Die Situation muss ebenso skurril wie witzig gewesen sein: Der eine kratzte noch sein Gulasch vom Teller, der andere knabberte am Baguette oder zündete sich eine Zigarette an, da rief der Wirt plötzlich „Stopp!“. Ab diesem Moment durfte kein Brösel am Tisch mehr verändert werden. Schließlich sollte aus der Tafel, an der im Düsseldorfer Restaurant Spoerri gespeist worden war, ein Kunstwerk entstehen.
In den 1960er Jahren entstanden auf diese Weise unzählige Stillleben. „Am Anfang war ich dabei extrem streng“, erinnert sich Spoerri im Kataloginterview zur aktuellen Werkschau. „Wenn jemand sagte, ich könne einen Gegenstand von dem Tisch nicht haben, dann ließ ich es ganz sein.“
Frühe Karriere als Balletttänzer
Begonnen hat alles ohne Gäste, in einem kleinen Pariser Hotel, wo der Bohemien Anfang der 1960er Jahre lebte und arbeitete. Damals hatte Spoerri, geboren 1930 in Rumänien, bereits mehrere Karrieren hinter sich: als Balletttänzer in Bern, als Regieassistent in Darmstadt und als umtriebiger Herausgeber von Künstlereditionen.
„Spoerri war immer ein sehr guter Netzwerker“, erzählt Kuratorin Veronika Rudorfer beim Ausstellungsrundgang. So mischte er unter anderem bei den Künstlergruppen Zero und den Nouveau Realistes mit. Dank seiner Kontakte zu Museumsdirektoren ist Spoerris Name heute in den wichtigsten europäischen Häusern vertreten. Die 100 jetzt vereinten Exponate stammen von 43 öffentlichen und privaten Leihgebern.
Passion für den Flohmarkt
Drei Porträtgemälde aus dem 19. Jahrhundert bilden das strenge Empfangskomitee der Ausstellung. Die respektheischenden Bilder von Generälen und Gouvernanten reizten Spoerri bereits 1962/63, sie mit allerlei Kleinzeug humorvoll zu garnieren. Das Material dafür stammte von Pariser Flohmärkten. Dort wurde der Künstler bald berühmt-berüchtigt, machten ihn doch seine Angebote verdächtig, die gesamte Ware von Ständen zu erwerben.
Hatte er in der Fülle irgendetwas Wertvolles entdeckt, das der Verkäufer nicht erkannte? Um an den Krimskrams für seine Assemblagen zu gelangen, behauptete Spoerri damals einfach, als Requisiteur für das Fernsehen zu arbeiten. So kamen die Händler mit bestimmten Objekten auf ihn zu.
Memento Mori mit Betstuhl
Der passionierte Sammler klaubte aber auch auf, was am Ende des Tages auf dem Asphalt liegen blieb. Seine häufige Verwendung von Puppen, Schuhen oder Eiern erinnert an den Surrealismus. Während dieser jedoch den Fetischcharakter hervorstrich, ging es Spoerri seit jeher um die Wertigkeit der Dinge.
Was unterscheidet ein brauchbares Utensil von Müll, Kunst von Trash? Diese Frage bringt auch die Assemblage „Machin, chose, bidule, truc, quoi? (Les Puces)“ zum Ausdruck, deren Titel französische Begriffe für „Ding“ versammelt. Bei dieser Leihgabe aus dem Amsterdamer Stedelijk Museum liegt viel Zeug unter einer orangefarbenen Decke begraben, darauf liegt ein Gebetsstuhl mit geschnitztem Kreuz in der Lehne – ein Memento Mori, eine Mahnung an die Vergänglichkeit, wie sie bei Spoerri oft zu finden sind.
Flucht vor dem NS-Regime
Wer darauf achtet, entdeckt viel Dunkles und Tiefes in dieser vordergründig so heiteren Kunst. Als Zehnjähriger musste Daniel Isaac Feinstein miterleben, wie sein Vater 1941 bei einem Pogrom ermordet wurde. Spoerris Schweizer Mutter floh auf abenteuerlichen Wegen in ihre Heimat, wo sie ihre sechs Kinder bei Verwandten unterbrachte.
Daniel landete bei Theophil Spoerri, dem Rektor der Zürcher Universität, was aber zu keiner akademischen Ausbildung des Burschen führte. So wie Spoerri seine frühe Laufbahn schildert, stand sie oft auf der Kippe und glückte vor allem durch Begegnungen mit Förderern seiner Talente.
Wegbegleiter Jean Tinguely
Ein zentraler Wegbegleiter war Jean Tinguely, der für seine motorbetriebenen Maschinenskulpturen bekannt wurde. Die jetzige Schau zeigt auch eine Rekonstruktion von Spoerris kinetischer Installation „Autotheater“, bei deren Aufbau ihm der Freund half. Spoerri nahm damit 1959 in Antwerpen an seiner ersten Ausstellung „Vision in Motion“ teil.
Die große Arbeit besteht aus verchromten Blechstreifen und Papierrollen mit Text, diese Fragmente sollten von den Betrachtern abgelesen werden. Der Skulptur „Autotheater“ fehlt zwar Spoerris typische Patina, aber sie demonstriert sein Interesse, das Publikum mit einzubeziehen und auch sein Faible für konkrete Poesie. Für diese literarische Strömung hatte er bereits 1958 die Zeitschrift „material“ initiiert.
Im Restaurant Spoerri
Aber der Künstler wollte viele Sinne ansprechen und so richtete er 1963 in einer Pariser Galerie für zwei Wochen ein Restaurant ein. Dort fungierten witzigerweise Kunstkritiker als Kellner; nach dem Menü für 30 Gäste wurde täglich ein Tisch als „Fallenbild“ fixiert. Mit diesen Kochaktionen wurde Spoerri zum Erfinder der „Eat Art“.
Ausstellungshinweis
Daniel Spoerri. Bank Austria Kunstforum Wien, von 24. März bis 27. Juni 2021, täglich 10.00 bis 19.00 Uhr. Zur Ausstellung ist ein Katalog (200 Seiten, 32,90 Euro) erschienen.
Der größte Saal des Kunstforums widmet sich solchen Interventionen und seinem Düsseldorfer Restaurant, das er von 1968 bis 1972 betrieb. Spannender, weil weniger bekannt, ist die Skulpturenserie der „Zimtzauberkonserven“: Sie entstanden während Spoerris Aussteigerjahr auf der griechischen Insel Symi. Aus den Fundstücken, die der Künstler dort etwa am Strand aufsammelte, kreierte er die archaisch anmutende Kleinplastiken.
Ein Kunstgarten im Süden
Der Retrospektive gelingt es, eine thematische Schneise durch Spoerris überbordendes Oeuvre aus sieben Jahrzehnten zu schlagen. Für Überraschung sorgen dabei die Jahreszahlen auf den Saalschildern, denn oft ist der Altersunterschied zwischen einer Arbeit von 1965 und einer anderen von 2005 kaum zu erkennen.
Nicht alle Ideen, die der Künstler mit Hingabe verfolgt hat, überzeugen heute noch. Was jedoch mitreißt, ist und bleibt Spoerris Begeisterungsfähigkeit. Zum Beispiel seine Leidenschaft für Eier: In einem ovalen Ausstellungsmöbel wird seine saisonal derzeit so gut passende „Eggcyklopedia“ mit Sammlungsstücken und Plastiken rund um das Ei präsentiert.
Der letzte Ausstellungsabschnitt widmet sich dem großen Skulpturengarten „Il Giardino di Daniel Spoerri“, den der Künstler seit 1991 in der Toskana mit eigenen und fremden Arbeiten geschaffen hat. Wer ein Werk von Spoerri betreten möchte, muss aber nicht so weit in den Süden fahren. Im niederösterreichischen Hadersdorf am Kamp hat der Künstler in einem ehemaligen Kloster sein Ausstellungshaus Spoerri eröffnet, das neben einer Dauerpräsentation auch jährliche Wechselausstellungen zeigt.