Donald Trump und Ungarns Regierungschef Viktor Orban.
Bild zeigt Gideon Saar, Chef der „New Hope“ Partei, bei einer Wahlkamofveranstaltung.
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Gideon Saar, langjähriger Weggefährte Netanjahus, tritt mit einer eigenen Partei (Neue Hoffnung) und gegen den Likud-Chef an. Das könnte Netanjahu entscheidend schwächen.
Die ehemalige Vorsitzende der Meretz-Partei, Tamar Zandberg.
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Die traditionelle Linkspartei Merez – im Bild deren Abgeordnete Tamar Sandberg – muss erstmals seit Jahrzehnten um den Einzug in die Knesset bangen. Sie könnte zwischen Michaelis Avoda und Ganz’ Kachol-Lawan zerrieben werden.
Israelische Araberinnen demonstrieren in Umm al-Fahm im Norden von Israel.
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Das größte Potenzial für Wählerströme gibt es bei den arabischen Israelis, mit 20 Prozent eine auch zahlenmäßig bedeutende Gruppe. In den arabischen Städten ist die Gewalt von Verbrecherkartellen das vorherrschende Thema. Die Bevölkerung wirft der Polizei und Politik Untätigkeit vor, wie hier zuletzt bei einer Demo in Umm al-Fahm.
Bild zeigt Mansour Abbas, Parteichef der „United Arab List“.
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Selbst Netanjahu wirbt um die Gunst einer arabischen Partei, der islamisch-religiösen Ra’am. Deren Chef Mansur Abbas hat – anders als andere arabische Parteien – eine Gesprächsbasis mit Netanjahu, der in der Vergangenheit mit falschen Warnungen vor „Arabern, die zu den Wahlurnen strömen“, seine Wählerschaft mobilisierte. Erstmals in der Geschichte Israels könnte eine arabische Partei an der Regierung beteiligt werden.
Mehrere Personen an einem Tisch beim verpacken der Wahlkarten.
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Hier werden noch Wahlkarten vorbereitet. Die Wahl ist heuer wegen der Pandemie anders organisiert: Für Infizierte und Personen in Quarantäne gibt es je eigene Wahllokale. Und alle Abstimmungslokale werden per Drohne aus der Luft überwacht – um zu großen Andrang rechtzeitig verhindern zu können.
Bild zeigt die verschiedenen Wahlkarten in einer Wahlkabine.
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In jeder Wahlzelle liegt ein Kasten mit Stimmzetteln für jede Partei auf, aus der man „seine“ oder „ihre“ Partei wählt
Ein israelischer Soldaten gibt sein Wahlkuvert ab.
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Soldatinnen und Soldaten konnten bereits ihre Stimme abgeben – so wie Diplomaten im Ausland
Bild zeigt Unterstützer von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am „Mahane Yehuda“ Markt.
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Der Wahlkampf war heuer ungewöhnlich kurz und leise. Dafür gibt es zwei Gründe: Vier Wahlen in zwei Jahren stumpfen ab, und die CoV-Krise schränkte das Wahlkämpfen ein.

Augen auf unteren Teil der Liste

Mit entsprechender Vorsicht sind alle Mandatsberechnungen aufgrund von Umfragen zu sehen. Fakt ist: Dieser „Abstiegskampf“, um einen Begriff aus dem Sport zu verwenden, wird am Wahlabend – ab 21.00 Uhr MEZ werden erste Exit-Polls erwartet – wohl die meiste Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das Abschneiden dieser vier Parteien ist entscheidend dafür, welche Koalitionsoptionen es geben wird.

Die aktuelle Koalition war im Frühjahr 2020 aufgrund der Pandemie als Regierung der nationalen Einheit zwischen den Führern der beiden Lager – Likud-Chef Netanjahu und Kachol-Lavan-Chef und Ex-Generalstabschef Benjamin „Benni“ Ganz – gebildet worden. Keinem der beiden war zuvor eine Regierungsbildung gelungen.

„Bibi“-Frage spaltet Israels Gesellschaft

Diese Koalition wider Willen funktionierte nie richtig und zerbrach Ende des Vorjahres am Streit über das nächste Budget – und viele andere Fragen. Das politische Klima in Israel ist aufgeheizt wie selten zuvor – und dreht sich eigentlich nur noch um eine Frage: „Ken Bibi, lo Bibi“ – für oder gegen Netanjahu. Inhaltliches ist über diese Frage längst in den Hintergrund gerückt. Netanjahu hofft, mit der erfolgreichen Impfaktion und mehreren Friedensabkommen punkten zu können. Seine Gegner setzen fast ausschließlich auf das negative Image Netanjahus in etwa der Hälfte der Bevölkerung. Seinen Gegnern gilt Netanjahu als korrupt und als Politiker, der den Staat für seine persönlichen Zwecke in Geiselhaft genommen hat.

Ein Korruptionsprozess gegen Netanjahu, dessen Vorverfahren er mit allen Mitteln behinderte, wurde im Vorjahr eröffnet. Auch viele Beobachter sehen den Grund für die vielen Neuwahlen vor allem darin, dass Netanjahu ihrer Ansicht nach um jeden Preis Regierungschef bleiben will. Netanjahu sei überzeugt, so am besten eine Verurteilung verhindern zu können – oder eine Parlamentsmehrheit zu erhalten, die ihm Straffreiheit zusichert.

Netanjahu und seine Anhängerschaft bestreiten das freilich vehement und werfen seinen Gegnern – nach Ganz’ Scheitern ist nun der Ex-Journalist Jair Lapid mit seiner liberalen Jesch-Atid-Partei der Anführer des Mitte-links-Lagers – ebenso wütend bis süffisant wie die Gegenseite vor, „Bibi“ nur seine Erfolge zu neiden.

Bild zeigt Personen in einem Restaurant in Tel Aviv.
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Israel genießt – dank Impfung – eine relativ weitgehende Rückkehr zur Normalität.

Große Lagerarithmetik

Umfragen zufolge wird Netanjahus Likud mindestens 30 Mandate erhalten, aber weniger als derzeit (36). Zweitgrößte Partei werde Lapids liberale Jesch Atid mit rund 20 Sitzen. Sie löst in dieser Funktion Ganz’ Kachol Lavan ab. Ganz dürfte den Einzug ins Parlament knapp schaffen – er befindet sich aber in der Abstiegszone.

Fix in Netanjahus Lager sind die religiös-orthodoxen Parteien und die Vereinigte Arabische Liste (Ra’am). Letztere, geführt von Mansur Abbas, verließ nach internen Zerwürfnissen über das Vorgehen gegenüber Netanjahu die arabische Einheitsliste, in der sich mehrere arabische Kleinparteien höchst erfolgreich zusammengeschlossen hatten. Dass Abbas’ Ra’am sich auf Netanjahus Seite schlug, wird Abbas im Lager der arabischen Israelis vielfach als Verrat ausgelegt. Für Netanjahu, der aktiv um Abbas’ Gunst warb, war es jedenfalls ein taktisch wichtiger Gewinn.

Run auf Stimmen arabischer Israelis

Generell gilt: In der jüdischen Bevölkerung gibt es zwar Bewegung unter den vielen Parteien, aber fast nur innerhalb der beiden Blöcke. Daher wurden diesmal, mehr als je zuvor, die arabischen Israelis, immerhin rund 20 Prozent der Bevölkerung, umworben. Das umso mehr, als dort zuletzt die historisch niedrige Wahlbeteiligung stieg.

„Nur nicht ‚Bibi‘“ einziger gemeinsamer Nenner

Das „Anti-Netanjahu-Lager“ besteht aus deutlich mehr und kleineren Parteien. Es ist zudem ideologisch deutlich weniger kohärent, eine Regierungsbildung wäre tatsächlich nur unter dem Slogan „Nur nicht Bibi“ möglich. Neben Lapid sind das vor allem zwei, drei ehemalige enge Weggefährten von Netanjahu, die mittlerweile vor allem eines wollen: Netanjahu als Regierungschef absägen.

Erstmals mit einer eigenen Partei (Neue Hoffnung) tritt der langjährige Likud-Mann Gideon Saar an. Er galt lange als möglicher politischer Erbe Netanjahus und hielt diesem lange den Rücken frei. Doch nun wurde er ungeduldig und setzte alles auf eine Karte. Ein nicht zu unterschätzender Rückschlag für Netanjahu. Saars Stern sank zwar rasch, aber mit acht bis zehn Mandaten hätte er eine mittelgroße Fraktion in der Knesset. Dazu kommen Netanjahus Ex-Koalitionspartner Avigdor Lieberman mit Israel Beitenu (Unser Haus Israel), die vor allem die Vertretung der russischstämmigen Israelis ist, aber mit antireligiösen Positionen teils auch bei urbanen, säkularen Israelis punktet.

Ein Mann fährt mit einem Scooter an einem Wahlplakat des liberalen Parteichefs Yair Lapid vorbei.
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Das Likud-Plakat warnt Israelis davor, Lapid zu wählen.

Avoda ohne große Bewegung

Zum Mitte-links-Lager gehört auch die Arbeitspartei (HaAvoda). Die einst führende und staatstragende Partei versucht sich einmal mehr neu zu erfinden – diesmal mit der Ex-Journalistin Merav Michaeli in der Frontposition. Doch die sozialdemokratische Partei von Staatsgründer David Ben-Gurion, Jizchak Rabin und Schimon Peres hat ihren Sturz in die Bedeutungslosigkeit bis heute nicht verdaut. Ihr fehlt vor allem ein klares, zeitgemäßes inhaltliches Profil. Die jahrzehntelang stärkste Partei kann laut Umfragen mit maximal sechs Sitzen rechnen (derzeit drei).

Parlamentswahl in Israel

In Israel finden am Dienstag zum vierten Mal innerhalb von nur zwei Jahren Parlamentswahlen statt – und ein weiteres Mal will der amtierende Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Regierungschef werden. Er setzt im Wahlkampf auf den Erfolg seiner Corona-Impfkampagne. Und diese Rechnung könnte aufgehen.

Bennett sitzt auf dem Zaun

Die entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung könnte nach Umfragenlage schließlich Naftali Bennett zukommen, der mit seiner Partei HaJamin haChadasch (Die neue Rechte) rechts von Netanjahu steht und einst dessen Stabschef war. Er hält sich beide Optionen offen. Als Unsicherheitsfaktor in allen Umfragen gilt, dass Rechtswähler – ähnlich wie die Wählerschaft von Donald Trump und auch der FPÖ – auch in Israel bei Umfragen öfter falsche Angaben machen als die Anhängerschaft anderer Parteien.

„Drive-through“ für CoV-Infizierte

Die Wahl selbst findet wegen der CoV-Pandemie unter besonderen Vorzeichen statt. Verkompliziert wird sie dadurch, dass Israel keine Briefwahl kennt. Es gibt deutlich mehr Wahllokale und -urnen als sonst. Es werden Wahllokale zusätzlich in mehreren Stadien und Großhallen eingerichtet. CoV-Infizierte und Personen, die sich in Quarantäne befinden, müssen in je eigenen „Drive-through“-Wahllokalen abstimmen.

Erstmals überhaupt gibt es die Möglichkeit, auf dem Flughafen in Tel Aviv abzustimmen. Seit Anfang des Jahres der Flughafen aus Sorge vor den CoV-Mutationen gesperrt wurde, sitzen Tausende Israelis im Ausland fest. Das Höchstgericht untersagte eine Verlängerung der Sperre, die damit am Wochenende auslief. Erstmals in der Geschichte wird nun für Rückkehrende auf dem Flughafen ein Wahllokal eingerichtet. Landesweit werden die Wahllokale aus der Luft per Drohnen überwacht, um einen zu starken Andrang rechtzeitig stoppen zu können.

Egal wie die Wahl ausgeht, eines ist sicher: Netanjahu wird den Israelis zumindest als Übergangsregierungschef erhalten bleiben. Und die Bildung von Koalitionen kann in Israel – trotz gesetzlicher Fristen – dauern.