Die Umfragen zeigen erneut ein knappes Rennen zwischen dem Mitte-rechts- und Mitte-links-Lager. Laut dem israelischen Demokratie-Institut glaubt nicht einmal ein Drittel der Wählerschaft, dass das Patt aufgelöst wird. Daher wird auch ein fünfter Wahlgang im Herbst nicht mehr ausgeschlossen. Angesichts der zersplitterten Parteienlandschaft – 39 Parteien treten an, 13 Parteien haben reale Chancen in dem Land mit neun Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern – sind Wahlkämpfe immer Lagerwahlkämpfe. Vor allem geht es darum, ob man im Lager Netanjahus oder im gegnerischen Lager ist: „Ken Bibi, lo Bibi“ (Bibi ja, Bibi nein).
Das verleiht Kleinparteien oft ein überproportionales Gewicht, wenn sie die Mehrheitsbringer sind. Diesmal ist das besonders spannend, weil relativ viele Kleinparteien um den Einzug oder Wiedereinzug bangen müssen. In Summe hängen – je nach Umfrage – 16 bis 18 Mandate in der Luft. Schaffen eine oder mehrere dieser Parteien den Sprung über die 3,25-Prozent-Hürde nicht, würden diese den anderen Parteien zufallen. Konkret geht es um die Linkspartei Merez (Mut), die Zentrumspartei Kachol-Lavan (Blau-Weiß), die Rechtsaußenpartei HaZionut haDatit (Der religiöse Zionismus) und die Vereinigte Arabische Liste (Ra’am).
Die Beteiligung lag in den ersten Stunden leicht über jener beim letzten Mal. Eine hohe Beteiligung macht es für Kleinparteien schwieriger, die Eingangshürde zu überwinden. Weniger Kleinparteien wiederum könnten die Regierungsbildung erschweren.
Augen auf unteren Teil der Liste
Mit entsprechender Vorsicht sind alle Mandatsberechnungen aufgrund von Umfragen zu sehen. Fakt ist: Dieser „Abstiegskampf“, um einen Begriff aus dem Sport zu verwenden, wird am Wahlabend – ab 21.00 Uhr MEZ werden erste Exit-Polls erwartet – wohl die meiste Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das Abschneiden dieser vier Parteien ist entscheidend dafür, welche Koalitionsoptionen es geben wird.
Die aktuelle Koalition war im Frühjahr 2020 aufgrund der Pandemie als Regierung der nationalen Einheit zwischen den Führern der beiden Lager – Likud-Chef Netanjahu und Kachol-Lavan-Chef und Ex-Generalstabschef Benjamin „Benni“ Ganz – gebildet worden. Keinem der beiden war zuvor eine Regierungsbildung gelungen.
„Bibi“-Frage spaltet Israels Gesellschaft
Diese Koalition wider Willen funktionierte nie richtig und zerbrach Ende des Vorjahres am Streit über das nächste Budget – und viele andere Fragen. Das politische Klima in Israel ist aufgeheizt wie selten zuvor – und dreht sich eigentlich nur noch um eine Frage: „Ken Bibi, lo Bibi“ – für oder gegen Netanjahu. Inhaltliches ist über diese Frage längst in den Hintergrund gerückt. Netanjahu hofft, mit der erfolgreichen Impfaktion und mehreren Friedensabkommen punkten zu können. Seine Gegner setzen fast ausschließlich auf das negative Image Netanjahus in etwa der Hälfte der Bevölkerung. Seinen Gegnern gilt Netanjahu als korrupt und als Politiker, der den Staat für seine persönlichen Zwecke in Geiselhaft genommen hat.
Ein Korruptionsprozess gegen Netanjahu, dessen Vorverfahren er mit allen Mitteln behinderte, wurde im Vorjahr eröffnet. Auch viele Beobachter sehen den Grund für die vielen Neuwahlen vor allem darin, dass Netanjahu ihrer Ansicht nach um jeden Preis Regierungschef bleiben will. Netanjahu sei überzeugt, so am besten eine Verurteilung verhindern zu können – oder eine Parlamentsmehrheit zu erhalten, die ihm Straffreiheit zusichert.
Netanjahu und seine Anhängerschaft bestreiten das freilich vehement und werfen seinen Gegnern – nach Ganz’ Scheitern ist nun der Ex-Journalist Jair Lapid mit seiner liberalen Jesch-Atid-Partei der Anführer des Mitte-links-Lagers – ebenso wütend bis süffisant wie die Gegenseite vor, „Bibi“ nur seine Erfolge zu neiden.
Große Lagerarithmetik
Umfragen zufolge wird Netanjahus Likud mindestens 30 Mandate erhalten, aber weniger als derzeit (36). Zweitgrößte Partei werde Lapids liberale Jesch Atid mit rund 20 Sitzen. Sie löst in dieser Funktion Ganz’ Kachol Lavan ab. Ganz dürfte den Einzug ins Parlament knapp schaffen – er befindet sich aber in der Abstiegszone.
Fix in Netanjahus Lager sind die religiös-orthodoxen Parteien und die Vereinigte Arabische Liste (Ra’am). Letztere, geführt von Mansur Abbas, verließ nach internen Zerwürfnissen über das Vorgehen gegenüber Netanjahu die arabische Einheitsliste, in der sich mehrere arabische Kleinparteien höchst erfolgreich zusammengeschlossen hatten. Dass Abbas’ Ra’am sich auf Netanjahus Seite schlug, wird Abbas im Lager der arabischen Israelis vielfach als Verrat ausgelegt. Für Netanjahu, der aktiv um Abbas’ Gunst warb, war es jedenfalls ein taktisch wichtiger Gewinn.
Run auf Stimmen arabischer Israelis
Generell gilt: In der jüdischen Bevölkerung gibt es zwar Bewegung unter den vielen Parteien, aber fast nur innerhalb der beiden Blöcke. Daher wurden diesmal, mehr als je zuvor, die arabischen Israelis, immerhin rund 20 Prozent der Bevölkerung, umworben. Das umso mehr, als dort zuletzt die historisch niedrige Wahlbeteiligung stieg.
„Nur nicht ‚Bibi‘“ einziger gemeinsamer Nenner
Das „Anti-Netanjahu-Lager“ besteht aus deutlich mehr und kleineren Parteien. Es ist zudem ideologisch deutlich weniger kohärent, eine Regierungsbildung wäre tatsächlich nur unter dem Slogan „Nur nicht Bibi“ möglich. Neben Lapid sind das vor allem zwei, drei ehemalige enge Weggefährten von Netanjahu, die mittlerweile vor allem eines wollen: Netanjahu als Regierungschef absägen.
Erstmals mit einer eigenen Partei (Neue Hoffnung) tritt der langjährige Likud-Mann Gideon Saar an. Er galt lange als möglicher politischer Erbe Netanjahus und hielt diesem lange den Rücken frei. Doch nun wurde er ungeduldig und setzte alles auf eine Karte. Ein nicht zu unterschätzender Rückschlag für Netanjahu. Saars Stern sank zwar rasch, aber mit acht bis zehn Mandaten hätte er eine mittelgroße Fraktion in der Knesset. Dazu kommen Netanjahus Ex-Koalitionspartner Avigdor Lieberman mit Israel Beitenu (Unser Haus Israel), die vor allem die Vertretung der russischstämmigen Israelis ist, aber mit antireligiösen Positionen teils auch bei urbanen, säkularen Israelis punktet.
Avoda ohne große Bewegung
Zum Mitte-links-Lager gehört auch die Arbeitspartei (HaAvoda). Die einst führende und staatstragende Partei versucht sich einmal mehr neu zu erfinden – diesmal mit der Ex-Journalistin Merav Michaeli in der Frontposition. Doch die sozialdemokratische Partei von Staatsgründer David Ben-Gurion, Jizchak Rabin und Schimon Peres hat ihren Sturz in die Bedeutungslosigkeit bis heute nicht verdaut. Ihr fehlt vor allem ein klares, zeitgemäßes inhaltliches Profil. Die jahrzehntelang stärkste Partei kann laut Umfragen mit maximal sechs Sitzen rechnen (derzeit drei).
Parlamentswahl in Israel
In Israel finden am Dienstag zum vierten Mal innerhalb von nur zwei Jahren Parlamentswahlen statt – und ein weiteres Mal will der amtierende Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Regierungschef werden. Er setzt im Wahlkampf auf den Erfolg seiner Corona-Impfkampagne. Und diese Rechnung könnte aufgehen.
Bennett sitzt auf dem Zaun
Die entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung könnte nach Umfragenlage schließlich Naftali Bennett zukommen, der mit seiner Partei HaJamin haChadasch (Die neue Rechte) rechts von Netanjahu steht und einst dessen Stabschef war. Er hält sich beide Optionen offen. Als Unsicherheitsfaktor in allen Umfragen gilt, dass Rechtswähler – ähnlich wie die Wählerschaft von Donald Trump und auch der FPÖ – auch in Israel bei Umfragen öfter falsche Angaben machen als die Anhängerschaft anderer Parteien.
„Drive-through“ für CoV-Infizierte
Die Wahl selbst findet wegen der CoV-Pandemie unter besonderen Vorzeichen statt. Verkompliziert wird sie dadurch, dass Israel keine Briefwahl kennt. Es gibt deutlich mehr Wahllokale und -urnen als sonst. Es werden Wahllokale zusätzlich in mehreren Stadien und Großhallen eingerichtet. CoV-Infizierte und Personen, die sich in Quarantäne befinden, müssen in je eigenen „Drive-through“-Wahllokalen abstimmen.
Erstmals überhaupt gibt es die Möglichkeit, auf dem Flughafen in Tel Aviv abzustimmen. Seit Anfang des Jahres der Flughafen aus Sorge vor den CoV-Mutationen gesperrt wurde, sitzen Tausende Israelis im Ausland fest. Das Höchstgericht untersagte eine Verlängerung der Sperre, die damit am Wochenende auslief. Erstmals in der Geschichte wird nun für Rückkehrende auf dem Flughafen ein Wahllokal eingerichtet. Landesweit werden die Wahllokale aus der Luft per Drohnen überwacht, um einen zu starken Andrang rechtzeitig stoppen zu können.
Egal wie die Wahl ausgeht, eines ist sicher: Netanjahu wird den Israelis zumindest als Übergangsregierungschef erhalten bleiben. Und die Bildung von Koalitionen kann in Israel – trotz gesetzlicher Fristen – dauern.